Anarchie und Moral
Interview mit J.-P. Sartre[1]
in: Philosophie der Befreiung. Die phänomenologische Ontologie bei Jean-Paul Sartre. Materialis: Frankfurt 1983, S. 365-370
[S. 365] Wir führten das folgende Interview mit Sartre am 1. November 1979 in seiner bescheidenen Pariser Wohnung mit direktem Blick auf den Tour Montparnasse. Bei dieser Gelegenheit haben wir mit Sartre eine Stunde intellektueller Unruhe teilen dürfen, eine lebendige und zugleich belebende Stunde, während der wir seine intensive Beschäftigung mit und seine tiefe Besorgnis um die moralische Zukunft des Menschen fühlten, - moralische Zukunft im Sinne eines zukünftigen authentischen Menschseins.
Da wir davon überzeugt sind, daß die Sartresche Konzeption der An-archie als 'moralisches Leben' einen wichtigen Aufruf zur Umkehr desjenigen Menschen bedeutet, den wir in der Gestalt des Macht-Menschen (oder: Gegen-Menschen) verwirklichen, erscheint es uns angemessen, ja notwendig, den wesentlichen Inhalt dieses Interviews zu veröffentlichen.[2]
Frage: Sie haben sich öffentlich als einen Anarchisten bezeichnet, d. h. als Anhänger einer machtfreien Gesellschaft, doch scheint der eigentliche Sinn dieser Erklärung nicht ganz verstanden worden zu sein. Könnten Sie Ihre Gedanken zu diesem Thema näher verdeutlichen?
Sartre: Ich habe mich als einen Anarchisten bezeichnet, weil ich das Wort An-archie in seiner etymologischen Bedeutung benutze, also als eine Gesellschaft ohne Macht, ohne Staat. Der traditionelle Anarchismus hat nie versucht, eine solche Gesellschaft zu errichten. Die anarchistische Bewegung hat versucht, eine Gesellschaft aufzubauen, die zu individualistisch ist. Was aber heißt das, eine Gesellschaft, in der es keine Macht mehr gibt?
[S. 366] Wir müssen das Problem unter drei verschiedenen Aspekten betrachten:
1.- Zunächst muß untersucht werden, welche Gesellschaftsform sich überhaupt ohne Macht aufbauen läßt, oder zumindest ohne jegliche Staatsmacht.
2.- Wir müssen verstehen, daß wir unendlich weit von einer solchen Gesellschaft entfernt sind. Es gibt Formen der Macht, die als kollektive, juristische überall existieren und die auf jeden einzelnen Menschen Druck ausüben.
Der Sinn einer anarchistischen Gesellschaft liegt darin, daß in ihr kein Mensch irgendeine Macht über einen anderen Menschen besitzt, jedoch sehr wohl Macht auf die Objekt-Welt, die Dinge ausübt. In den zur Zeit bestehenden Gesellschaften wird der Mensch als Objekt, als Mittel, der Reichtum dagegen als Zweck behandelt. Im Moment handelt es sich nur darum, Gruppen zu gründen, die versuchen, außerhalb dieser Machtstrukturen zu leben und zu denken, die sich bemühen, die Idee der Macht beim Nächsten zu zerstören, die zwar Macht über die Dinge besitzen, jedoch niemals über Menschen. Doch werden weder wir selbst, noch unsere Kinder das Verschwinden des Staates miterleben, vielleicht gelingt es unseren Urenkeln.
Es geht also darum zu wissen, wie ein Anarchist jetzt leben muß. In diesem Sinne ist die Anarchie für mich ein moralisches Leben. (Bei dieser Gelegenheit möchte ich hinzufügen, daß ich nur Bücher geschrieben habe, in denen es um die Frage der Moral geht.)
Der Anarchist stellt sich also die Frage: Wie kann man in einer Gesellschaft, in der es Macht gibt, leben? Man muß versuchen, sich soweit als irgend möglich jeder sozialen Macht zu entziehen, und man muß jegliche Form von Machtausübung, die wir in unserem eigenen Handeln aufdecken können, in Frage stellen. Das ist nicht leicht, und es ist notwendig, soviel wie möglich mit den anderen zusammenzuarbeiten.
3.- Man müßte Gemeinschaften aufbauen, in denen man so frei wie möglich leben kann, - wie Anarchisten eben zu leben wünschten - Gemeinschaften von 25 bzw. 50, oder 10 bzw. 30 Personen, die untereinander authentische, völlig autoritätsfreie [S. 367] Beziehungen verwirklichen; Gemeinschaften, die auf Liebe basieren, jedoch nicht notwendigerweise auf der sexuellen, sondern vielmehr auf der Kindesliebe, der Mutterliebe, der Liebe zwischen zwei Gefährten. In der Hoffnung auf diese Liebe müssen sich die Beziehungen der Personen untereinander gründen. Diese Gemeinschaften können jedoch nicht vollständig anarchistisch sein, da Polizei, Armee und Gesetze des Staates, in dem sie sich befinden werden, weiterhin bestehen bleiben und darüber wachen werden, daß der Staat respektiert wird.
In Deutschland und Frankreich existieren kleine Gesellschaften dieses Typs, in denen Menschen zusammen leben, zusammen arbeiten und sich frei untereinander lieben. Sie bilden eine mögliche Grundlage für eine zukünftige anarchistische Bewegung, die es heute noch nicht gibt, die keine Partei sein wird und in der die Beziehung zwischen Macht und Handeln vollständig verschieden sein wird von den heute im Innern der traditionellen Parteien existierenden Beziehungen. Die anarchistische Aktion versucht, keine Parteien, sondern - ohne jegliche hierarchische Struktur - Massen aufzubauen, in denen zwar einige vielleicht mehr als andere über bestimmte Fragen reflektieren, die Entscheidungen aber soziale sein werden, d. h. als gesellschaftliche gemeinsam getroffen werden.
Im Augenblick muß es also darum gehen, Möglichkeiten zu schaffen, damit Menschen frei leben können und zwar mit anderen zusammen, da man schließlich nicht allein frei sein kann. Jeder sollte für jeden einzelnen seiner Gefährten so durchsichtig wie möglich sein: Macht aufzugeben bedeutet nichts anderes, als sich der totalen Transparenz zu nähern.
Frage: Was verstehen Sie unter Transparenz?
Sartre: Transparenz ist ein Synonym für Liebe, sie ist die vollständige, bewußte Kenntnis vom Denken und Handeln des Menschen, der an unserer Seite lebt. Der Blick wird Transparenz erreichen können, d. h. eine Person bis in ihr Innerstes durchdringen, ja sehen, was in ihrem Bewußtsein vor sich geht. Der Blick würde Wechselseitigkeit voraussetzen und hiermit die Überschreitung der Trennung der einzelnen Bewußtseine.
[S. 368] Die Transparenz impliziert den Kampf gegen jede Macht; das Leben in einer Gemeinschaft, die sexuellen Beziehungen, so wie ich sie ins Auge fasse, all das hat schon mit Moral zu tun, ist Teil einer Moral. Das einzige Ziel, das jeder haben muß, ist der Mensch selbst, was nichts anderes heißt als: der Mensch ist noch nicht Mensch, wir müssen uns ganz langsam in Menschen verwandeln. Der Mensch ist für den Menschen ein absolutes Ziel.
Frage: Soll das heißen: der Mensch ist das Absolute?
Sartre: Der Mensch ist nicht das Absolute, sondern vielmehr sein absoluter Zweck, da Mensch-Sein heißt: sittlich sein. Der Mensch muß sittlich leben, da sein tiefstes Geheimnis eben dieses sittlich-sein (moralisch-sein) ist.
Frage: Bedeutet das, daß die Freiheit des Menschen immer eine moralische Freiheit ist, die Freiheit also den höchsten Wert darstellt?
Sartre: Die Freiheit an sich ist kein Wert, doch wählt sie das, was sie als Wert bestimmt. Sie ist gewertet. Die Freiheit selbst ist kein Wert, sie ist metaphysische Realität.
Frage: Wie ist diese Behauptung, die Freiheit sei eine metaphysische Wirklichkeit, zu verstehen?
Sartre: Im Sinne einer transzendentalen Wirklichkeit, das heißt einer Wirklichkeit, die man in jedem liebt, als Ursprung und als Heil. Jeder Mensch muß das Produkt der Gemeinschaft sein und gleichzeitig einer freien Wirklichkeit.
Frage: Was bedeutet, von dieser Vision von Freiheit ausgehend, Macht, verstanden als Negation der Freiheit?
Sartre: Macht ist eine der wesentlichen Formen des Bösen.
Frage: Wie würden Sie heute Ihre Moral bestimmen?
[S. 369] Sartre: Sie wäre eine Moral der Hoffnung, da die Hoffnung ein Wert ist, im Hinblick darauf, daß die anarchistische Gesellschaft nicht schon morgen Wirklichkeit sein wird.
Frage: Aber wie ist das mit Ihrer Behauptung in Einklang zu bringen, daß die Geschichte absurd ist?
Sartre: Die Geschichte ist nicht absurd, ich denke das nicht. Ich habe es zwar sagen können, aber ich hatte nicht genügend darüber nachgedacht. Sie hat einen Sinn, und den kann man nur dann sehen, wenn man betrachtet, wie die Gesellschaft geworden ist: Es gibt einen Fortschritt vom römischen Zeitalter bis heute. Das Auftreten von Christus z. B. hat das subjektive Leben als ein wesentliches Element des christlichen Denkens hervorgebracht.
Vor dem Christentum gab es kein subjektives Leben. Mit Hilfe und durch dieses subjektive Leben versucht der Mensch, seine Objektivität zurückzuerlangen, d. h. daß jeder Mensch versucht, sich als Einheit von Subjektivität und Objektivität zu begreifen, zu ergreifen, während vorher Subjektivität und Objektivität getrennt waren.
Wir müssen im Moment das menschliche Sein von zwei Seiten erklären, wobei keine der beiden die jeweils andere beherrschen darf. Beide drücken jeweils die gleiche Intention aus (Intention ganz im phänomenologischen Sinn verstanden).
Frage: Wie würden Sie heute Ihre Behauptung verstehen, daß der Mensch eine 'nutzlose Leidenschaft' ist?
Sartre: Der Mensch als 'nutzlose Leidenschaft' ist eine für viele wahr bleibende Wirklichkeit, doch zeigt sich in der Vorbereitung einer Handlung ein Versuch, sie verschwinden zu lassen.
Im übrigen ist die Beziehung zwischen Leidenschaft und Handlung eine der Begründungen einer Moral.
Frage: Gibt es eine Beziehung zwischen dem ontologischen Ideal von 'Das Sein und das Nichts' und dem moralischen Ideal (eine anarchistische Gesellschaft)?
[S. 370] Sartre: Das ontologische Ideal war falsch: Es gab keine mögliche Synthese zwischen An-sich und Für-sich, doch nun ist vielmehr die Synthese von Subjektivität und Objektivität zu suchen, da die Objektivität des Menschen nicht die gleiche wie die der Objekte ist.
Frage: Glauben Sie, daß die Erfahrung der Endlichkeit die menschlichen Beziehungen entscheidend beeinflußt?
Sartre: Ja, sicherlich, aber ich habe mich mit diesem Problem noch nicht näher befaßt. Heute denke ich das Problem der menschlichen Beziehungen ausgehend von dem, was ich mit Dyade benenne, die mein ursprüngliches Verhältnis mit dem Anderen und des Anderen mit mir bedeutet. Das setzt eine Reziprozität voraus, da wir nun einmal nicht einfach zwei sind in der Art, wie man das von zwei Tassen sagt; sie ist eine wechselseitige Beziehung; man ist ganz ursprünglich eine Dyade.
Frage: Leitet die Dyade sich aus einer Erfahrung mystischer Art her?
Sartre: Nein, die Dyade gehört nicht in den Bereich der Mystik, sondern vielmehr der Rationalität. Alles, was ist, ist vernünftig, - in diesem Sinne ist sie Teil eines, durch Grundbegriffe definierten, Ganzen, das man die Wirklichkeit nennt.
[1] Gesprächsäußerungen aufgezeichnet und ausgewählt von R. Fornet, M. Casañas und A. Gómez [Raúl Fornet-Betancourt, Mario Casañas, Alfredo Gómez-Muller; A.B.]. Der französische Originaltext dieses Gesprächs erschien zum ersten Mal in der Zeitschrift CONCORDIA 1 (1982) S. 7-10. Die vorliegende deutsche Übersetzung besorgte Ursula Konnertz.
[2] Betreffend einer interpretierenden Darstellung dieses Interviews vgl. R. Fornet und A. Gómez: "Comentario a una conversación con Sartre", in: CONCORDIA 1 (1982) S. 17-21.