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The Sartrean Mind, hg. von Matthew C. Eshleman und Constance L. Mui - Ein Muss für alle Sartre-Forscher.

The Sartrean Mind. Hg. von Matthew C. Eshleman und Constance L. Mui. Routledge: London und New York 2020, 579 S.

 

Mit The Sartrean Mind wurde ein Buch veröffentlicht, das das Potential zu einem Standardwerk für all jene hat, die an Sartres Denken und vor allem seiner Philosophie interessiert sind. Das Buch ist in der Routledge Philosophical Minds-Serie erschienen, wo schon Bände zu Nietzsche, Hume, Rousseau und Kierkegaard herausgegeben wurden.

Schon bisher gab es Leuchttürme, an denen sich alle Sartre-Interessierten orientieren können. Dazu zählen Annie Cohen-Solals Sartre-Biographie, Michel Contats und Michel Rybalkas Übersicht über Sartres Werke (Les Écrits de Sartre) und der von Francois Noudelmann und Philippe Gilles herausgegebene Dictionnaire Sartre. Vor allem im englischsprachigen Raum, der sich einmal mehr als der weltweite Hot Spot für Sartres Philosophie erweist, gibt es noch unzählige weitere Bücher im zweiten Glied wie Gary Coxs The Sartre Dictionary und Christine Daigles Sartre, eine Einführung in Sartres Denken. Doch in Bezug auf den philosophischen Gehalt kommt keines dieser Bücher, auch nicht die zuerst erwähnten Leuchttürme, The Sartrean Mind gleich.

Matt Eshleman und Constance Mui haben 42 Beiträge von Autoren aus unterschiedlichen Ländern gesammelt (darunter auch Autoren aus Deutschland mit Gerhard Preyer und Manfred Frank über Sartre und die zeitgenössische Philosophie des Bewusstseins und Christopher Erhard über Verneinung, Nichtsein und Nichts). Unter den Beiträgern finden sich Schwergewichte der Sartre-Forschung wie Juliette Simont, William McBride, Ronald Aronson, Adrian van den Hoven, Vincent de Coorebyter, Grégory Cormann und David Detmer.

Eingeleitet wird der Band durch Eshlemans Überblick über Sartres Leben. In sieben Kapitel eingeteilt folgen darauf die verschiedenen Beiträge, von denen sich jeder Essay eines besonderen Aspekts von Sartres Denken annimmt. Der Themenbogen in The Sartrean Mind ist nahezu allumfassend. Nur wenig gibt es, das man sich in solch einem Werk noch zusätzlich wünschte (so vielleicht eine Darstellung von Sartres Sozialontologie in der Kritik der dialektischen Vernunft). Der Reigen der Beiträge reicht von Sartre und der transzendentalen Philosophie über Angst und mauvaise foi bis zu Sartre und Merleau-Ponty. In verschiedenen Artikel wird eine hervorragende Zusammenfassung des aktuellen Stands unseres Wissens geboten. Beispielhaft angeführt seien hier die Beiträge von Sorin Baiasu zu Sartre und der transzendentalen Tradition, von Daniel Vanello zu Sartre und den Emotionen, von Constance Mui zu Intersubjektivität und dem Blick, von Katherine Morris zu Sartre und dem Körper oder David Detmer zu Freiheit. Eine besondere Erwähnung hat auch Ron Aronsons Skizze des existentiellen Marxismus verdient, auch wenn ich diesen Begriff für eine contradictio in adiecto halte[1].

Andere Beiträge lenken uns in fundierter Weise auf Aspekte, mit denen selbst viele Sartrianer wenig vertraut sind. Schon der erste Beitrag, Bruce Baughs French Influences, zählt dazu. Auf hervorragende Weise analysiert er den Einfluss von Wahl, Koyré und Lefebvre auf Sartre. Die sind Quellen von Sartres Philosophie, die oft vernachlässigt werden. Matthew Allys Ausführungen zur Logik der Kritik der dialektischen Vernunft stellen die dichotomischen Grundbegriffe ins Zentrum, die diesem von Philosophen so vernachlässigten Werk zugrunde liegen. Einer ganz besonderen Erwähnung würdig ist Grégory Cormanns Beitrag über die historischen Ursprünge von Sartres Begriff der Zeitlichkeit. In erhellender Weise geht Cormann hierin auf die Zeit vor Das Sein und das Nichts ein, als sich die Grundstrukturen von Sartres Philosophie herausbildeten. Sophie Astier-Vezons Übersicht über Sartres Theorie der Ästhetik stellt einen exzellenten Beitrag zu einem philosophischen Gebiet dar, dem im Zusammenhang mit Sartre die verdiente Aufmerksamkeit bisher nicht zuteilwurde. Auch die beiden Beiträge über Sartre und Négritude von Bennetta Jules-Rosette und über Sartres Einfluss auf den schwarzen Existentialismus von Lewis Gordon verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden.

Leider gibt es auch einige wenige Beiträge, die das insgesamt hohe Niveau der Beiträge nicht erreichen. David Shermans Beitrag über die deutschen Einflüsse auf Sartre beschränkt sich im Wesentlichen auf die drei H’s (Hegel, Husserl, Heidegger) und Marx. Nietzsche, Dilthey und vor allem Jaspers fehlen ebenso sehr wie die deutschen Psychologen. Stuart Charmé erwähnt zwar in seinem Essay über die existentielle Psychoanalyse kurz Binswanger, Boss, Frankl und May, nur um diese dann zugunsten von Freud und Erik Erikson links liegen zu lassen. Alfred Adlers Name fehlt erstaunlicherweise in diesem Zusammenhang sogar vollständig. Am unbefriedigendsten sind der Artikel von T. Storm Heter über Sartre und Anarchismus und jener von Peter Poellner über Sartre und Metaethik. Beiden scheinen Sartres für diese Fragestellungen entscheidenden Werke unbekannt zu sein: die Interviews der 1970er Jahren, in denen Sartre die Grundzüge seiner überhaupt ersten politischen Philosophie, einer anarchistischen, darlegte, und Sartres Werke über Ethik aus den 1960er Jahren, Les racines de l’éthique und Morale et histoire, in denen sich Sartre statt als normativen Ethiker neu als Metaethiker zeigte.

Doch im Vergleich zur Masse der übrigen qualitativ hervorragenden Beiträge können diese weniger gelungenen Ausführungen den Gesamteindruck des Buchs nicht schmälern. The Sartrean Mind ist ein würdiger Nachfolger des von Paul Arthur Schilpp schon 1981 in der Reihe The Library of Living Philosophers erschienenen Werks The Philosophy of Jean-Paul Sartre. The Sartrean Mind ist ein Standardwerk, das für jede Bibliothek mit Werken über Sartres Philosophie ein absolutes Muss darstellt – einfach unverzichtbar. Der Preis von fast 160 € (auf Amazon) für die Printversion wird jedoch dazu führen, dass es wohl primär öffentliche Bibliotheken sein werden, die sich das Buch kaufen. Mit 30 € in der Kindle Version ist es jedoch schon fast ein Schnäppchen – jetzt müssen sich die Philosophen nur noch dem Trend in den Naturwissenschaften anschließen, dass die elektronische Art der Veröffentlichung kein Zeichen niedrigerer Qualität, sondern einfach state of the art ist.

 

Alfred Betschart, 21.3.2020



[1] Siehe Alfred Betschart: «Sartre was not a Marxist». In: Sartre Studies International, 2019, 25 (2), S. 77-91.