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Grégory Cormann: Sartre. Une anthropologie politique 1920–1980

Grégory Cormann: Sartre. Une anthropologie politique 1920–1980. Anthropologie et philosophie sociale, vol. 9. Bruxelles: Peter Lang-Verlag, 2021, 381 S. ISBN 978-2-8076-1589-2. € 53.50 (Taschenbuch), € 36.62 (Kindle).


Der Niedergang der Sartre-Forschung außerhalb des französischsprachigen Raumes ist selbstverschuldet. Es gibt viele Texte von Sartre, die in den letzten zwanzig Jahren erstmals veröffentlicht wurden: Texte aus der Jugendzeit, die beiden Metaethiken aus den 1960er Jahren, diverse Filmdrehbücher. Sie wurden außerhalb Frankreichs und Belgiens ebenso wenig rezipiert wie bedeutende Werke der Sekundärliteratur, die Forscher wie Alain Flajoliet oder Vincent de Coorebyter über den Sartre vor 1940 veröffentlichten.

Erklärungen hierfür sind, dass diese Texte erstens nur auf Französisch und zweitens oft in Publikationen erschienen, die selten in Bibliotheken außerhalb Frankreichs greifbar sind. Zumindest das letztere Argument gilt ab sofort nicht mehr. Zu den bedeutenden «Archäologen» (17) der aktuellen Sartre-Forschung zählt Grégory Cormann von der Universität Lüttich. Unter dem Titel Sartre. Une anthropologie politique 1920–1980 sind zehn Essays erschienen, die Cormann bis auf einen alle zwischen 2012 und 2017 in verschiedenen Büchern und Zeitschriften publizierte. Nicht nur kann der Peter Lang-Verlag, bei dem dieses Buch im Herbst 2021 erschien, die Sartre-Forscher weltweit damit beliefern, mit einem Preis von 53.60 EUR ist dieses Buch mit 381 Seiten auch für Privatpersonen und nicht nur für Bibliotheken erschwinglich.

In seinem ersten Beitrag über Sartre, Heidegger und die Zeitschrift Recherches philosophiques lässt uns Cormann tief in die Welt der französischen Philosophen der 1930er Jahre blicken. Das gängige Bild der philosophischen Entwicklung Sartres – 1933 Bruch mit seinen alten Lehrmeistern, dann zuerst Schüler von Husserl (1934–1938) und Heidegger (1939), bevor er 1943 mit L’être et le néant seine eigene Philosophie präsentierte (23–24) – genügt Sartres eigenen Ansprüchen nicht. Cormann schildert uns in seinem Essay die philosophische Landschaft der damaligen Zeit, in der Philosophen wie Alexandre Koyré, Jean Wahl, Emmanuel Levinas und andere zusammen mit Sartre den Boden für eine eigene französische Heidegger-Rezeption (27) vorbereiteten, lange bevor die Heidegger-Orthodoxie nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Brief über den Humanismus (24) die Führung an sich riss. Cormann ist auch der Verweis auf die Zeitschrift Recherches philosophique wichtig, der in der Vermittlung zeitgenössischer deutscher Philosophie eine wichtige Rolle zukam. So erschien dort 1932 Vom Wesen des Grundes, Heideggers zweiter auf Französisch erschienener Text (nach Was ist Metaphysik?, 1931 in Bifur publiziert). In den Recherches wurde aber auch das Vorwort zu Wahls Vers le concret veröffentlicht – und Sartres La Transcendance de l’ego.

Im nächsten Essay behandelt Cormann das Verhältnis von Emotionen, Magie und Wirklichkeit. Den Ausgangspunkt bildet Sartres Esquisse d’une théorie des émotions von 1939. Zuerst wendet sich Cormann der Kritik von Günther Stern alias Günther Anders zu. Stern wirft Sartre vor, dass er Emotion und Handlung voneinander trenne und damit den technischen Aspekt von magischen Praktiken übersehe (65); weil Sartre zu sehr unter dem Einfluss von Heidegger gestanden habe, identifiziere er das Emotionale mit dem Magischen (66). In Widerlegung von Sterns These verweist Cormann auf die Beziehung zwischen Sartre und dem Denken von Marcel Mauss. Wie bei Mauss sind bei Sartre Emotionen Teil einer Handlungstheorie, die auf einer Theorie des Körpers fußt (73). Cormann versteht Sartres Theorie der Emotionen als einen wichtigen Teil von dessen Anthropologie und verweist darauf, wie nahe Sartres Verständnis von Anthropologie jenem von Mauss ist. 1924 hatte dieser in einem Vortrag Psychologie und Soziologie als Teil einer Anthropologie skizziert, einer Wissenschaft vom Menschen als lebendem, bewusstem und kontaktfreudigem Wesen (75).

Dem Thema der Magie ist teilweise auch Cormanns dritter Aufsatz über Sartre und Alain gewidmet. Sartre hat sich immer wieder als Schüler von Alain bezeichnet (84). In der Tat finden wir Spuren zu Alain in vielen von Sartres Werken, von La légende de la vérité (1929–1931) bis zum Flaubert (1971/1973) (83). Es ist Cormanns Verdienst, uns diese Beziehung, die Sartre selbst nie richtig explizierte, verständlicher zu machen. Dabei nimmt Cormann Bezug auf Werke von Alain wie Les dieux, Les idées et les âges und Entretiens au bord de la mer, die bisher weniger als Système des beaux-arts und Quatre-vingt-un chapitres sur l’esprit et les passions im Vordergrund entsprechender Analysen standen. Bemerkenswert sind dabei nicht nur die Bezüge zwischen Alain und Sartre hinsichtlich ihrer Auffassung zur kindlichen Entwicklung, wo Cormann auch eine Brücke zu Merleau-Ponty und Hyppolite schlägt. Erwähnenswert ist auch, dass beide, Alain wie Sartre – beide «Atheisten» (oder wohl eher Nontheisten) – offensichtlich durchaus ein Faible für das Magische und Mythische hatten.

Das Thema der engen Beziehungen zwischen der deutschen und der französischen Philosophie greift Cormann nochmals im vierten Aufsatz auf. Dieses Mal stehen vor allem die 1920er Jahre im Vordergrund. So verweist Cormann unter anderem auf die «communauté alsacienne» (123). Einen Teil hiervon bildete der von Robert Minder gegründete Groupe d’Information Internationale an der ENS (124-126), in dessen Umkreis sich Sartre bewegte. Ebenso interessant ist Cormanns Verweis auf Sartres Nähe zu Bernhard Groethuysen, einem deutsch-französischen Philosophen, dessen Wege sich öfters mit jenen von Sartre kreuzten (144). Groethuysen spielte eine entscheidende Rolle in der Rezeption von Nietzsche, Dilthey und Kafka in Frankreich. Dies gilt gleichermaßen für Hölderlin: Cormann zieht hier eine direkte Linie vom Autor des Dramas Der Tod des Empedokles zu Sartres Empédocle (147–148).

Wer sich für die Entwicklung von Sartres Denken interessiert, für den ist die Lektüre von Cormanns ersten vier Essays ein Muss. Dass es immer noch viele unbeantwortete Fragen im Zusammenhang mit Sartre und seinem Werk gibt, zeigen die nächsten zwei Aufsätze. Im ersten geht es um Sartre und die Psychoanalyse. Cormann analysiert hier Beziehungen nicht nur zu Freud, sondern auch zu Bergson, Ferenczi, Caillois, Lacan und Bachelard. Und im zweiten Beitrag stellt er sich insbesondere der Frage, wer denn mit der Königin Albemarle in La reine Albemarle ou le dernier touriste gemeint sein könnte. Cormann erwähnt die unterschiedlichsten Möglichkeiten, vom Albemarle Club in London, wo der Prozess gegen Oscar Wilde wegen Sodomie seinen Anfang nahm, bis zu einer Allusion an das deutsche Wort «Elfenmärchen».

Die folgenden vier Texte sind politischen Themen gewidmet. So analysiert Cormann Sartres Intervention zugunsten von Mohamed ben Sadok, als diesem 1957 der Prozess wegen Mordes an einem hochrangigen Frankreich-treuen algerischen Politiker gemacht wurde. Das hierbei bemerkenswerteste Detail ist, dass sich Sartre streckenweise der Argumentation von Camus bediente (254–259, 265). Dies gibt einmal mehr einen Hinweis darauf, dass Sartre, der auch Camus’ Roman La Chute von 1956 als dessen besten betrachtete (255), trotz des Bruchs von 1952 Camus weiter achtete.

Ein weiterer Essay ist Sartres Besuch bei Baader in Stammheim gewidmet. Dass es uns heute noch schwerfällt, dieses Treffen zu verstehen, zeigt sich auch in Cormanns Text. Cormann offeriert drei mögliche Erklärungen dafür, wieso Sartre Baader besuchte: Sartre wollte mehr erfahren über den Einsatz des Körpers in Form des Hungerstreiks als Mittel der Politik und über die Auswirkungen der Haft auf den Körper (308, 317); oder er wollte mehr über den politischen Kampf in den 1970er Jahren erfahren (319); oder er wollte sich zum Idioten machen, wie Baader sich selbst zum Idioten machte (326; siehe der von Daniel Cohn-Bendit wiedergegebene Satz, den Sartre nach Ende des Besuches äußerte: «Ist der bescheuert, dieser Baader!»).

Und letztlich – last but not least – gibt es zwei Texte, die sich mit der Frage der Schwarzen und des Rassismus auseinandersetzen. Im ersten Beitrag befasst sich Cormann mit dem Verhältnis von Fanon und Sartre. Zusammen mit Orphée noir, dem Vorwort, das Sartre für die 1948 publizierte Anthologie von Gedichten der Négritude verfasste, und dem Portrait du colonisé (1957) beeinflusste Sartres Vorwort zu Fanons Les damnés de la terre (1961) stark die Entwicklung der postcolonial studies (327). Orphée noir prägte zusammen mit neben Réflexions sur la question juive auch Fanons Denken über Rassismus. Wichtige Rollen kommen in diesem Essay auch Boris Vian, dem «weißen Neger» (283), und Richard Wright zu, dem schwarzen Schriftsteller aus den USA, der in Paris lebte.

In seinem letzten Essay macht Cormann klar, dass es sich bei Sartres Texten gegen Rassismus und Kolonialismus nicht um den Zeitgeist geschuldete Zufallsprodukte handelte. Vielmehr spiegelte sich hierin eine Überzeugung wider, die Sartre seit dem Anfang der 1920er Jahre kennzeichnete. Neben dem Rif-Krieg geht Cormann insbesondere auf die Rollen von Félicien Challaye (332-350) und Lucien Lévy-Bruhl (335-364) ein. Und so ganz nebenbei kommt es einerseits zu einer Ehrenrettung von Sartres Großvater Charles Schweitzer, der ein Dreyfusard war und sich für Karl Kraus als Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis einsetzte (355), und andererseits zu einer Darstellung der Gemeinsamkeit von Sartre und Merleau-Ponty in Bezug auf das Engagement gegen den Krieg in Algerien und die Entkolonialisierung (365).

Ein gutes Buch ist ein Buch, das viel «Food for thought» liefert. Gemessen an diesem Kriterium ist Cormanns Sammelband ein exzellentes Werk. Cormann versteht es, Sartre ganz nahe an seinen Worten zu lesen (11). Und damit kommt er dem Anspruch sehr nahe (13), den Sartre 1975 in seinem Interview für Schilpps Serie The Living Philosophers formulierte: um ihn zu verstehen, muss man alle seine Texte lesen. Wenn Cormanns Buch einen Mangel hat, dann ist es jener, dass es nur auf Französisch erschienen ist. Gerade die Sartre-Forschung außerhalb der Frankophonie bräuchte ein solches Werk. Es ist zu hoffen, dass es zu einer Übersetzung kommt, vielleicht komplettiert noch um einen zusätzlichen aktuellen Beitrag.


Alfred Betschart


Cormann - Sartre.pdf