David Mitchell: Sartre, Nietzsche and Non-Humanist Existentialism
David Mitchell: Sartre, Nietzsche and Non-Humanist Existentialism.
Palgrave Macmillan: Cham 2020.
In seinem Buch Sartre, Nietzsche and Non-Humanist Existentialism behandelt David Mitchell, ein junger englischer Philosoph, der an der University of Johannesburg, Südafrika, arbeitet, ein Thema von unbestreitbarer Aktualität. Im Fokus steht das Verständnis der Philosophien zweier immer noch hoch umstrittener Autoren, jener von Nietzsche und Sartre. Sartre werde heute nur noch schwach mit dem Existentialismus identifiziert, wie ihn Mitchell versteht, und Nietzsches Philosophie sei wie jene Martin Heideggers sogar weitgehend von existentialistischen Zügen gereinigt worden. Unter Rückgriff auf Walter Kaufmann und dessen für die Rezeption des Existentialismus in der USA zentrales Werk Existentialism from Dostoevsky to Sartre versteht Mitchell den Existentialismus als ein Denken, in dessen Zentrum das Streben nach Authentizität und der Kampf um die Rückgewinnung der eigenen Individualität gegen die Kräfte und Institutionen der Anderen steht. Grundsätzlich stimmt Mitchell Heideggers Kritik an humanistischen Philosophien in dessen Brief über den Humanismus zu – mit dem Unterschied, dass er Nietzsches und Sartres ursprüngliche Philosophien als solche mit einem antihumanistischen Charakter versteht.
Mitchell berührt hier ein sehr heikles Thema: jenes des Softenings von Nietzsche und Sartre zu humanistischen Existentialisten. Nietzsches Verteidiger von heute sehen in Ausdrücken wie Herren- und Sklavenmoral und Übermensch vor allem Stolpersteine zu einem «korrekten» Verständnis von dessen Philosophie. Noch ausgeprägter ist das Problem bei Sartre, der mit seinem Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus Sartre selbst Spuren legte, die zu einem falschen Verständnis seiner Philosophie führten. Dass Sartre sich später selbst von diesem Werk distanzierte und die Veröffentlichung seiner Entwürfe für eine Moralphilosophie zu Lebzeiten ablehnte, wird von vielen Sartre-Forschern beharrlich verschwiegen. Sie – Mitchell kritisiert in diesem Zusammenhang Sartrianer von Mary Warnock bis Jonathan Webber – insistieren auf einer Interpretation von Sartres Philosophie als einer humanistischen Ethik, die mehr mit Kant als Sartres eigenen Anliegen zu tun hat.
Unter Bezugnahme auf Paul Tillich geht es Mitchell um die Rückkehr zum Menschen. Er will zu einem radikalen und philosophisch gleichzeitig herausfordernden Existentialismus kommen, für den Authentizität und die Rückkehr zur individuellen Existenz im Zentrum steht. Dabei wendet sich Mitchell gleichermaßen gegen die post-strukturalistische Philosophie, die den Menschen auflöst, wie gegen in Religion und Wissenschaft verbreitete humanistische Ansichten. Mitchell verlangt eine Rückkehr zum Menschen ohne Rückfall in den Humanismus. Dieses Zurück zum Menschen kann für ihn nicht in einem Rückzug in die subjektive Innerlichkeit bestehen, sondern nur durch eine Zuwendung zur Welt, in deren Mitte wir allein unser wahres Selbst finden können. Diese Welt muss in ihrem ganzen Reichtum erfasst werden, auch in den damit für den Menschen verbundenen Sorgen.
Mit Kaufmann, Jacob Golomb und Richard Schacht teilt Mitchell die Auffassung, dass Nietzsche ein Existentialist war, weil es bei ihm zentral darum gegangen sei, dass das Individuum sich selbst mache. Damit wendet sich Mitchell gegen angelsächsische und postmoderne Philosophen wie Jacques Derrida oder Michel Foucault, die Nietzsche als seriösen Philosophen betrachten resp. als Vorläufer der postmodernen Philosophie mit dem Tod des Subjekts in Verbindung bringen. Nietzsches «Zurück zum Menschen» sei zentral mit der Einheit von Authentizität und Verstehen und der Einheit von Welt und Selbst verbunden. In Nietzsches Denken gehe es darum, «wie man wird, was man ist», wie es in Ecce Homo heißt. In der Kombination seiner verschiedenen verschiedene Rollen – resp. Identitäten, ob auf Basis Geschlecht, Rasse, Nationalität oder was immer – trägt jedes Individuum in Nietzsches Sinne eine produktive Einzigkeit in sich. Im Gegensatz zum «letzten Menschen» und seinen Schülern, die immer klug auf ihren Vorteil aus sind und Risiken meiden, lebt der rechte Philosoph „unphilosophisch“ und „unweise“ und vor Allem unklug. Der Mensch soll zum Löwen werden, Ja zur Freiheit und Nein zur Pflicht sagen. Dabei ist für Mitchell zentral, dass Nietzsche die übliche Vorstellung von Subjekt, Objekt und insbesondere jene eines verantwortlichen Täters ablehnt, denn so entgeht Nietzsche der Vorstellung eines unabhängigen Subjekts, wie es für den Humanismus typisch ist. Es gibt kein Sein hinter den Taten: Tun ist alles.
Seinem Verständnis eines nietzscheanischen anti-humanistischen Existentialismus entsprechend postuliert Mitchell, dass der Mensch sich nicht den Regeln einer Sklavenmoral unterwirft. Das schlechte Gewissen stelle für Nietzsche eine Perversion des Willens zur Macht dar. «Perversion» ist für den Autor ein zentraler Begriff in seinem Buch, der als solcher auf eine Abkehr von der Authentizität des Individuums verweist. Bei Nietzsche stehe Perversion im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Willens zur Macht. Dieser Auffassung entsprechend ist der Staat etwas potentiell Perverses, das auf das früher freie Tier des vorpolitischen Staates einwirkt. Die Perversion, eine Folge des schlechten Gewissens, führt dazu, dass die Instinkte des Menschen sich nicht mehr nach Aussen entladen, sondern sich nach Innen wenden, so dass der Mensch zu einer kontinuierlichen Perversion des Willens zur Macht wird. Für Mitchell führt das nietzscheanische Ideal der Authentizität zur Ablehnung des Humanismus. Er spricht sich in diesem Zusammenhang klar für eine aktive Herren- und gegen die passive Sklavenmoral aus, die zur Selbsttäuschung und Unehrlichkeit neigt und mit Hilfe des Gefühls des Ressentiments die Werte der Herren pervertiert. Ressentiment wird zwar so kreativ, bleibt aber wesentlich Selbsttäuschung, denn letztlich sagt der Sklave sagt immer nur Nein, wo der Herr Ja sagt.
Auf eine den Themenkomplex klar darlegende Einleitung und den ersten größeren Teil zu Nietzsche folgen drei Kapital zu Sartre und dessen Philosophie. Gleich zu Beginn stellt sich Mitchell gegen Sartres Kritiker, einerseits Denker wie Claude Lévi-Strauss, der Sartres Philosophie als eine für junge Mädchen abqualifizierte, andererseits insbesondere die (Post-)Strukturalisten, die Sartres Existentialismus als einen Humanismus abtaten. Mitchell versteht Sartres Philosophie als einen phänomenologischen Existentialismus, der sich – zumindest ursprünglich – durch einen Antihumanismus auszeichnete. Nach Mitchell geht es in Sartres Das Sein und das Nichts zentral um die Verbindung zwischen konkreter Existenz, Engagement und Authentizität. Ähnliche Züge stellt Mitchell auch in Sartres Werken Der Ekel und insbesondere Die Transzendenz des Egos fest. Heideggers Kritik an Sartres Philosophie ist für ihn verfehlt – ein Fehler, der für ihn darauf beruht, dass Heidegger offensichtlich nicht mit Das Sein und das Nichts, sondern nur mit Der Existentialismus ist ein Humanismus vertraut war – und auch dies wahrscheinlich auch nur oberflächlich. Dass sich die Sartre-Kommentatoren von Iris Murdoch und Warnock bis Webber und Christine Daigle nie richtig mit Heideggers Kritik auseinandergesetzt hatten, bemängelt er zurecht.
In Fortführung seiner Darstellung von Nietzsche verweist Mitchell darauf, dass auch Sartre eine substantielle Vorstellung des Egos ablehnt. Statt dass das Selbst eine Beziehung zur Welt hat, ist es nur eine solche Beziehung. Wird das präreflexive Bewusstsein richtig verstanden, muss Sartres Philosophie als Ablehnung des isolierbaren menschlichen Subjekts aufgefasst werden. Deshalb gibt es bei Sartre auch kein humanistisches Subjekt, das irgendwo wie ein Gott sich selbst schöpft und seine Welt, seine Werte bewusst wählt. Das Subjekt befindet sich nicht zuerst in einer leeren Welt und engagiert sich dann: vielmehr ist es schon immer in eine Welt von Werten, Handlungen und Erwartungen geworfen.
Hiervon ausgehend sind für Mitchell die zentralen Begriffe in der weiteren Diskussion die Angst, in der der Mensch seine Nichtigkeit erfährt, und die mauvaise foi, die Bösgläubigkeit[1]. In der Angst haben wir das Gefühl, dass unser Sein in Frage gestellt ist. Angst ist allerdings nicht der Normal-, sondern vielmehr ein Ausnahmezustand. Deshalb ist für Mitchell der wichtigere Begriff jener der Bösgläubigkeit. Unter Berufung auf Sartre ist für ihn Böswilligkeit die Folge einer Vorstellung von freiem Willen und falschem Glauben an einen festen Charakter. Wie bei Nietzsche und seinen Sklaven täuschen wir uns hier nicht gelegentlich, sondern systematisch. Die mit der Böswilligkeit verbundene Selbsttäuschung basiert nach Sartre auf der Spontaneität des präreflexiven Cogitos, nicht auf einer reflektierten Wahl. Mit diesem Rekurs auf das präreflexive Cogito erweist sich Sartres Erklärung nach Mitchell alternativen Erklärungen überlegen, wie bspw. jener Freuds mit der Verdrängung. Ganz besonders geht Mitchell in diesem Zusammenhang auch auf die Ernsthaftigkeit ein – das Ideal, das für sich selbst zu sein, was man ist, wie es paradigmatisch Sartres viel zitierter Kellner aus Das Sein und das Nichts darstellt.
Mitchell betont immer wieder – auch in diesem Zusammenhang – seine Kritik an einer rein ethischen Interpretation von Sartres Werk: nach Mitchell stellt Sartres Philosophie nicht für eine humanistische Ethik, sondern für eine antihumanistische Ontologie. Allerdings muss auch er sich am Ende seines Werkes fragen, ob er nun doch nicht selbst nur eine neue kontemplative Theorie entworfen hat, die wie, Heidegger kritisierte, nur eine theoretische Darstellung des Seins und des Menschen und ohne praktische Bedeutung für die Existenz ist.
Mitchell behandelt mit seinem Buch zweifelsfrei ein hochinteressantes Thema. Sowohl in Bezug auf Nietzsches wie Sartres Denken ist es angebracht, die aktuellen Mainstream-Interpretationen zu hinterfragen. Hierzu leistet Mitchell einen wichtigen Beitrag. In Frage steht allerdings, wieweit Mitchell mit Sartres Theorie und deren verschiedenen Interpretationen vertraut ist. Es ist bezeichnend, dass Mitchell nur aus Das Sein und das Nichts, Der Humanismus ist ein Existentialismus, Der Ekel und Die Transzendenz des Egos zitiert. Bei einem ausgesprochenen Vielschreiber wie Sartre ist dies arg wenig. Entsprechend langfädig und inhaltsarm fallen Mitchells Ausführung zu Sartre aus, obwohl diese den umfangreichsten Teil des Buchs ausmachen. Wer diesen Teil mit jenem über Nietzsche vergleicht, ist nicht erstaunt, dass Mitchell auf der Webseite seiner Uni als Nietzsche- und Heidegger-, aber nicht als Sartre-Spezialist präsentiert wird. Die Langfädigkeit zieht sich allerdings nicht nur durch den Sartre-Teil, sondern durch das ganze Buch: zu viele Vorausschauen und rückblickende Zusammenfassungen, zu viele Sätze, die bloße Fragen sind und nur auf anderswo Geschriebenes verweisen. Ein engagierterer Korrektor wäre hier nicht fehl am Platz gewesen.
Mitchells implizite Kritik, dass Sartre sich mit Der Existentialismus ist ein Humanismus – und die Entwürfe wären hier zuzufügen – von seiner ursprünglichen Theorie Richtung eines gutbürgerlichen Humanismus entfernte, ist durchaus korrekt. In diesem Zusammenhang hätte jedoch auch erwähnt werden müssen, dass Sartre selbst später diesen Werken gegenüber eine sehr kritische Haltung einnahm und um 1949 mit dem eher humanistischen Verständnis des Existentialismus brach. Mit Saint Genet erklärte er das Böse als ebenso wählbar wie das Gute. In seiner Kritik der dialektischen Vernunft legte Sartre ein Instrumentarium zum besseren Verständnis der, vor allem gesellschaftlich geschaffenen, Umwelt und den Beziehungen zwischen ihr und dem Individuum vor. In seiner Ethik der 1960er Jahren, exemplifiziert in seinem Vortrag am Gramsci-Institut 1964 in Rom (postum publiziert als Les racines de l’éthique) und in seinen Notizen zu den Vorlesungen an der Cornell University von 1964/65 (postum publiziert als Morale et histoire), distanzierte er sich deutlich von seinem Versuch der Schaffung einer normativen Ethik zwischen 1944 und 1949. Für einen antihumanistischen Existentialismus wären dies sehr bedeutende Texte. Sie könnten auch die Basis darstellen für ein neues Verständnis von Sartres Philosophie, das endlich unterscheidet zwischen Sartres Theorie und deren persönlicher Anwendung durch Sartre selbst. Die eine weitere Akzeptanz von Sartres Philosophie verhindernde Verbindung zwischen seiner Theorie und seinem persönlichen politischen Engagement könnte aufgespalten werden. Behält der sartrianische Mainstream recht, dass Sartres Philosophie auf immer mit einem Bekenntnis zu dessen politischem Engagement verbunden ist, wird sein Denken immer jenes einer philosophisch-politischen Sekte bleiben.
Eine Erweiterung von Mitchells Analyse auf diese späteren Texte würde allerdings Mitchells Gegensatz zwischen Existentialismus als Ontologie und Existentialismus als Ethik in Frage stellen. In seinen Werken ab 1950 verwirklicht Sartre das, was er in Das Sein und das Nichts versprochen hatte: eine Verbindung von Ontologie und Ethik. Des Weiteren hätte eine tiefergehende Analyse von Sartres Philosophie wohl auch geholfen, auch einen anderen Mangel des Werks zu beseitigen: die beiden Hauptteile des Werks über Nietzsche und Sartre stehen weitgehend unverbunden da. Eine größere Vertrautheit mit Sartres Werk hätte Mitchell wohl ermöglicht, durch einen Vergleich zwischen den Theorien dieser beiden eminenten Denker das Profil eines möglichen anti-humanistischen Existentialismus zu schärfen. Dabei wären wohl auch die Unterschiede zwischen Nietzsche und Sartre deutlicher geworden. Nietzsches Interpretation als eines Existentialisten, zu der sich auch Mitchell bekennt, basiert ja nicht zuletzt auf dem Bestreben, aus Nietzsche einen Humanisten zu machen. Wäre es da nicht ehrlicher gewesen, in Nietzsche eben nicht einen Existentialisten mit Fokus auf dem Individuum zu sehen sondern eher einen Philosophen, der mit seiner Genealogie der Moral näher strukturalistischen Ansätzen wie jenen von Marx und Foucault stand?
Alfred Betschart
21.8.2020
[1] Justus Streller, der erste Übersetzer von Das Sein und das Nichts, gab Sartres Begriff der mauvaise foi als Unwahrhaftigkeit wieder – eine Übersetzung, die durchaus möglich ist, jedoch das Spiel mit dem Ausdruck der Gutgläubigkeit verunmöglicht (nach dem Duden sind die Synonyme für «wahrhaftig»: als Adv. tatsächlich, wahrlich, als Adj.: erwiesen, tatsächlich, ungelogen). Traugott König benutzte stattdessen den Ausdruck der Unaufrichtigkeit, einen Begriff, der viel zu nahe am Begriff der Unehrlichkeit steht. Zwischen Lügen und Bösgläubigkeit, wie ich mauvaise foi wiedergebe, um die Parallele zur Gutgläubigkeit nicht zu zerstören, bestehen jedoch grundlegende Unterschiede. Wer lügt, kennt die Wahrheit; lügen erfolgt mit Absicht. Demgegenüber ist bösgläubig, wer etwas Falsches sagt/tut, was er hätte besser wissen müssen. Bösgläubig ist das Gegenteil von gutgläubig, was jener ist, der etwas Falsches sagt/tut, weil er es nicht besser wissen konnte.