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Les mots / Die Wörter, ein autobiographischer Roman von J.-P. Sartre


Zusammenfassung:

Das erste bedeutende Ereignis in Sartres Leben war der Tod seines Vaters Jean-Baptiste. Einerseits bedeutete es für Sartre die Freiheit. Er wuchs auf, ohne ein Über-Ich und ohne einen Aggressionstrieb zu entwickeln. Einen strengen Vater, der ihm nach den damaligen Grundsätzen – und wie es später sein Stiefvater Mancy vergeblich versuchte – die eisernen Prinzipien der Moral beigebracht hätte, gab es nicht. Auch die Religion war kein Ersatz hierfür. Sartre wurde zwar katholisch erzogen, doch dies war eine Sache der Gewohnheit, nicht der Überzeugung. Religiös war man aus Taktgefühl. Sein Grossvater, eigentlich ein antipapistischer Lutheraner, verunmöglichte es, dass aus dem kleinen Sartre, den sie Poulou nannten, ein katholischer Mystiker und Heiliger geworden wäre. Die Religion erschien ihm mehr und mehr als Feindesland. Und nach ein paar Jahren, in denen er mit Gott nicht mehr privat verkehrt hatte, gab der junge Sartre im Alter von zwölf Jahren ihn auch offiziell auf.

Statt bei seinem Vater wuchs Sartre in der Familie seines Grossvaters mütterlicherseits auf. Die Schweitzers aus dem Elsass und die Elsässer insgesamt standen ihm deshalb immer näher als die Sartres aus dem Périgord. Sein Grossvater spielte in der Erziehung Poulous die entscheidende Rolle. Es war die Rolle des Gott Vaters, dem er so sehr ähnelte, dass er mit ihm verwechselt wurde. Poulous Mutter wurde hingegen zuhause wie ein minderjähriges Mädchen gehalten. Sie war nicht Sartres Mutter, sondern seine ältere Schwester. Inzest habe ihn deshalb immer interessiert, schreibt Sartre.

Es war eine Scheinwelt, in der Poulou aufwuchs. Der Grossvater hatte entschieden, sein Leben als einen seinen Enkel bewundernden Grossvater zu beenden. Und Poulous Aufgabe war es, dieses Wunder zu spielen. Er lernte schnell zu schauspielern, zu lügen und kluge Worte nachzuplappern. Statt Rechte und Pflichten kennen zu lernen, wurde er ein verhätscheltes Kind, dessen einzige Aufgabe es war zu gefallen. Er wurde geschminkt und herausgeputzt wie im Theater. Einzig seine Grossmutter durchschaute ihn und nannte ihnen einen Clown, der immerzu Affereien mache.

Es war ein unnatürliches Leben. Bis zum Alter von zehn Jahren wuchs Poulou allein zwischen einem Greis und zwei Frauen auf. Poulous Welt war jene im sechsten[1] Stock an der rue Le Goff Nr. 1, nicht jene der Parks oder der Strassen. Der Jardin du Luxembourg war eine feindliche Welt. Zeit seines Lebens behielt Sartre seine Vorliebe für Wohnungen in oberen Stockwerken und seine Aversion gegen die Natur. Statt unter Bäumen zu spielen waren die Bücher aus Grossvaters Bibliothek die Welt, in der Poulou lebte. Er wurde zum Platoniker, dem die Ideen wichtiger waren als die realen Dinge. Die Bücher waren seine Ersatz-Religion, sein agnostischer Grossvater sein Hoher Priester und die Bibliothek sein Tempel. Es war eine veraltete Welt, in der er lebte, denn die Welt des Grossvaters mit den Bücher von gestern reflektierten ein Denken aus der ersten Hälfte des 19. Jhs.

Seine Welt der heimlichen Abenteuer war nicht das Dickicht im Jardin du Luxembourg, sondern die Welt der Dreigroschenheftchen und Abenteuerromane, die ihm seine Mutter heimlich und zum grossen Ärger ihres Vaters kaufte. Besonders Zévacos Pardaillan hatte es ihm angetan. Später kam noch vor allem Nick Carter in New York dazu, der ihn stark beeindruckte. Mit seiner Mutter ging Poulou oft ins Kino. Nicht ohne Folgen für die Zukunft: selbst der alte Sartre las in seiner Freizeit lieber Krimis als Wittgenstein und lange hatte er viel fürs Kino übrig. Und bis zu seiner ersten Amerikareise 1945, als er auch die negativen Seiten der USA kennen lernte, war Sartre ausserordentlich amerika-freundlich.

Diese Scheinwelt des neunmalklugen und braven Poulou bekam jedoch langsam Risse. Als der Grossvater ihn ins Lycée Montaigne schickte, machte er beim Aufnahmediktat so viele Fehler, dass er statt in die achte in die zehnte Klasse eingeschult werden sollte. Der Grossvater, für den seine Wunderwelt zusammengebrochen war, nahm seinen Enkel gleich wieder von der Schule und vertraute ihn einem Privatlehrer an. Für die Mutter geschah der Zusammenbruch schon früher, als der Grossvater den siebenjährigen Poulou zum Friseur brachte. Aus Poulou, der von seiner Mutter recht feminin eingekleidet worden war und lange Haare trug, sollte endlich ein richtiger Junge werden. Doch zurückkam der Grossvater nur mit einer schielenden Kröte.

Auch wenn der junge Sartre seine Hässlichkeit in ihrer ganzen Bedeutung erst mit zwölf erfuhr, als er nach La Rochelle übersiedelte, Poulou war ein zu tiefst verunsichertes Kind. Als Snob, der unfähig war, eine normale Klasse zu besuchen, hatte er grosse Schwierigkeiten in den Beziehungen zu den andern Kindern im Jardin du Luxembourg. Und diese mit ihm, denn sie wollten nicht mit dem klein gewachsenen, schielenden Ekel spielen. Trotz aller Bewunderung, die ihm sein Grossvater und seine Mutter entgegen brachten, ein richtiges Zuhause fand Poulou nicht. Er kam sich in dieser Welt der Erwachsenen überzählig und nutzlos vor. Schon im frühen Alter hatte er das Gefühl, entbehrlich zu sein. Sein Alptraum war es, ohne Fahrkarte im Zug nach Dijon zu sitzen und vom Schaffner kontrolliert zu werden. Es war ein Alptraum, der ihn bis ins hohe Alter begleitete. Schon als kleiner Junge musste Poulou so seine eigene Existenz rechtfertigen. Als rechtsgerichteter Anarchist und Held säuberte er die Welt von allem Bösen, wie es Arsène Lupin oder Michael Strogoff vormachten. Vor allem Michael Zévacos Mantel-und-Degen-Romane mit Pardaillan hatten es ihm angetan. Mehr als einmal ohrfeigte er die bösen Könige Henri III und Louis XIII, um die Schwachen zu beschützen. Pardaillan und Strogoff würden ihn immer noch bewohnen, schreibt er in Les Mots. Und Sartre fragt sich, ob er nicht wie früher das Spiel „Wer verliert, gewinnt“ spiele.

Um diese Scheinwelt am Leben zu erhalten begann Poulou mit sieben Jahren, Verse und Romane zu schreiben. Er gab sich selbst die Mission eines Schriftstellers. Wie er es später in seinen existentialistischen Schriften beschrieb und es bedeutenden Figuren seiner Werke wie dem Orest zuschrieb, erwählte er sein eigenes Ich. Für ihn sollte von nun an die Gegenwart immer mehr als die Vergangenheit und die Zukunft immer mehr als die Gegenwart zählen. Damit verbunden war auch seine Neigung, sich von einem Augenblick auf den andern zu ändern und zu verleugnen. Sartre meint, dass er so schon früh zum Verräter geworden und es geblieben sei. Hinter seinem Entscheid für die Literatur und die Schriftstellerei stand die Rebellion gegen seinen Grossvater und das Gesetz Moses’. Sartre warf sich in die Literatur wegen der Mühe, die der Grossvater sich gab, ihn davon abzubringen. Um ihm zu gehorchen, akzeptierte Sartre allerdings die Laufbahn eines unbedeutenden Schriftstellers. Er akzeptierte, ein Schriftsteller der Fleissübungen zu sein, dessen Bücher nach Schweiss und Mühe riechen.

Poulous Karriere als Schriftsteller begann damit, dass er La Fontaines Fabeln in Alexandriner umschrieb. Dann verfasste er Abenteuergeschichten über eine Schmetterlingsjagd im Amazonas und über einen Bananenhändler und eine Version des Götz von Berlichingen. In diesen Geschichten, in denen er als Held immer gegen alle kämpfte, verband er Corneille und Pardaillan im Kampf für das Gute, einer gegen alle. Der Ritter des 16. Jh. wurde langsam durch die Figur des Intellektuellen ersetzt, des kleinbürgerlichen Intellektuellen, der die Radikalsozialisten wählt. Dessen Aufgabe war es, die Menschheit vor dem Untergang zu retten. Poulou schrieb um die Welt zu retten, nicht um gelesen zu werden. Die Schreiberei war Selbstzweck, Zweck der eigenen Existenz: Ich schreibe, also bin ich. Es war eine idealistische Welt. Durch die Sprache entdeckte Sartre die Welt, und lange nahm er deshalb die Sprache für die Welt. Ein Intellektueller zu sein, hatte den Vorteil, keine Angst vor dem Tod haben zu müssen. Der Intellektuelle überlebt in seinen Reliquien, den Büchern, Gemälden und Statuen. Bücher zu schreiben war Sartres Methode, unsterblich zu werden. Deshalb habe er später auch wie ein Murmeltier schlafen können, während andere wie Nizan vor Unruhe und Angst wach blieben.

Diese erste Periode intensiven Schreibens dauerte bis zu seinem elften Lebensjahr. Mit zehn Jahren wurde Sartre ins Lycée Henri IV eingeschult. Einerseits hatte er nun weniger Zeit fürs Schreiben von seinen Romanen. Er musste mehr für die Schule arbeiten. Sein erste Erfahrung mit dem Aufsatz, als er letzter wurde, zeigte ihm, dass er noch viel zu lernen hatte. Andererseits wurde er nun in eine normale Klasse eingegliedert und bald hatte er nur noch die Leidenschaft, ein normaler Schüler zu sein. Er hörte gänzlich auf, Romane zu schrieben. Doch sein Plan, Schriftsteller zu werden, blieb erhalten – nicht zu letzt weil auch seine Mitschüler Bercot und Nizan Schriftsteller werden wollten. Noch mehr, dieser Auftrag, den die Erwachsenen im jungen Sartre verbrieft und deponiert hatten, wurde zu dessen Charakter. Sein Delirium habe seinen Kopf verlassen und sich in seine Glieder ergossen, schreibt Sartre. Er sei ein Fall von Charakterneurose geworden. Bis 1953 habe er an dieser Neurose gelitten, an einem langen, bitteren, aber auch süssen Wahn. Seine damaligen Vorstellungen habe er zwar abgelegt, doch er schreibe nach wie vor. Kein Tag ohne eine Zeile. Was solle er sonst tun?


 

[1] Einmal schreibt Sartre vom sechsten, dann wieder vom fünften Stock.