Man muß für sich selbst und für die andren leben
Ein Interview von Rupert Neudeck [mit J.-P. Sartre]
in: Merkur 12, 1979, S. 1208-1222
[S. 1208] »Ainsi la passion de l'homme est-elle inverse de celle du Christ, car l'homme se perd en tant qu'homme pour que Dieu naisse. Mais l'idée de Dieu est contradictoire et nous nous perdons en vain; l'homme est une passion inutile.«[1]
Dies »en vain« geht mir im Kopf herum, als ich die Stufen zu dem Haus am Boulevard Quinet emporsteige, und ich in dem unübersichtlichen Häusergewirr den Gebäudeteil suche, wo der »alte« Jean-Paul Sartre lebt, wohnt, arbeitet. »Alt« ist er eigentlich weder im wörtlichen noch im weiteren Sinn des Wortes. Geboren wurde Jean-Paul-Charles-Aymard Sartre am 21. Juni 1905 in Paris (im 16. Arrondissement, rue Minard); im nächsten Jahr wird er also ein dreiviertel Jahrhundert leben; »alt« fühlt er sich ganz und gar nicht, obwohl die physiologischen Anzeichen dafür sprechen. Aber in dieser Situation beweist sich Sartres Definition von der Freiheit des Menschen: »Freiheit ist das, was der Mensch aus dem macht, was aus ihm gemacht worden ist.« Sartre ist tätig, auch in diesem Alter; er ist nur anders tätig als zuvor. War sein Leben eine »passion inutile«? Aber wieso »war«? Wieso, würde Sartre sagen, soll ich von dieser Zeit sprechen, als wäre sie in der Trägheit der Historie erstarrt, wenn ich, Sartre, noch lebe und diese ganze Zeit als lebendige in meiner Person zusammenhalte?
Wie wenig dieses Leben abgeschlossen ist, wie wenig sich Sartre einer »pratico-inertie« überlassen hat, beweist sein alltägliches, aktives Leben. Gewiß, es hat ihn, den wütenden Leser und rasenden Schreiber, einige Zeit gekostet, bis er die »condition d'un aveugle« angenommen, bis er sich mit der Bedingung von zwei halbgelähmten Beinen abgefunden hatte — das dauerte, aber dann ist es doch wieder derselbe Sartre, nein, ein anderer, der seine »condition d'un aveugle« so akzeptiert hat wie Jean Genet die »condition d'un voleur«.
Jean Paul Sartre hat sich in 50 Jahren aufgezehrt, im Kampf der Menschen und Gruppen gegen die Institutionen. Die Spuren dieser Anstrengung sind heute zu sehen, auch öffentlich, bei den ganz wenigen Gelegenheiten, wo er öffentlich auftritt; er spricht stockend, langsam, mit großen Pausen — dennoch klar, Iuzid. Er lacht amüsiert, als ich ihn darauf anspreche, daß er 1979 mit seinem Gegner Raymond Aron gemeinsam an einer politischen Initiative teilnehme: Er freut sich, daß ihm schon wieder eine Überraschung gelungen ist. Denn im Pariser Hotel Lutetia saß er am 21. Juni bei einer Pressekonferenz der Aktion »Un bateau pour le Vietnam« direkt neben André Glucksmann, der den leisen Puffer zu Raymond Aron bildete. Sartre [S. 1209] gab Aron öffentlich die Hand, den er früher einmal einen »antikommunistischen Hund« genannt hatte, mit dem er nie mehr etwas zu tun haben wolle.[2]
Jean Paul Sartre 1979 — da ist ein umfänglicher neuer Band erschienen, der sich bescheiden eine Zeitschrift nennt: »Obliques«, Numero Spécial 18-19, herausgegeben von Michel Sicard; mit einigen unveröffentlichten Arbeiten, 383 großformatige Seiten, beinahe zu unhandlich zum Lesen, darin auch der Teil einer größeren Arbeit über Mallarmé (»L'engagement de Mallarmé«), die lange Zeit als verschollen galt. Außerdem wurde ein weiterer Manuskriptberg gefunden, Vorstudien zum geplanten zweiten Band der »Critique de la Raison Dialectique«: zwei große Kapitel, Studien über Stalin und Trotzki waren abgeschlossen, eine Veröffentlichung soll aber erst posthum erfolgen, wie mir Pierre Victor, der junge Freund Sartres und ehemalige Maoistenchef, erzählte — Victor darf als einziger in diese Manuskripte Einsicht nehmen. 1979 wurde auch das mehrhundertseitige Drehbuch Sartres für den Freud-Film wiedergefunden, den John Huston ja dann ganz ohne und gegen dieses Drehbuch gemacht hat. 1979 schließlich gab Sartre öffentlich bekannt, daß ihn der Wahlkampf zum Europa-Parlament, zum ersten direktgewählten, nicht interessiere; daß ihn eine »Achse Bonn—Washington« beunruhige und daß er ein »deutsches Prokonsulat über Europa« befürchte.[3]
Er war und ist ein radikal humanistischer Denker; an seiner Intention und Perspektive wagt eigentlich niemand mehr zu zweifeln. Bis heute auch hat er den Verführungen des Weltruhms widerstanden; er gehört weder zur großen Pariser Society, noch zu den »Unsterblichen« der »Académie Française«. Es würde auch keiner mehr darauf kommen, ihn dorthin einzuladen — so eindeutig hat sich Sartre von derlei repräsentativen Institutionen distanziert. 1964 wollte Sartre nicht vom Nobelpreis verschlungen werden. Er wollte die seinen Beruf konstituierende Unabhängigkeit nicht den Gefährdungen durch irgendeine Institution aussetzen.[4] Es ist ihm gelungen, diese Position durchzuhalten — und dies hat ihn nicht einmal viel Anstrengung gekostet. Dennoch ist er dem Dilemma des Marktes nicht entgangen, auf dem auch der Nonkonformismus seinen Wert hat. Der Ruf desjenigen, der den [S. 1210] Nobelpreis abzulehnen wagte, stand für die Werbeagenturen im Zweifelsfall noch höher als der des Preisträgers ...
Nie hat er sich aber vom Pragmatismus und Positivismus verführen lassen. In einem seiner schönsten, menschlich bewegendsten Texte, dem Nachruf auf den ehemaligen Freund Albert Camus, hieß es: »Er stellte in unserem Jahrhundert, und zwar gegen die Geschichte, den wahren Erben jener langen Ahnenreihe von Moralisten dar, deren Werke vielleicht das Echteste und Ursprünglichste an der ganzen französischen Literatur sind. Sein eigensinniger Humanismus, in seiner Enge ebenso nüchtern wie sinnlich, stand in einem schmerzlichen Kampf gegen die wuchtigen und gestaltlosen Ereignisse der Gegenwart. Umgekehrt aber bekräftigte er durch die Hartnäckigkeit seiner Weigerung von neuem das Vorhandensein des Moralischen (le fait moral), mitten in unserer Epoche, entgegen allen Macchiavellisten [sic!] und dem goldenen Kalb des Realismus zum Trotz.«[5] Auf ganz anderen Feldern kämpfend wirkte Sartre auf die lebende Generation ebenso als »Erbe jener langen Ahnenreihe von Moralisten«; er engagierte sich zwar stärker und ungezügelter in der aktuellen Politik, aber er verweigerte sich den stärkeren, den Bataillonen der Institution. Auch Sartre stellte unaufhörlich das politische Handeln in Frage, insofern er immer wieder Probleme der politischen Ethik reflektierte.
Wie das folgende Interview zeigt (es wurde in Sartres Wohnung am 7. Juni 1979 aufgenommen), hat er seine Ideen zur Ethik noch radikalisiert. Kam es ihm früher (zumal in den fünfziger Jahren) noch darauf an, bei einer Aktion den politischen Kontext zu bedenken, falschen Beifall auszuschließen — so gilt jetzt nur noch als Notwendigkeit, die Wahrheit zu sagen. Seine Abrechnung mit dem etatistischen Sozialismus, nach der Niederschlagung des Prager Sozialismus, hat diese neue Phase eröffnet.[6] Es kommt in den Antworten, die Sartre jetzt auf die berühmte Kantische Frage gibt: »Was soll ich tun?« — das Moment einer fast christlichen Unbedingtheit hinzu, die über die Position hinausgeht, welche Sartre kurz nach dem Kriege in einem seiner bekanntesten und mißverständlichsten Texte, dem Vortrag »Der Existentialismus ist ein Humanismus«, formuliert hatte. Unsere Verantwortlichkeit »bindet die ganze Menschheit«, erklärte Sartre damals: »Der Mensch, der sich bindet und der sich Rechenschaft gibt, daß er nicht nur der ist, den er wählt, sondern außerdem ein Gesetzgeber, der gleichzeitig mit sich die ganze Menschheit wählt, kann dem Gefühl seiner vollen und tiefen Verantwortlichkeit schwerlich entrinnen.« Was immer er getan, geschrieben, erklärt hat, Sartre war sich stets bewußt, daß er die »ganze Menschheit verpflichtet«. Das macht seine Identität aus, bei allem äußeren Anschein von Diskontinuität: immer war sich der Autor, der Philosoph, der Dramatiker, der Leitartikler Jean-Paul Sartre dieser »vollen und tiefen Verantwortlichkeit« klar bewußt. Es ist zu früh, sich daran zu erinnern, denn er wirkt unter uns fort. Und wir dürfen mit Spannung das Buch erwarten, das er gegenwärtig mit Pierre Victor vorbereitet und das das Versprechen der großen Politischen Moral erfüllen soll.
Rupert Neudeck
[S. 1211] Simone de Beauvoir hat mehrfach gesagt, daß Sie äußerst ungern auf ihren [sic!] Lebensweg zurückblicken, daß Sie solchen Rekapitulationen ganz abgeneigt sind. Dennoch möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine kleine Lücke in Ihrer Biographie lenken, eine Lücke, die nicht einmal Ihre beiden fleißigen Bio-Bibliographen Michel Contat und Michel Rybalka schließen konnten. Was haben Sie damals in Berlin gemacht, wo sie ein Jahr als Stipendiat des Institut Français lebten? Wie kamen Sie mit den Nazis in Berührung, die ja gerade an die Macht gekommen waren?
Ich habe in diesem Jahr die »Ideen« von Edmund Husserl gelesen. Ich konnte damals genug deutsch, um das Buch zu lesen, aber ich hatte große Schwierigkeiten. Ich hatte Deutsch gelernt, auch durch meinen Großvater, aber ich war nie ein guter »Germanist«. Aber immerhin, ich konnte damals wirklich deutsch sprechen. Merkwürdigerweise habe ich diese Fähigkeit ganz verloren.
Sie können nicht mehr deutsch sprechen?
Ich habe alles von dieser Sprache verloren. Ich war nicht mehr in Deutschland seit 1948.[7] In dem Jahr war ich in Berlin und habe einen öffentlichen Vortrag gehalten[8]. Ich habe damals französisch gesprochen, und man fragte mich deutsch. Das war 1948 — was mir ganz merkwürdig erscheint, weil ich heute keine deutschen Fragen mehr beantworten könnte. Weil ich das Berlin von 1933/34 kannte, sah ich, wie total zerstört die Stadt am Kriegsende war. Ich war auf dem Kurfürstendamm und suchte das Haus zu finden, in dem ich damals gewohnt hatte; dies Haus war außerordentlich beschädigt. — Damals, in Berlin 1933/34, las ich also die »Ideen« von Husserl von Anfang bis zum Ende. Ich eroberte mir damals auch Berlin. Ich arbeitete an den Vormittagen bis gegen 13 Uhr. Am Nachmittag ging ich aus dem Haus, promenierte durch die Stadt, ging irgendwohin zum Essen, sei es auf dem Kurfürstendamm, sei es auf der Friedrichstraße. [Sartre spricht die deutschen Straßennamen ohne Zögern aus.] Ich bin sehr viel durch dieses Berlin gelaufen, ich kannte die Stadt sehr gut, ich habe sie auch sehr geliebt — jetzt, beim Wiedersehen 1948, war sie total zerstört.
Hatten Sie irgendwelche Vorlesungen oder Seminare an der Universität belegt?
Nein, ich hatte nichts belegt an der Universität, ich habe einfach nur die Bücher gelesen, das war für mich genug. Ich ging also immer nach dem Essen spazieren bis etwa um 17 Uhr nachmittags. Um 5 Uhr kam ich ins Institut zurück, wo ich dann noch bis um 8 Uhr abends arbeitete. Dann haben wir im Institut Français zu Abend gegessen.
[S. 1212] Das war ja auch die Zeit, als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen?
Ja, die Nazis waren gerade an die Macht gekommen. Man sah sie in den Straßen, die SS und SA. Sie machten andauernd Aufmärsche. Ich habe an Veranstaltungen der Nazis teilgenommen, auf denen über die Mitgliedschaft im Völkerbund »abgestimmt« wurde. Es war der Augenblick, da die Nazis sich aus dem Völkerbund zurückzogen. Es gab nur die Frage, ob die Leute damit einverstanden waren — und die Leute waren meist einverstanden. Ich habe oft in einem Café, damals ein großer, internationaler Treffpunkt auf dem Kurfürstendamm, gesessen, ich weiß den Namen nicht mehr ...
Das Romanische Café?[9]
Mag sein. Aber es begann zu dieser Zeit schon zu verwaisen. Ich ging sehr oft dahin, um etwas zu essen oder zu trinken. Ich war in diesem Café und in diesem Viertel am Vorabend des Mordes an jenem Soldaten, der Hitlers Assistent gewesen war [Sartre denkt lange über den Namen nach: sagt, es sei ein großer und dicker Mann gewesen, »der von Hitler gefangengesetzt worden war«, der »Chef der SA«] — Röhm. Ich war an diesem Tag auf dem Kurfürstendamm: es herrschte der Terror, den ich hier zum ersten Mal kennenlernte. Es gab nur ganz wenige Menschen auf der Straße, und diese wenigen schlichen an den Häuserwänden entlang. Diese Situation war merkwürdig. Das Ereignis war ein Vorgeschmack darauf, was die Nazi-Herrschaft werden sollte.
Waren Sie sich eigentlich in diesem Berliner Jahr der Möglichkeit bewußt, daß die Nazis zu einer tödlichen Gefahr für Europa werden könnten?
Ich dachte schon damals, daß sie eine solche Gefahr waren. Aber ich wußte nicht, daß der Krieg so schnell kommen würde — fünf Jahre später befanden wir uns ja schon in der kriegerischen Auseinandersetzung mit Hitler-Deutschland. Das konnte ich nicht wissen.
Haben Sie in der Berliner Zeit neben Husserl auch Martin Heidegger oder Karl Jaspers gelesen?
Jaspers kannte ich nur bedingt. Ich hatte einiges gelesen, ihn aber nicht studiert. Ich war eben in diesem Berliner Jahr vor allem mit Husserl beschäftigt. Auch Heidegger lernte ich erst später kennen, vor allem in der Zeit, wo ich in Deutschland Kriegsgefangener war, 1939. Damals hat man mir im Kriegsgefangenenlager, Stalag XII bei Trier ein Exemplar von »Sein und Zeit« geliehen, so daß ich es lesen konnte, im deutschen Original.
Haben Sie auch die auf »Sein und Zeit« folgenden Werke gelesen? Was dachten Sie dazu — vor allem zu den Arbeiten nach Heideggers »Kehre«?
[S. 1213] Ich habe Heidegger immer weniger verfolgt. Nach »Sein und Zeit« gab es Tendenzen in seinem Denken, die ich nur schlecht begreifen konnte. Seine Konzeption der Wahrheit unterschied sich von der meinen. Dieses Denken interessierte mich dann auch deshalb nicht mehr, weil ich nach dem Krieg ein politisch engagierter Schriftsteller geworden war.
Sie haben Heidegger nach dem Kriege einmal getroffen?
Es gab ein Kolloquium in Freiburg, an dem wir beide teilnahmen. Danach sind wir zu Heideggers Hütte hinaufgestiegen. Ich blieb zwei Stunden bei ihm, in denen wir aber kaum über philosophische Themen gesprochen haben. Vor allem war Heidegger wütend auf Gabriel Marcel. Marcel hatte ein Theaterstück geschrieben, dessen Hauptperson Heidegger darstellte. In dieser Dramenfigur wurde sein Denken lächerlich gemacht. Ich konnte ihn beruhigen, ich sagte ihm, daß dies ein Schriftsteller ohne Bedeutung sei.
In einigen Büchern über Sie wird behauptet, Sie hätten damals das Gespräch mit Heidegger abgebrochen und wären abgereist?
Das stimmt ganz und gar nicht. Ich war sehr froh, ihn zu sehen und zu sprechen. Er war sehr freundlich zu mir. Es gab da natürlich wirklich ein Problem. Heidegger war am Anfang der Nazi-Herrschaft ein Nazi gewesen. In den »Temps Modernes« hatte es eine Diskussion darüber gegeben, und die Mehrzahl der Teilnehmer an dieser Diskussion war der Meinung, daß Heidegger zwar eine Zeitlang unter dem Titel »Nazi« gelaufen war, daß er aber in seinem Denken, in seinem philosophischen System nie Nazi gewesen war. Auch ich war damals dieser Meinung, habe diese Meinung aber im Lauf der Jahre geändert. Damals haben wir uns jedenfalls angenehm unterhalten. Ich bewahre allerdings nichts in meinem Gedächtnis, was mir eine wesentliche Erinnerung an ihn zu sein scheint.
*
Sie schreiben gegenwärtig zusammen mit Pierre Victor eine neue, umfangreiche, politisch-philosophische Abhandlung, die im nächsten Jahr unter dem Titel »Pouvoir et Liberté« herauskommen soll. Kann man bei Ihrer gegenwärtigen condition de vie sagen, daß Sie dieses Buch »schreiben«?
Ich schreibe nicht mehr, ich kann auch nicht lesen, meine Augen erlauben mir beides nicht mehr. Was ich jetzt noch machen kann, ist: auf ein Tonband zu diktieren. Wir machen das zu zweit. Wir versuchen gemeinsam ein philosophisches Thema zu behandeln. Den Titel »Pouvoir et Liberté« haben wir aufgegeben; wir entwickeln den Ausgangspunkt einer Ethik, wir versuchen herauszufinden, wo eine Ethik beginnt und wo sie aufhört.
Eine Ethik zu schreiben, ist ein aller Plan von Ihnen. Schon 1943 — als Sie [S. 1214] »L'Etre et le Néant« veröffentlichten — haben Sie dem Hauptteil des Buches ein Kapitel angefügt, das »Ethische Perspektiven« aufriß und in dem es hieß: »Die Ontologie kann keine ethischen Vorschriften erlassen. Sie beschäftigt sich einzig und allein mit dem, was ist, und es ist nicht möglich, aus ihren Indikativen Imperative abzuleiten. Sie gestattet indessen eine Mutmaßung, wie eine Ethik aussehen könnte, die sich ihrer Verantwortlichkeit angesichts einer menschlichen Realität in der Situation bewußt ist.« Und. Sie kündigen am Schluß von »L'Etre et le Néant« an, daß Sie den Ethik-Fragen Ihr »nächstes Buch« widmen werden.
Das ist richtig. Eigentlich habe ich immer eine Moral schreiben wollen. Und jetzt schreibe ich sie auch. Aber ich muß es genauer sagen: sie wird zu zweit geschrieben, das heißt wir, Pierre Victor und ich, veröffentlichen nicht unsere persönlichen Ideen, wir stellen unsere Ideen einander gegenüber, konfrontieren sie, Ideen, die sich manchmal widersprechen und die manchmal übereinstimmen. Wenn diese Gedanken sich entsprechen, dann sind es unsere gemeinsam erarbeiteten Ideen, was etwas grundsätzlich anderes als der Gedanke eines einzelnen ist. Jeder Gedanke in diesem Buch erscheint unter zwei Aspekten: dem Aspekt Pierre Victors und dem meinen.
Dann ist dies gemeinsame Schreiben eine Form des Dialogs?
Es ist ein Dialog, der — während er fortfährt, Dialog zu bleiben — an manchen Stellen eine Gemeinsamkeit der Gedanken konstituiert, weil sie für Pierre und mich die gleichen sind: die gleichen, aber nicht dieselben, weil sie zur selben Zeit auch wieder unterschiedlich sein können für uns beide.
Schreiben im traditionellen Sinn heißt doch: in der Einsamkeit schreiben. Ist diese neue Schreibweise, das gemeinsame Entwickeln von Gedanken etwas ganz anderes, etwas qualitativ Neues? Oder ist es der klassischen Schreib-Methode, mit Abstrichen, äquivalent?
Nein, diese Methode ist eine ganz andere. Es handelt sich von Anfang an um ein kollektives Verfahren, und das Produkt ist deshalb von vornherein in sich selber sozial. Der Gedanke hat nicht diesen individuellen Charakter, den das einsam geschriebene Wort auf dem Papier hat.
Welche Vorteile sehen Sie in dieser Schreibweise, für die Sie sich ja nicht frei entschieden haben?
Ich sehe Vorteile, aber nicht nur Vorteile. Das gemeinsame Schreiben eines Romans zum Beispiel würde große Schwierigkeiten bringen. Auch ein Theaterstück oder ein Essay können wohl nur von einem allein geschrieben werden. Aber wenn es um ein Denken geht, das wir ausdrücklich als gemeinsames wollen, dann handelt es sich nicht länger um die Idee in einem einzigen [S.1215] Kopf, sondern um Gedanken, die von zweien entwickelt wurden und von Anfang an verbunden sind durch den Pakt zweier Schriftsteller. Das ist wirklich etwas grundlegend Neues. Denn diese Ideen kann auch der Leser in seinem Geist noch anders weiterentwickeln, wenn man das Buch geschlossen hat. Es handelt sich um eine Kollektiv-Idee, sie muß als ein Ganzes gedacht werden, als ein Inhalt, der sich nicht bei der ersten Lektüre erschließt, weil er zwei Autoren gehört.
In dem großen Interview »L'Écriture et la Publication«, das Michel Sicard mit Ihnen geführt hat und das jetzt in »Obliques« publiziert wurde, erklären Sie, daß Sie Ihre Manuskripte niemals mit der Schreibmaschine geschrieben haben, obwohl Sie Geräte sehr wohl benutzen können — wie Sie auch glänzend Piano spielen.
Ich kann nicht auf der Schreibmaschine schreiben. Es ist nicht meine Aufgabe, mich dieser festgefügten, objektiven Lettern der Schreibmaschine zu bedienen. Das ist eine Aufgabe für andere, deren Beruf es ist: also des Setzers, des Druckers. Meine Arbeit ist beendet, wenn ich meine eigenen Buchstaben mit der Hand geschrieben habe. Diese handgeschriebenen Buchstaben bewahren einen ganz bestimmten subjektiven Charakter, sie sind in ganz besonderer Art geformt, damit sie objektive Sätze hervorbringen können. Das ist die Mischung von Subjekt und Objekt, zu der ich als Autor gelangt bin. Alle anderen Schreibäußerungen sind für mich nicht die eines Schriftstellers. Halten Sie fest, daß ich das sage, und daß viele französische Autoren darin mit mir übereinstimmen. Aber in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik, nun auch schon in Frankreich und Italien benutzen viele Autoren die Schreibmaschine. Vor allem in Amerika habe ich Schriftsteller kennengelernt, die ihre Manuskripte auf der Schreibmaschine tippten, z. B. Hemingway. Für mich enthält dies Verfahren (mit der Hand zu schreiben) die Anstrengung des Stils. Der Stil ist für mich etwas, das man sich selbst abringt, das man freisetzt aus sich heraus, als subjektiven aber auch als objektiven Teil, und das ist etwas, was man mit der Hand hervorbringt, mit der Hand versteht und macht.
*
Sie schreiben in »L'Idiot de la Famille«, den Schriftsteller Flaubert habe oft »une phobie de la page blanche« ergriffen. Haben Sie jemals in Ihrem Leben eine solche Furcht vor dem weißen, leeren Blatt auf Ihrem Schreibtisch gespürt?
Niemals. Ich kenne Schriftsteller, die eine solche Angst empfinden, ich habe sie nie gespürt. Wenn ich mich an meinen Tisch setzte, hatte ich immer etwas zu sagen und zu schreiben, und ich schrieb. Sicher, was ich schrieb, war dann gut oder schlecht, und es konnte sein, daß ich am nächsten Tag neu be[S. 1216]ginnen, neue Worte finden, korrigieren, es umändern mußte. Aber vor einem weißen Blatt zu sitzen, ohne daß ich ein Wort fände, das ist mir nie passiert.
Das bedeutet auch, daß es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen Ihnen und diesem Gustave Flaubert, dem Sie bis in alle Falten seiner Biographie gefolgt sind. Sie schreiben in »L'Idiot de la Famille« auch über Flauberts »intention d'échouer«, seinen Willen und seine Absicht zu scheitern. Auch hierin sind Sie der ganz Andere. Sicher, es gibt in Ihrem Leben Momente des Scheiterns, aber hatten Sie nie einen heimlichen oder gar ausgeprägten Wunsch zu scheitern?
Ganz sicher gab es in meinem Leben Niederlagen, wie bei allen Menschen. Diese Niederlagen ergaben sich, wenn ich bei einer Aktion Erfolg haben wollte, aber auf große äußere Hindernisse stieß. Aber ich hatte niemals das Verlangen, eine Aktion aufzuschieben oder keinen Erfolg dabei zu haben. Ich hatte immer den Wunsch, die Aktion möge mir gelingen und ich traf alle Vorkehrungen. Aber manchmal ist die Wirklichkeit nicht zu beeinflussen.
Es gibt eine Kritik an Ihrem schriftstellerischen Werk und politischem Engagement, die die relative Diskontinuität Ihrer Stellungnahmen und Haltungen herausstellt. Einmal waren Sie »compagnon de route« der Kommunisten; dann wurden Sie ein entschiedener Gegner des »Sozialismus, der aus der Kälte kam«, wie Sie 1969 in einem großen Essay schrieben.
Nein, mir leuchtet diese Kritik ganz und gar nicht ein. Ich bin der Ansicht, daß meine einzelnen Bücher nicht mehr für sich, aber doch als Teil eines Ganzen gültig sind, von »La Nausée« bis zu »L'Idiot de la Famille«. Alle diese Publikationen gingen in dieselbe Richtung. Ich war seinerzeit in einem ganz bestimmten Moment mit den Kommunisten verbündet, und das aus ganz bestimmten Gründen der französischen Politik, etwa von 1952 bis zur Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956. Dies »Bündnis« galt auch nur für ganz bestimmte Themenfelder. Ich hatte nicht die Absicht, das, was ich dachte, zu ändern, um bedingungsloser Alliierter der kommunistischen Partei zu werden. Und als die Sowjets in Ungarn einfielen, war es mit diesem Bündnis zu Ende.
Ihre Position gegenüber dem Staat und den staatlichen Institutionen war immer klar. Man hat auf Grund der Lektüre Ihrer Bücher und Stellungnahmen den Eindruck, daß Sie ein Anarchist sind — im philosophischen, nicht im. vulgär-aktuellen Sinn dieses Wortes, wie er sich in der Bundesrepublik eingenistet hat. Es scheint, Sie verneinen ganz unbedingt und allgemein den Staat, halten ihn für schädlich in bezug auf die Entwicklung der Menschen und. der Gruppen.
Der Mensch, so wie er ist, das heißt als ein freier Mensch, soll in überhaupt [S. 1217] keiner Weise von einer Macht regiert werden, die nicht von ihm kommt. Das war es, worauf man sich geeinigt hatte, als man die Demokratie begründete. Aber die Demokratie, so wie wir sie heute kennen, bedeutet, daß die Macht von einer sehr kleinen Gruppe über die überwältigende Mehrheit der Menschen ausgeübt wird. Diese Demokratie ist also eine Form, die Menschen zu brechen, wie schon das Königtum und die Aristokratie. Den Menschen wird eine bestimmte Lebens- und Existenzweise aufgezwungen, sie müssen so oder so sein, und das unter Strafandrohung. Man ist verpflichtet, das zu tun, was die Institutionen fordern. Die Institutionen sind aber immer die Erfindung einer bestimmten kleinen Gruppe, von Spezialisten, von einer oder von zwei parlamentarischen Kammern usw. Sie befestigen die Institutionen durch Gesetze. Unter diesen Bedingungen sind es Unterdrückungsapparate, Zwangseinrichtungen für die Menschen, die sich unterordnen müssen, wenn sie die Gesellschaft bestehen wollen. Und die Gesellschaft bleibt ein Zwangsverband, solange es diese Institutionen gibt, die von einer Minderheit gegründet und bestimmt werden.
Das heißt also: nicht in dieser Richtung darf sich eine Gesellschaft entwickeln, die frei sein will und in der jedes Mitglied dieser Gesellschaft frei sein soll. Und dieser Begriff von Freiheit meint nicht die Freiheit der Demokratie, sondern die Freiheit in einem metaphysischen Sinn. Das ist die Realität des Menschen, seine Art zu handeln. Wenn also eine Gesellschaft sich auf die wirkliche Freiheit des Menschen stützen soll, kann sie sich nicht im Rahmen des Staates, im Rahmen der bürgerlichen Demokratie — wie sie sich konstituiert hat — organisieren, die Freiheitsbeschränkungen vorsieht, weil Gesetze respektiert werden müssen. Die Menschen müssen sich in Gruppen an ihrem Arbeitsplatz oder ihren Wohnorten zusammentun; diese Berufs- oder Wohngruppen müssen sich beständig abstimmen, sie müssen sich einig werden über eine bestimmte Anzahl von Praktiken, die andere Gruppen der Gesellschaft gleichermaßen akzeptieren können. Diese Abstimmungsergebnisse sind keine Gesetze, sondern die Bestimmungen, die freie Menschen ihrem Handeln geben. Und dabei gibt es keine kleine Gruppe, die diese Aktionen überwacht, damit man konform zu den Institutionen handelt, wie es heute die Praxis ist. In Wahrheit gäbe es dann keine Regierung mehr, sondern nur noch Entscheidungen, die aus den einzelnen Gruppen kommen und die Gruppe repräsentieren. Die Gruppe hat mich in ein Zentrum entsandt, wo alle Gruppen und Personen derselben Ordnung versammelt sind, die übrigens nicht freie Personen sind und ganz nach ihrer Freiheit entscheiden, sondern ein klar umrissenes Mandat haben und diesen Auftrag, den die Gruppe ihnen gegeben hat, ausführen müssen. Das ist eine vollkommen andere Methode als die, nach der jemand in eine parlamentarische Kammer entsandt wird, wohin man Menschen schickt, die vor einer Versammlung schöne Reden halten und einen Plan erläutern können, der nicht direkt dem Willen dieser Gruppe [S. 1218] entsprungen ist; der von Spezialisten ausgeheckt worden ist und den anderen nur vorgestellt wird, damit sie ihn billigen. Dies ist eine Entfremdung. Daß man sie über ein Programm abstimmen läßt, das sie nicht selbst entwickelt haben, schon das ist eine ganz tiefe Entfremdung. So ist die aktuelle Demokratie eine entfremdete Demokratie, worin die Menschen nicht für ihre Freiheit votieren, sondern immer nur für die Sklaverei. Was man realisieren muß, das sind solche Gruppen, die selbst ihre Probleme angehen; die sich den Problemen stellen, die ihnen von außen kommen; die selbst für sich entscheiden, wie in dieser oder jener Katastrophe diese oder jene Arbeit organisiert werden muß, damit man in bestimmten Verhältnissen leben kann. Und die versuchen müssen, ihre Entscheidungen der Gesamtheit der Bürger verständlich zu machen, ihre Bedürfnisse verständlich zu machen, und die Art, wie die Gesellschaft auf diese Bedürfnisse reagiert. Das erfordert Beauftragte, aber keine Regierungschefs. Die Entscheidungen eines Chefs, des Angehörigen einer Elite, diese Entscheidungen haben keinen Sinn, weil sie nicht von allen getroffen wurden. In dieser Richtung versuche ich mir die Politik in einer direkten Demokratie vorzustellen.
Obwohl Sie in dieser Haltung zum Staat und den staatlichen Institutionen so klar sind, habe ich mich oft gefragt, und ich frage es mich heute noch: Sie sind der kommunistischen Partei ja sehr nahe gewesen; Sie haben gesagt, daß die Partei über eine »außerordentliche Intelligenz« verfüge; aber war es nicht damals schon klar, daß es sich bei dem sowjetischen um einen etatistischen Sozialismus handelt?
Es gab eine Annäherung, die aber nicht von Dauer war. Die Ereignisse in Ungarn und in der Tschechoslowakei haben mich ganz von der Partei abgebracht, die ich übrigens seinerzeit als einen Alliierten auf der Suche nach der Freiheit verstand und nicht als die wahrheitstragende Partei, die man unterstützen muß. Und dann war ich damals, zur Zeit des ungarischen Aufstands, gerade in der Sowjetunion, ich habe die Politiker der Sowjetunion gesehen, die mir sofort tiefen Abscheu einflößten. Ich war damals oft in der Sowjetunion, weil ich viele Freunde dort hatte, allerdings waren das private Freundschaften, mit Schriftstellern.[10] Aber die Politiker, die ich dort sah, flößten mir nur Abscheu ein. Das war für mich eine Erfahrung, die ich ohne Einverständnis machte, und die von Mal zu Mal finsterer wurde. Bis zu dem Moment, wo ich mich ganz abwandte. Nikita Chruschtschow selbst hatte mich mit anderen Schriftstellern deutscher und französischer Sprache auf seiner Datscha am Schwarzen Meer empfangen.[11] Er widerte uns an. Er sagte ganz stolz: das war ich, der den Befehl gegeben hat, in Ungarn einzumarschieren.
Aber Sie haben doch erst nach der Okkupation der Tschechoslowakei mit der kommunistischen Bewegung gebrochen?
[S. 1219] Ja, das war der Punkt, an dem ich nicht mehr zurückkehren wollte.
Es war also nicht der Aufstand in Ungarn, der Sie zum Bruch veranlaßte, es waren die Ereignisse in der Tschechoslowakei?
Ja, das waren vor allem die Ereignisse in der Tschechoslowakei. Das hatte übrigens vor allem emotionale Gründe. Weil ich sehr viel Freunde in der Tschechoslowakei hatte und daher sehr viele Sympathien mit dem Land. Man hatte mir das Land gezeigt[12], und es war ganz deutlich, daß der Sozialismus etwas anderes geworden war während der Revolution. Die Revolution der Tschechen war ein Aufstand gegen die Sowjetunion und zugleich ein Aufstand für den Kommunismus. Man hat damals Gerüchte ausgestreut, die Amerikaner hätten interveniert, verkleidete Truppen seien eingebrochen. Man hat mir auch diese Lügen erzählt. In Wahrheit wollte man ernsthaft den Sozialismus, aber man wollte ihn gerecht und frei; das war es, was die Russen nicht tolerieren konnten und wollten. Deshalb haben sie interveniert, weil sie in ihrem Bereich kein Land dulden wollten, das einen anderen Sozialismus als den ihren vertrat, einen Sozialismus, der auf der Freiheit der Menschen gegründet ist; das konnte dem Staatssozialismus nicht gefallen, der auf die Macht der Russen gegründet ist.
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Sie haben sich schon sehr früh mit der »jüdischen Frage« auseinandergesetzt, haben 1945 in »Les Temps modernes« das »Portrait de l'Antisémite« publiziert, dann ein Jahr später die Schrift »Réflexions sur la Question juive« verfaßt. Sie haben nie die rigorose Position der Linken akzeptiert, die sich ganz und bedingungslos auf die Seite der Palästinenser und der PLO schlugen. Sie waren in einem schweren Konflikt, insofern Sie sich sowohl der einen wie der anderen Seite zugehörig fühlten — aus jeweils unterschiedlichen Gründen.
Ich war immer Partisan der beiden Positionen, also der Juden und der Palästinenser, was meine Haltung ungeheuer schwierig, manchmal widersprüchlich machte. In dem Maße, in dem die Araber terroristische Akte begingen, war ich gegen ihre Politik, weil mir schien, daß der Terrorismus nicht das Mittel war, das sie verwenden dürften. Ich bin nicht sehr hoffnungsvoll, was jetzt den Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten angeht, ich wäre ruhiger, wenn auch andere arabische Staaten sich diesem Friedenspakt anschließen könnten.
Sind Sie Optimist, was die Zukunft dieses Vertrages und den Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn angeht?
[Nach langem Zögern] Ja, trotz allem bin ich ein Optimist. Ich denke, [S. 1220] daß zwar noch alles zu tun ist, aber man hat ja mit etwas begonnen. Daß dieser Vertrag überhaupt unterzeichnet wurde, ist sehr bedenkenswert. Das übrige wird sich ganz langsam entwickeln, mit vielen Rückschlägen, mit Abwegen und Sackgassen. Aber schließlich ist man jetzt im Friedenszustand. Die Israelis können nach Ägypten gehen, die Ägypter nach Israel. Das ist schon enorm.
Entspricht ein solcher Optimismus Ihrem politischen Denken?
Im allgemeinen ja. Denn ich denke, daß die Politik von Menschen gemacht wird, und daß die Menschen sich nicht zerstören können als Menschen. Es gibt immer etwas Menschliches, das überlebt, unter welchem Regime auch immer. Der Mensch kann sich nicht vollkommen erniedrigen zur Gestalt des »Unter-Menschen«, die wohl die Nazis waren. Es waren ganz bestimmte Menschen, die sich so erniedrigt haben. Es müssen aber immer Menschen übriggeblieben sein, wenn es auch zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine Minderheit gewesen ist. Und in all diesen Geschichtsperioden, in dem Krieg gegen die Nazis, in den Kolonialkriegen, den Kriegen der USA, in all diesen Kriegen hat es über die Kämpfe und Konflikte hinaus auf beiden Seiten etwas gegeben, das menschlich war. Selbst in den Massakern. Und wenn es jetzt nicht mehr um Krieg, sondern um Frieden geht, kommt es vor allem darauf an, den Menschen zu entdecken. Das ist ein ebenso politisches wie moralisches Problem. Meiner Meinung nach kann es nur einen Fortschritt bringen. Vor allem dann, wenn man auf die geschichtliche Entwicklung zurückblickt.
Das heißt: man muß viel Geduld haben?
Man muß Vertrauen haben. Etwas hat sich ereignet, und zwar auf dem Rücken des Bösen. Seit Beginn dieses Jahrhunderts entwickeln sich die Dinge sehr schlecht. Die offizielle Politik ist immer miserabel gemacht worden. Alle unsere Staatsmänner handeln gegen die Massen. Bei ihrem Handeln können sie sich auf bestimmte Personengruppen stützen, aber sie handeln gegen das Interesse der Massen.
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Simone de Beauvoir hat Ihnen in einem Interview vorgeworfen, daß es in Ihren Werken wenige richtige Frauengestalten gibt, die aktiv sind und ihre Umwelt bestimmen. Sie haben geantwortet, dies sei vielleicht deshalb so, weil in ihnen »une espèce de femme« ist.
In meinen Theaterstücken, in den Romanen, treten viele Frauen auf. Trotzdem ist es wahr, daß ich Frauen nicht so ausführlich habe zu Wort kommen lassen wie Männer. Das war ein Fehler.
Sie haben auch die Frauenbewegung nicht mitgetragen?
[S. 1221] Ich bin ganz und gar für diesen Versuch, der Frau den gleichen Platz und die gleichen Rechte in der Gesellschaft einzuräumen. Die Frau hat Anspruch auf alles, was früher nur den Männern gehörte. Aber sie gewinnen gegenwärtig an Raum, die Frauen. Wir haben jetzt sogar eine Frau als englischen Premierminister; es handelt sich um eine konservative Regierung, aber die Frauen haben Erfolge selbst in dieser Gruppe. Ich habe selbst sehr viele Freunde unter den Frauen dieser Bewegung, unter den Feministinnen.
Man sagt von der jungen Generation, daß sie nicht mehr weiß, was sie tun soll, daß sie nur die Leere kennt, nicht mehr den Sinn. Die alte Frage von Lenin bleibt aktuell: »Was tun?«. Was würden Sie den jungen Leuten heute raten?
Ich glaube, es kommt darauf an, daß jeder sein eigenes Leben lebt, nicht nur innerlich, sondern objektiv, in einer Gesellschaft. Oft können wir nicht mehr handeln, weil uns die politischen Kräfte und die Institutionen die Macht gestohlen haben. Deshalb müssen wir uns der Politik wieder zuwenden. Wir müssen uns erneut die Macht nehmen, wir müssen einen wirklichen Schritt auf die Demokratie hin tun. Wir leben noch nicht in einer Demokratie, vor allem nicht in Frankreich, wo uns viele Freiheiten abhanden gekommen sind. Wir müssen die politischen Mächte und die Institutionen zurückweisen, wie sie sich uns gegenwärtig darstellen. Wir sind alle entfremdet, entfremdet von den Institutionen, entfremdet vom Staat, entfremdet von Menschen, die wiederum sich selbst entfremdet sind. Diese Entfremdungsverhältnisse muß man brechen. Man muß versuchen, für sich selbst und für die anderen zu leben. Man muß sich selbst verwirklichen, indem man sich den anderen gibt. Das ist das Wesentliche: eine Aktivität wiederfinden, die zugleich eine Aktivität für die anderen und für uns selbst ist. Dazwischen gibt es keinen wirklichen Unterschied: man verwirklicht sich selbst am besten, indem man für die anderen arbeitet. Und ich sage, daß man die Institutionen zerstören muß, die gegen die wahre Demokratie sind. Und man muß versuchen, für die zu handeln, die in der gegenwärtigen Situation am meisten bedroht und an den Rand gedrängt sind, man muß eine permanente Anstrengung machen, damit die wahre Demokratie existiert. Ich meine die wahre Demokratie und nicht alle die Lügen, mit denen man Demokratie simuliert. Ein Staat, in dem einige Menschen höhergestellt sind als andere, in der eine Minderheit der Mehrheit sagen kann: Tut dies und tut jenes — ist keine Demokratie. Das ist ein autoritärer Staat, kein totalitärer, aber ein autoritärer. Es ist der Staat, in dem wir leben. Und so soll es nicht sein. Wir müssen eine wertvolle Gesellschaft wiederfinden, in der man für die anderen und für sich selbst leben kann. Aber man kann innerhalb der Institutionen nicht zu dieser wertvollen, menschlichen Gesellschaft kommen, nur in der Aktion, in der Ak[S. 1222]tion eines jeden, einer moralischen Aktion übrigens, denn die Aktivität für den anderen ist immer eine moralische Tat.
Aber kann man optimistisch sein, was dies Ziel angeht, wo wir doch wissen, daß die gegenwärtigen Strukturen übermächtig und kaum zu überwinden sind?
[Nach einigem Schweigen] Man muß es versuchen können. Man muß versuchen zu lernen, daß man sein Sein, sein Leben nur suchen kann, indem man für die anderen tätig ist. Darin liegt die Wahrheit. Es gibt keine andere.
[1] »Die Leidenschaft ist die Umkehrung der Leidenschaft des Christus, denn der Mensch richtet sich als Mensch zugrunde, damit Gott entstehe. Aber die Idee Gottes ist widerspruchsvoll, und wir richten uns umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.« So der letzte Absatz von »Das Sein und das Nichts« (deutsche Übersetzung: Karl August Ott. Reinbek: Rowohlt 1962).
[2] François Fetjös [sic; korrekt: François Fejtő] Einschätzung des Ereignisses ist ungerecht: »Der Händedruck vom 21. Juni ist von symbolischer Bedeutung. Denn ganz sicher hat Aron recht, wenn er sagt, nicht er habe sich verändert. Der Archipel Gulag unterminierte das monolithische Selbstvertrauen der Linken, und die alten Götter haben ziemlich regelmäßig versagt … Und indem er sich stark macht für die Menschenrechte und versucht, das grausame Schicksal der Flüchtlinge aus totalitären Staaten zu lindern, macht Sartre einen Fünf-Minuten-vor-zwölf-Versuch, seine Seele und sein Gewissen zu retten.« (»Der Monat«, Heft 3, Oktober/November 1979.) Gerade auch das folgende Interview zeigt, wie Sartre seine politischen Positionen festhält und fortentwickelt.
[3] Sartre ist in dieser Frage ein Bündnis eingegangen mit Vertretern der nicht-kommunistischen Linken, deren Ziele und Imperative irritierend denen gleichen, die die nationalistische Rechte (etwa Michel Dcbré) vertritt. Der linke Publizist Claude Bourdet (wie Sartre Mitglied des internationalen Russell-Tribunals) hat sie in seinem Buch »L'Europe Truquée« (Paris: Editions Seghers 1977) zusammengefaßt.
[4] In seiner ersten Begründung der Ablehnung heißt es: »Ein Schriftsteller, der politische, soziale und literarische Positionen bezieht, sollte dies nur mit den Mitteln tun, die die seinen sind, d. h. dem geschriebenen Wort. Alle Auszeichnungen, die er annehmen könnte, setzen den Leser einer Pression aus, die nicht erwünscht sein kann. Es ist nicht das gleiche, ob ich unterschreibe mit >Jean-Paul Sartre< oder >Jean-Paul Sartre, Nobelpreis<« (»Le Monde«, 24. Oktober 1964.)
[5] Deutsch in dem Band »Porträts und Perspektiven«. Reinbek: Rowohlt 1971.
[6] Der kaum recht bekanntgewordene Artikel »Le Socialisme qui venait du froid« erschien als Vorwort zu dem Buch »Trois Générations« von Antonin Liehm (Paris: Gallimard 1970).
[7] Diese Aussage Sartres ist falsch. Er war nach 1948 noch mehrfach in Deutschland: so 1950 (Vortrag in der Paulskirche in Frankfurt), 1952 (Vortrag in Freiburg i. Br., Besuch Heideggers), 1953 (u.a. in Trier), 1954 (in Ostberlin, später in Süddeutschland), 1972 (Besuch Baaders in Stammheim). [A.B.]
[8] Im Zusammenhang mit der Aufführung von Die Fliegen. Siehe http://sartre.ch/Verger.pdf [A.B.]
[9] Siehe Wikipedia - Romanisches Café: Es befand sich am Standort des heutigen Europa-Centers am Breitscheidplatz/Charlottenburg. [A.B.]
[10] Der Volksaufstand in Ungarn fand im Okt./Nov. 56 statt. Nach seinem ersten Besuch 1954 in der Sowjetunion war Sartre im Herbst 55 nur kurz nach seinem China-Besuch in Moskau. 1956, dem Jahr des Ungarnaufstands, war Sartre nicht in Moskau. Die nächste Reise in die Sowjetunion fand erst 1962 statt. Der Grund für seine nächsten alljährlichen Reisen in die Sowjetunion lag primär in seiner russischen Freundin Lena Zonina. Nach 1956 brach er 1967 ein zweites Mal mit der Sowjetunion – vorerst noch inoffiziell. Der Grund waren die ersten Dissidentenprozesse. Der offizielle Bruch kam mit der Besetzung der Tschechoslowakei und der Unterdrückung des Prager Frühlings 1968. [A.B.]
[11] Der Empfang bei Chruschtschow (u.a. mit Ungaretti, Vigorelli) in Georgien fand am 13.8.63 und in eher schlechter Laune statt, da offensichtliche Maurice Thorez, der Generalsekretär der Französischen Kommunistischen Partei, der fast gleichzeitig bei Chruschtschow zu Besuch war, diesen negativ beeinflusst hatte. [A.B.]
[12] Sartre und Beauvoir besuchten die Tschechoslowakei 1963, wo sie u.a. Jiří Hájek, Milan Kundera und Eduard Goldstücker trafen. Sie befreundeten sich mit Antonín Liehm und Adolf Hoffmeister. Ende Nov. 68, also schon nach der Besatzung, hielt er sich nochmals in der Tschechoslowakei für die Premieren von Les Mouches und Les Mains sales auf. Sartre zeigte früh Sympathien für den Prager Frühling. Schon 1965 veröffentlichten die TM einen Beitrag des führenden tschechischen Wirtschaftsreformers Ota Šik. [A.B.]