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Adler und Sartre – Individualpsychologie und existentielle Psychoanalyse

Die Parallelen zwischen Adlers Individualpsychologie und Sartres existentieller Psychoanalyse, wie er sie vor allem in L’être et le néant und in seinen diversen Biographien[1] entwickelte, sind verblüffend. Die Beziehungen zwischen dem österreichischen Psychoanalytiker und dem französischen Philosophen sind jedoch wenig erforscht. Französische Adlerianer behaupten, dass Sartre noch als ENS-Student Adler hörte, als dieser 1926 auf der Reise in die USA einen Vortrag an der Sorbonne hielt.[2] Dies wird jedoch weder von Sartre noch von Beauvoir durch eine entsprechende Aussage bestätigt. Es ist allerdings nicht auszuschließen, weil Adlers Übersetzer Robert Minder war, Sartres guter Bekannter und Mitstudent an der ENS. Aus den Carnets de la drôle de guerre geht hervor, dass Sartre mit Grundbegriffen Adlerscher Psychologie wie Minderwertigkeits­komplex, psychischer Abwehr oder Kompensation vertraut war[3]. In Sartres Analyse von Kaiser Wilhelm II kommt dessen behindertem Arm eine wichtige Rolle zu[4]. Von Simone de Beauvoir wissen wir aus La force de l’âge, dass sie und Sartre mit Adlers Hauptwerk Über den nervösen Charakter nicht nur vertraut waren, sondern auch dass sie mit Adler viel mehr anfangen konnten als mit Freud – nicht zuletzt, weil Adler der Sexualität weniger Platz einräumte[5]. Falls Beauvoirs Chronologie stimmt, müssten sie Adlers Über den nervösen Charakter um 1932 gelesen haben. Aus einem Brief Beauvoirs an Sartre vom 14. März 1940 geht zudem hervor, dass Beauvoir um die Nähe beider Theorien wusste, eine Nähe, die so groß war, dass ein Adlerianer sich als existentieller Psychoanalytiker ausgeben konnte[6].

Diese Befürchtung nimmt Sartre in L’être et le néant auf, als er bei der Diskussion des Minderwertigkeitskomplexes schreibt: „Wir weigern uns, ... wie ein Schüler Adlers ...“[7]. Vierundzwanzig Seiten später versucht Sartre dann seine Psychoanalyse von jener Adlers abzugrenzen[8]. Es sind drei Punkte, die er aufführt. Erstens lehnt er im Gegensatz zu Adler den Begriff des Unbewussten ab. Zweitens ersetzt bei ihm der Begriff der mauvaise foi die „Adlerschen“[9] Termini der Zensur, Verdrängung und des Unbewussten. Und drittens betont Sartre, dass der Minderwertigkeitskomplex gewählt, nicht Bloß anerkannt ist.

Die häufigsten Hinweise auf Adler finden sich in Beauvoirs Le deuxième sexe (1949), allerdings ohne direkte Referenz auf Sartre und seine existentielle Psychoanalyse. Beauvoir hält Adler dort zugute, dass er sich von der freudschen Vorstellung trennte, dass das menschliche Leben einzig auf Sexualität begründet sei, und dass er vielmehr die Gesamtpersönlichkeit und deren Finalität in den Vordergrund stellte. Sie setzt ihn dann jedoch wieder auf dasselbe Niveau wie Freud, indem sie ihm vorwirft, wie jener unverändert an der Idee der psychischen Kausalität, d.h. der vollständigen Ableitung des heutigen Handelns eines Menschen aus dessen Vergangenheit, festzuhalten und den Begriff der Wahl abzulehnen.[10] Die Tatsache, dass Adler elfmal in Le deuxième sexe erwähnt wird, zeigt, dass Beauvoir sich spätestens Ende der 40er Jahre intensiver mit Adler auseinandersetzte.

Ein letztes Mal finden sich Spuren von Adler in Sartres Werk L’idiot de la famille (geschrieben 1954-72; veröffentlicht 1971-72) über Flaubert. Dort finden sich ausführliche Erklärungen über die Minderwertigkeit, die Flaubert an sich entdeckte, und über die Ressentiments, die daraus entstanden. Diese wie auch die Analyse über Flauberts Verhältnis zu seinem älteren Bruder – der Familienkonstellation und insbesondere der Rolle des Zweitgeborenen kommen in Adlers Individualpsychologie eine prominente Rolle zu – könnten auch der Studie eines Adlerianers entstammen.

Außer diesen isolierten Elementen ist wenig über das Verhältnis Adler–Sartre bekannt. Sartre hat seine Werke nie mit einem entsprechenden Fußnotenapparat ausgestattet, der die Genese seines Werkes und die Einflüsse anderer Autoren entsprechend transparent dargestellt hätte. In der Folge soll deshalb auch nicht über mögliche Einflüsse von Adler auf Sartre spekuliert werden, sondern einfach nur die Ähnlichkeiten, aber auch die Differenzen zwischen Adlers Individualpsychologie und Sartres existentieller Psychoanalyse dargestellt werden.[11]

Viele Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Adler und Sartre hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens. Beide lehnten das mechanistische Modell ab, das der freudschen Psychoanalyse zugrunde liegt. Aufbauend auf der Lebensphilosophie (Bergson, Dilthey) steht das Teleologische, Verstehende und nicht das Ursächliche im Vordergrund. Menschliches Handeln ist nicht primär aus seiner Vergangenheit zu verstehen, sondern von seiner Zielorientierung, seiner Intentionalität her.[12] Es ist nicht das Sein, die Vergangenheit, sondern das Nichts, die Zukunft, die den Menschen bestimmt.

Das Verstehen menschlichen Handelns von dessen Finalität her führte bei beiden zu analogen Grundkonzepten. Was bei Sartre der projet fondamental, heißt bei Adler der Lebensplan. Beide gehen davon aus, dass jedem Menschen ein einheitlicher, sein ganzes individuelles Handeln abdeckender und prägender Entwurf eigen ist. Handlungen, Haltungen, Gefühle, Werte, alles ist als Ausdruck dieses Entwurfs resp. Lebensplanes zu verstehen. Nicht einzelne Erlebnisse oder das Milieu bestimmen das Handeln des Menschen, sondern dieses ist vielmehr Ausdruck des individuellen Entwurfs und Lebensplanes.

Sartre und Adler decken sich auch in ihrem Verständnis des Entwurfs und Lebensplanes als etwas, das der Mensch sich nicht rational ausgedacht hat, sondern vielmehr Ausdruck seines Willens und Ergebnis einer willkürlichen Entscheidung (acte gratuit) ist. Adler sprach deshalb auch davon, dass der Lebensplan vom Individuum selbst unverstanden ist. Beide, Sartre wie Adler, waren sich jedoch darin einig, dass Projekt und Lebensplan grundsätzlich verständlich sind und auch von Dritten – Adler dachte hier insbesondere an den Individualpsychologen – verstanden werden können. Sartre erwähnte sogar explizit, dass selbst Entwürfe von Menschen aus anderen Kulturen verständlich sind.

Ob Sartre Adlers Begriff des Lebensplans kannte, ist unsicher. Der Begriff des Lebensplanes erscheint vor allem in einzelnen um 1914 verfassten Aufsätzen aus Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Sartre hatte von Adler aber wohl nur Über den nervösen Charakter (1912) gelesen, nicht keine anderen Werke, insbesondere nicht Praxis und Theorie der Individualpsychologie (Aufsätze von 1911-20, veröff. 1920). Adler machte bekanntlich eine sehr rasche Entwicklung durch, die ihn von der organischen Minderwertigkeit (1907 in Studie über die Minderwertigkeit von Organen) über die allgemeine Minderwertigkeit (1912 in Über den nervösen Charakter) hin zu allgemeinen Vorstellungen über den Lebensplan (um 1914 in einzelnen Aufsätzen aus Praxis und Theorie der Individualpsychologie) führten, wobei er allerdings die früheren Vorstellungen nie vollständig aufgab. Sartres Verständnis von Adlers Psychologie weist vor allem auf Über den nervösen Charakter hin, was jedoch deshalb für die Ähnlichkeit der Konzepte von Entwurf und Lebensplan fatal ist, weil mit dem leitenden Persönlichkeitsideal[13] dort schon eine Vorstellung gefunden werden kann, die den späteren Lebensplan schon vorwegnimmt.

Bei der von Sartre in L’être et le néant als Unterschied angeführten Betonung seinerseits, dass der Minderwertigkeitskomplex gewählt sei, handelt es sich deshalb nicht um einen tatsächlichen Unterschied zu Adler. Wenn von ganz frühen Schriften abgeschaut wird, ist auch für Adler der Minderwertigkeitskomplex Teil des Lebensplanes resp. des Persönlichkeitsideals[14]. Sartres Argument beruht entweder auf ungenügender Kenntnis oder falschem Verständnis oder ist schlimmstenfalls nur vorgeschoben. Mindestens Beauvoir scheint in Le deuxième sexe Sartres altes Verständnis nicht mehr zu teilen, wenn sie die Bedeutung der Finalität des menschlichen Handelns bei Adler hervorhebt.

Für Adler wie für Sartre bildete der Mensch, da ihm ein einheitlicher Entwurf und Lebensplan zu Grund liegt, auch eine einheitliche Person mit einer eigenen, ganzheitlichen Individualität. Das Ich bildet eine Einheit, eine Totalität. Dieses Konzept steht in unüberwindbarem Gegensatz zu jenem von Freud, für den das Ich eher der passive Schauplatz des Kampfes zwischen Es und Über-Ich ist. Freuds Psychoanalyse lebt davon, dass es in der Person verschiedene, einander bekämpfende Kräfte gibt. Der Sexualtrieb wird beim Gesunden im Kampf mit dem Über-Ich sublimiert, während der Neurotiker ihn verdrängt und der Perverse ihn auslebt. Dementsprechend ist Freuds Psychoanalyse eine Theorie, in deren Zentrum das Es und die Triebe stehen, während es bei Adler und Sartre das Ich ist.

Diesem Grundverständnis des menschlichen Verhaltens entsprechend waren sich Adler und Sartre auch einig in der Bewertung der Sexualität und in ihrem diesbezüglichen Gegensatz zu Freud. Für Adler wie Sartre ist das sexuelle Verhalten eines Menschen weniger Ausdruck des eigenständigen Sexualtriebes als vielmehr des individuellen Lebensplanes. Der Mensch ist nicht ein dauernd von seiner Sexualität getriebenes Wesen, sondern der Mensch setzt seine Sexualität ganz gezielt als Mittel zur Realisation seines Lebensplanes ein. Geradezu paradigmatisch hat dies Sartre in seinem Werk Saint-Genet dargestellt, wo sich Genet zum Schwulen macht, weil es dessen Entwurf und Lebensplan ist, das Böse zu verwirklichen.

Die offensichtlichen Widersprüche, die es in einer Person geben kann, erklärten Adler und Sartre auf ähnliche Weise. Was dem einen die Lebenslüge, war dem andern die mauvaise foi[15]. Da beiden der Weg über einen innerhalb der Person stattfindenden Konflikt unmöglich war, wie ihn Freud beschreiten konnte, stellten diese Widersprüche für Sartre und Adler bloße Versuche des Menschen dar, sich selbst etwas vorzumachen. Sartre spricht davon, dass der Mensch bösgläubig sein sowohl in Bezug auf die Transzendenz, dass er die Freiheit hat, seine Werte zu wählen, und damit für deren Wahl verantwortlich ist, wie in Bezug auf die Faktizität, dass der Mensch seine Geschichte und seine aktuelle Situation anerkennen muss. Durch mauvaise foi und Lebenslüge hofft der Mensch, seiner Verantwortung und der Anerkennung seiner Situation entgehen zu können. Für Sartre wie für Adler besteht die Aufgabe der Psychotherapie unter Anderem darin, dem Menschen zu helfen, seine mauvaise foi resp. die Lebenslüge zu überwinden. In Sartres Argumentation gegen Adler in L’être et le néant, als er die Bedeutung der mauvaise foi hervorhebt, findet sich kein Hinweis auf Adlers Begriff der Lebenslüge. Unbekannt ist, ob Sartre diesen Ausdruck nicht kannte oder ihn verschwieg.

Als Schöpfer des eigenen Ichs steht der Mensch bei Adler wie bei Sartre, beide bekennende Atheisten, in enger Beziehung zur Vorstellung von Gott. Adler sprach davon, dass der Mensch danach strebt, Gott ähnlich zu sein. Für Sartre – noch eine Spur radikaler – wollte der Mensch überhaupt Gott sein. Das Verhältnis des Individuums zu seinen Mitmenschen konnte deshalb für beide nur ein antagonistisches sein. Adler sprach vom dem allen Menschen eigenen Streben nach Überlegenheit und Allmacht; für Sartre wiederum war der Konflikt mit dem anderen zentral für seine «dialektische» Philosophie – Dialektik verstanden als Methode, die auf Widersprüche fokussiert. Wie nahe sich die Theorien beider sind, zeigt sich auch in der Bedeutung, die beide der Position des Kindes in der Familie im Vergleich zu seinen Geschwistern zumaßen. Gemäß Sartre spielte das Verhältnis zu seinem Bruder, der ihn in jeder Beziehung übertraf, in der Entwicklung Flauberts eine wichtige Rolle.

Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Adler und Sartre auch hinsichtlich verschiedener Philosophen und Schriftstellern, denen beide nahestanden. An erster Stelle sind hier Henri Bergson und Friedrich Nietzsche zu erwähnen. Im Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) hatte Bergson eine klare Trennung zwischen der quantitativen Physik und der qualitativen Psychologie postuliert. Nietzsche ist der wohl wichtigste Vorläufer der Lebensphilosophie. Mit seiner These vom Willen zur Macht legte er die Grundlagen für Sartres wie Adlers Verständnis des Verhältnisses des Individuums zu seinen Mitmenschen. Adlers und Sartres geistige Nähe zeigt sich auch in ihrer Bewunderung für Dostojewskij und dessen psychologische Schilderungen und in der positiven Haltung gegenüber der Gestaltpsychologie. Mit letztere teilten sowohl Adler wie Sartre gewisse Grundkonzepte, insbesondere die Auffassung, dass das Teil nur aus dem Ganzen verstanden werden kann.[16]

In ihren Grundkonzepten decken sich Adlers Individualpsychologie und Sartres existentielle Psychologie so weitgehend, dass Beauvoirs Befürchtung, dass beide miteinander verwechselt werden könnten, verständlich ist. Selbst dort, wo es Differenzen zwischen den beiden gibt, sind diese oft nur Ausdruck davon, dass dort, wo Adler die Brücke zu Freud nicht ganz abbrechen wollte, Sartre viel radikaler vorging. So behielt Adler den Ausdruck des Unbewussten bei. Es war für ihn der Sitz des Lebensplans. Doch das Unbewusste war für Adler nicht mehr wie bei Freud das allmächtige Reich, das unser Leben beherrscht, sondern nur noch das Un-bewusste, dessen wir uns nicht unmittelbar bewusst sind. Aber wir können uns mit Hilfe der Psychotherapie seiner bewusst werden. Sartre war in diesem Punkt – einmal mehr – radikaler und lehnte den Ausdruck des Unbewussten ab. Wessen wir uns bewusst werden können, das wissen wir grundsätzlich auch jetzt. In seiner Ablehnung des Unbewussten bezog sich Sartre im Übrigen in Conscience de soi et connaissance de soi ausdrücklich auf Wilhelm Stekel, der ein psychoanalytisches System entwickelte, das ohne Unbewusstes auskam[17]. Nach Stekel, dessen Werk La Femme frigide sie 1936 gelesen hatten[18], liegt der Ursprung von Frigidität in einer bewussten Wahl. Von den drei von Sartre in L’être et le néant aufgeführten Abgrenzungen gegenüber Adler ist deshalb nur die erste, nämlich die der Ablehnung des Unbewussten, richtig. Doch das Unbewusste hatte bei Adler bei weitem nicht mehr die Bedeutung wie bei Freud. Als Ersatz für das Unbewusste gibt es bei Sartre das präreflexive, nicht-thetische Bewusstsein.

Ähnlich wie im Falle des Unbewussten verhält es sich hinsichtlich der Rolle der Kindheit und der Veränderbarkeit des Lebensplans. Adler übernahm von Freud die Bedeutung der frühen Kindheit, der ersten ein bis zwei Lebensjahre. In der Praxis, in den von Adler geschilderten konkreten Fällen, kam jedoch den späteren Kindheitsjahren die entscheidende Rolle zu. Sartre war radikaler. In seinen praktischen Analysen – jenen von Baudelaire, Mallarmé, Genet und Flaubert wie seiner selbst – fielen die entscheidenden Ereignisse in die Phasen der späten Kindheit und der Jugend. Die ersten Lebensjahre spielen in Sartres Analysen keine Rolle. Konsequenter war Sartre auch hinsichtlich der Veränderbarkeit des Lebensplanes – wenigstens theoretisch. Während Adler einerseits betonte, dass der Lebensplan fest ist, und er ihn andererseits mit Hilfe des Individualpsychologen für veränderbar hielt, insistierte Sartre darauf, dass der Entwurf immer revidierbar ist. Aber auch bei Adler ist der Lebensplan durchaus gewählt und damit für die Zukunft offen. Zu berücksichtigen gilt es jedoch auch, dass sich in Sartres Biographien der Schriftsteller immer wieder zeigt, dass deren Entwürfe relativ früh im Leben festgelegt wurden. In diesem Sinne ist das Leben der Schriftsteller nach Sartres eigenen Analysen durchaus weitgehend durch die Vergangenheit, d.h. weit in der Vergangenheit zurückliegende Entwürfe, bestimmt.

Neben der Tatsache, dass Adler die Brücke zu Freud nicht vollständig abbrechen wollte, ist entscheidend, dass Adler Arzt und Sartre Philosoph waren. Adler ging es um das Heilen des Neurotikers. Er akzeptierte, dass der Lebensplan sich faktisch nur selten ändert und eine Änderung mit Hilfe eines Psychologen einfacher ist. Demgegenüber entwarf Sartre als Philosoph eine allgemeine psychologische Theorie des Menschen, die die Grundkonzepte menschlicher Seinsweise radikal neu durchdachte. Wenn der Mensch ein Wissen in ihm hat, dann weiß er es gemäß Sartre in letzter Konsequenz auch heute und jetzt. Die in den späteren Werken stärker hervorgehobene Bedeutung der Vergangenheit und der aktuellen Umstände hätte sicher eine Annäherung an Adlers Auffassung bewirkt, wenn Sartre sein Projekt einer existentiellen Psychoanalyse von Sartre auf der theoretischen Ebene weitergeführt hätte.[19]

Antagonismen gibt es zwischen den beiden Theorien nur sehr wenige. Wenn Sartre mit dem Begriff der Minderwertigkeit, organischer, psychischer oder geistiger Art, und den sich darauf ergebenden Kompensationen und Sicherungstendenzen weniger anfangen konnte, so ist dies nicht sehr entscheidend, weil es sich hierbei um Hilfskonstrukte eines Arztes für die Behandlung der Kranken handelt, auf die Sartre als Philosoph des Alltags nicht angewiesen war. Dasselbe gilt auch für den in der Praxis oft anzutreffenden Gegensatz männlich – weiblich, den Adler in seinen Werken immer wieder anführte und den Sartre ebenfalls ablehnte. Im Übrigen hatte auch Adler diesen Gegensatz als falsch verurteilt, weil er nicht natürlich, sondern nur gesellschaftlich bedingt sei – in der heutigen Sprache: als bedingt durch Gender und nicht durch Sex.

Den einzigen wirklichen Antagonismus, den ich zwischen Adler und Sartre erkenne, betrifft ihre Auffassung von Normalität. Adlers Vorstellung deckte sich mit jener, die damals in der sozialistischen Bewegung, der Adler angehörte, weit verbreitet war und wie wir sie beispielsweise auch bei Wilhelm Reich finden. Normal ist, was lebensnützlich ist. Perversionen, Kriminalität und psychische Störungen sind anormal und krankhaft, weil sie nicht lebensnützlich sind. Neben dem Konzept der Lebensnützlichkeit war für Adler von besonderer Bedeutung der Begriff des Gemeinschaftsgefühls. Dieses bildet das Gegengewicht zum Streben nach Macht und Überlegenheit, und es ist die Grundlage für Freundschaft, Liebe und Zusammenarbeit. Sartre lehnte demgegenüber den Begriff der Normalität ab. Normalität lässt sich nicht biologisch begründen, sondern reflektiert, wie Sartres ENS-Schulkollege Canguilhem sagte, die herrschenden Wertvorstellungen der Gesellschaft. Normal war für Sartre ein anderer Ausdruck dafür, was die bürgerliche Gesellschaft erwartet. Nicht nur der Entwurf des Schwulen, auch jener des psychisch Kranken ist ein originärer Entwurf, wie Sartres Eintreten für die Anti-Psychiatrie eines Ronald D. Laing, David Cooper oder Franco Basaglia zeigt. Für den Sartre von L’être et le néant war auch der Begriff des Gemeinschaftsgefühls ein Unding. Eine Annäherung an Adler gab es diesbezüglich erst mit der Critique de la raison dialectique, in der der Mensch als ein in Gruppen lebendes Wesen aufgefasst wird, das ihn in den 1970er Jahren zum Ideal einer anarchistischen Gesellschaft führte, in der der Mensch in kleinen Gruppen von Personen mit kompatiblen Entwürfen leben.

 

11.03.2024/v.3



[1] L’être et le néant 1943; Biographien über Baudelaire 1945/6, Mallarmé 1947-52 (nur teilweise veröffentlicht), Genet 1952, Flaubert 1971/72


[2] Siehe http://www.psy-adler.net/biographie.html (konsultiert 18.9.2008; mittlerweile ist die Seite nur noch über https://web.archive.org/ zugänglich). Der von der SFPA gegebene Verweis auf das Bulletin Nr. 73 der SFPA, S. 47–49 (April 1992), wo Dr. Schaffer geschrieben habe, dass Sartre und Paul (!, richtiger Vorname: Robert) Minder Adlers Vortrag gehört hätten, stimmt kaum. Wie immer es war, einen nachhaltigen Einfluss Adlers auf Sartre abzuleiten, wäre insofern gewagt, als Adlers Ansichten fünfzehn Jahr in Sartre hätten schlummern müssen, bis sie in L’être et le néant zum Durchbruch gelangt wären. Auch Sartres Sprache, bspw. der Ausdruck projet = Entwurf, verweist stärker auf Heidegger als auf Adler.


[3] Jean-Paul Sartre: Tagebücher (1939/40; Les carnets de la drôle de guerre) (Reinbek: Rowohlt 1995), S. 176.


[4] Sartre: Tagebücher, S. 533, 538–540.


[5] Simone de Beauvoir: In den besten Jahren (Reinbek: Rowohlt 2000), S. 111.


[6] Beauvoir: Briefe an Sartre, Bd. II (Reinbek: Rowohlt 1998), S. 163.


[7] Sartre: Das Sein und das Nichts (Reinbek: Rowohlt 1995), S. 796.


[8] Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 819–820.


[9] Hier verwechselt Sartre wohl Adler mit Freud. Zensur und Verdrängung gehören zu Freuds, aber nicht zu Adlers Stammvokabular.


[10] Beauvoir: Das andere Geschlecht (Reinbek: Rowohlt 1986), S. 54–56.


[11] Einen wichtigen Einfluss auf Sartres Verständnis der Psychoanalyse hatte Georges Politzer (Critique des fondements de la psychologie: La psychologie et la psychanalyse, 1928). Politzer, der ein Jahr in Wien lebte und dort mit Freud und Sándor Ferenczi Kontakt hatte, stand in seiner Psychoanalyse Adler relativ nahe (für eine vom Subjekt ausgehende Psychoanalyse statt Freuds mechanistischem Modell, Skepsis gegenüber dem Unbewussten).


[12] Ähnlich argumentierte in der Soziologie Max Weber, der wiederum Raymond Aron beeinflusste. Das Pendant zum mechanistischen Triebmodell Freuds war in der Soziologie das mechanistische Gesellschaftsbild der Kommunisten. In den 1960er Jahren nahm Sartre diesen Diskussionszweig auf, als er sich für ein echt dialektisches Verständnis der Gesellschaft einsetzte, aber sich gegen eine Primitivisierung der Dialektik wandte und deren Anwendung auf die Natur ablehnte.


[13] Alfred Adler: Über den nervösen Charakter (Frankfurt a.M.: Fischer 1972), S. 77–80.


[14] Siehe Adler: Über den nervösen Charakter, S. 78.


[15] Die genaue Übersetzung für mauvaise foi wäre „böser Glaube“ als Gegenteil von bonne foi, „gutem Glauben“. Im Sinne einer Haltung kann mauvaise foi auch als Bösgläubigkeit übersetzt werden. In den andern Sprachen wird mauvaise foi auch immer als «böser Glaube» oder zumindest ähnlich übersetzt.

Justus Streller übersetzte mauvaise foi in der ersten Übersetzung von L’être et le néant als Unwahrhaftigkeit, Traugott König in der aktuellen Fassung als Unaufrichtigkeit. Dies scheint mir jedoch eine Verschlimmbesserung zu sein, weil Unaufrichtigkeit viel zu nahe an Lüge steht. Sartre unterscheidet klar zwischen mauvaise foi und Lüge. Allenfalls kann mauvaise foi als eine Art Selbstlüge bezeichnet werden. Entscheidend für die mauvaise foi ist, dass die davon betroffene Person selbst daran glaubt, ganz im Sinne von Adlers Lebenslüge.


[16] Adler war sehr von der Als-ob-Philosophie des Kant-Forschers Hans Vaihinger angetan – siehe dessen Urteil in Über den nervösen Charakter. Ob Sartre Vaihinger jemals gelesen hat, ist unsicher und eher unwahrscheinlich. Tatsache ist jedoch, dass manche seiner Grundkonzepte – Freiheit, Entwurf – den Charakter von Konstrukten gemäß Vaihingers Philosophie des Als-ob haben.


[17] Sartre: „Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis“, in: Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus (Reinbek: Rowohlt 2000), S. 267–326, hier S. 321.


[18] Beauvoir: In den besten Jahren, S. 245.


[19] Wie Sartre in seinem Interview mit Michel Rybalka, Oreste F. Pucciani und Susan Gruenheck für die Library of Living Philosophers (1975; in: „An Interview with Jean-Paul Sartre” in The Philosophy of Jean-Paul Sartre, The Library of Living Philosophers, Hg. Paul Arthur Schilpp, La Salle: Open Court 1981, S. 5–51, hier S. 8) klar zum Ausdruck brachte, gibt es für ihn Psychologie als eigenständige Disziplin gar nicht. Sie ist entweder leeres Geschwätz oder der Versuch, ausgehend von philosophischen Begriffen den Menschen zu bestimmen. Bestenfalls existiert sie noch als empirische Psychologie. In seiner eigenen philosophischen Entwicklung fand der Bruch für ihn zwischen L’esquisse d’une théorie des émotions (1939), die noch der alten Psychologie verhaftet war, und L’imaginaire (1940) statt. Lange habe für ihn Philosophie ausschließlich Psychologie bedeutet.