Marcel
Siegler: Needful Structures: The Dialectics of Action, Technology, and
Society in Sartre’s Later Philosophy
Marcel Siegler, Needful Structures: The
Dialectics of Action, Technology, and Society in Sartre’s Later Philosophy.
Bielefeld: transcript publishing, 2023, 209 S. ISBN: 978-3-8376-6282-5. € 37.36
(Paperback).
Der Kritik der dialektischen Vernunft (KDV) war kein großer Erfolg beschieden. Ihr Verleger in den Vereinigten Staaten, die University of Chicago Press, beschreibt es als ein Werk, das „weitgehend vernachlässigt wurde“ – obwohl die KDV mit Ausnahme von Italien nirgendwo so umfassend rezipiert wurde wie in den Vereinigten Staaten. William McBride, Thomas R. Flynn, Joseph S. Catalano und in jüngerer Zeit Elizabeth Butterfield mit Sartre and Posthumanist Humanism sind die wichtigsten Sartre-Forscher, die über die KDV publizierten. Ein weiterer – auch außerhalb seines Sprachraums – viel gelesener Autor war der Italiener Pietro Chiodi. Darüber hinaus ist vor allem Raymond Aron zu erwähnen. Die meisten Interpretationen von Sartres KDV fokussieren sich auf Aspekte der Politik, der Geschichte oder auf das, was heute als soziale Ontologie bezeichnet wird. Auf einer abstrakteren philosophischen Ebene wurden vor allem Themen wie jenes der Entfremdung behandelt, die als Ergebnis der Widersprüche zwischen der Praxis und dem Praktisch-Inerten, zwischen dem individuellen Subjekt und den Kollektiven, von Serien zu Gruppen und Institutionen, verstanden wird. Charakteristisch für den größten Teil der Arbeit ist das negative Urteil hinsichtlich der Rolle des Praktisch-Inerten, der Institutionen, der Hexis und allgemein der physisch-chemischen Welt als die Praxis einschränkenden Faktoren.
Es ist das Verdienst von Siegler, darauf hinzuweisen, dass dieses negative Urteil auch eine andere Seite hat. Das Praxis-Inerte, die Institutionen, Hexeis und die physisch-chemische Welt sind, wie es im Titel des Buches heißt, „notwendige Strukturen“. Sie bieten den Rahmen, innerhalb dessen Praxis überhaupt stattfinden kann. Wenn wir diesen Rahmen vernachlässigen, fallen wir hinter Das Sein und das Nichts (SN) zurück, denn Bewusstsein als Bewusstsein (von) etwas existiert nicht ohne dieses etwas. Wie Siegler in den einleitenden Sätzen seines Buches feststellt, sind Menschen auf komplexe Weise inmitten anderer Menschen, materieller Dinge und Systeme verortet; sie werden an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit in Strukturen hineingeboren, mit ihrem Geschlecht und ihrer Geschlechtszugehörigkeit (Gender) sowie ihrem soziokulturellen und wirtschaftlichen Hintergrund (7).
Im ersten Kapitel des Buches zeichnet Siegler Sartres Entwicklung von SN über Fragen der Methode (FM) zur KDV nach, mit dem Ziel einer Philosophie, die, wie sich Sartre in Sartre über Sartre (Itinerary of a Thought) äußerte, dem Menschen sowohl seine Autonomie als auch seine Realität unter realen Objekten gibt (23). Für Siegler gibt es keinen Bruch zwischen Sartres erstem und zweitem philosophischen opus magnum, zwischen SN und KDV. Während SN sich mehr auf die innere Dialektik konzentriert, ist es die äußere Dialektik, die für die KDV zentral ist. In SN definiert Sartre Sein als Handeln, das eine materielle Umgebung und gesellschaftliche Konstellationen voraussetzt (25). In FM beschreibt er seine regressiv-progressive Methode, in der das regressive, analytische Moment für die Bedeutung der historischen, soziokulturellen und materiellen Bedingtheit steht (32). Siegler stimmt zu, dass Sartre im Kern versucht, in der KDV eine kritische Theorie der Gesellschaft in Form einer sozialen Ontologie zu liefern (33). Doch er betont die Bedeutung von Trägheit und Knappheit (38) und dass die Natur, anders als die menschliche Vernunft, nicht der Dialektik folgt, wie die Marxisten behaupteten (34-35). Insbesondere zeichnet Siegler Sartres Entwicklung vom (konkreten) Begehren (désir) in SN zum (abstrakteren) Bedürfnis (besoin) in der KDV nach (38-42).
Das zweite Kapitel ist zwei Konzepten gewidmet, die für Sartres Denken zur Zeit der KDV wichtig waren: Totalisierung und Praxis-Prozess. In diesen Begriffen kommt Sartres Verständnis von Praxis als „einer aktiven, materiellen Veränderung eines Zustands der Welt“ (47) – und Siegler legt seine Betonung auf das Adjektiv „materiell“ – am besten zum Ausdruck. Siegler besteht auch auf Sartres Aussage in SN, dass die Dinge nicht nur insofern existieren, als sie erscheinen, sondern dass die objektive Welt in ihrer Phänomenalität erlebt werden kann, ohne ein wesentliches Merkmal zu verfehlen. Im Falle der Dinge ist Existenz Essenz (53). Nicht nur Menschen, sondern auch Dinge sind Totalitäten, Subjekt-Totalitäten und Objekt-Totalitäten (60). Das In-der-Welt-Sein verkörpert sich in der Konfrontation des Selbst mit Dingen, die in einer Entfernung von mir existieren (61). Menschliche Handlungen werden als Akte der Totalisierung verstanden, in denen sich Bedürfnisse in Begehren und schließlich in Zwecke verwandeln. Freiheit und Absicht sind zwei ihrer Hauptmerkmale. Die Welt als Totalität wird objektiviert und als spezifischer, mit Mangel versehener Zustand der Dinge (73) bestimmt, der durch seine Trägheit und Materialität gekennzeichnet ist. Im Begriff des Praxis-Prozesses findet das Konzept der Situation als Totalität von Totalitäten (Subjekt-Totalität, Objekt-Totalität, Welt-Totalität) einen neuen Weg, um auszudrücken, wie eng menschliche Praxis und äußere Prozesse interagieren.
Marcel Siegler, der Philosophie studierte und jetzt als Postdoktorand über die Beziehung zwischen Technik, Mensch und Gesellschaft forscht, widmet das nächste Kapitel, Kapitel 3, der Rolle der Technik in Sartres Philosophie. Die Technik dient „nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern auch als Verdinglichung und materielle Manifestation dieser Mittel-Zweck-Beziehung“ (89). Die gesamte Existenz ist technologisch vermittelt (112). In einem ersten Schritt versucht Siegler, Sartres Konzept der dialektischen Instrumentalität zu rekonstruieren. Wie Sartre in der KDV schrieb, ist „jede Praxis in erster Linie eine Instrumentalisierung der materiellen Realität“ (91). Sartres Konzept der Instrumentalisierung gilt nicht nur für nicht-menschliche Wesen, sondern auch für den menschlichen Körper. Siegler verwendet einen sehr weit gefassten Begriff von Technologie, der körperliche, soziale und intellektuelle Techniken einschließt (102). Die ursprüngliche Beziehung zwischen instrumentellen Dingen innerhalb der menschlichen Realität ist die Utensilität (französisch ustensilité, bei Heidegger Zeughaftigkeit) mit ihren jeweiligen Koeffizienten von Nützlichkeit und Widrigkeit. Im Gegensatz zu nicht von Menschenhand geschaffenen Objekten, z.B. Sartres Felsen in SN, bezieht sich Technologie als Ergebnis der Praxis auf größere soziale Milieus (100). Straßenschilder, Ampeln und Gebäude sind keine nackten Existenzen, sondern bereits sinnvolle Totalitäten (102). Sowohl die Technologie als auch die jeweiligen Werkzeuge sind Teil des Praktisch-inerten, kristallisierter Praxis. Technologische Artefakte manifestieren abstrakte Bedürfnisstrukturen in einer konkreten Form (111).
Kapitel 4 trägt den Titel „Theorie der praktischen Gesamtheiten: Strukturen in Aktion“. Nach einigen einleitenden Worten über Serien und Gruppen als Gesamtheiten widmet Siegler mehrere Seiten dem Thema der Knappheit. Menschen schließen sich in Gesamtheiten zusammen, um mit technischen Mitteln Situationen zu überwinden, die durch Knappheit gekennzeichnet sind. Praktische Gesamtheiten können daher als soziotechnische Systeme verstanden werden. Für Sartres Nomenklatur der Gruppen gilt: je höher der Organisationsgrad der Gruppe, desto schlechter ihre Konnotation. Die Institution als komplexeste Form der Gruppe mit ihrer Reserialisierung von Menschen ist der paradigmatische Fall hierfür. Für Siegler sind diese Gruppen jedoch auch Beispiele für die Kompromisse, die Individuen eingehen, um sich gegen Trägheit und Knappheit zu organisieren mit den Einschränkung der praktischen Freiheit als dem dafür zu zahlende Preis (147). Ein weiterer Punkt, in dem Siegler vom gängigen Verständnis der KDV abweicht, betrifft die hexis, die menschlichen Gewohnheiten oder den Habitus, wie Marcel Mauss und Pierre Bourdieu sie nannten. Entgegen der üblichen negativen Bewertung der hexis als Gegenteil der Praxis betont Siegler ihre soziale Funktion, denn hexeis ermöglichen es einer Person, eine Lebensweise ohne viel bewusstes Nachdenken zu kultivieren (152-153). „Unter dem Aspekt der Hexis können praktische Gesamtheiten als autopoietische Systeme verstanden werden.“ (161) Als letzten wichtigen Punkt in diesem Kapitel behandelt Siegler Gegenfinalitäten als Ursachen für Krisen und Störungen in praktischen Gesamtheiten (163).
Siegler demonstriert die Auswirkungen dieser Neuinterpretation von Sartres KDV im letzten Kapitel, in dem er die theoretischen Instrumente, die Sartre in der KDV eingeführt hat, auf die städtische Mobilität anwendet. Städtische Infrastrukturen werden als bedürftige Strukturen dargestellt, in denen Knappheit, Trägheit und Gegenfinalitäten eine wichtige Rolle zukommen.
Diese sehr neue Interpretation von Sartres Kritik durch Siegler ist ein ausgezeichneter Denkanstoß für alle, die sich für Sartres philosophisches Denken in den Jahren zwischen 1955 und 1968 interessieren. Sie regt zum Nachdenken darüber an, ob die gängige Interpretation von Sartres Philosophie nicht zu idealistisch ist, im Widerspruch zu Sartres Intention, die er in dem als Sartre über Sartre veröffentlichten Interview zum Ausdruck brachte. Natürlich gibt es immer Raum für Verbesserungen. Siegler hätte die Ethik der 1960er Jahre stärker berücksichtigen können, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung der Bedürfnisse. Hexeis definiert er sie als Dispositionen, die menschliche Handlungsmuster stabilisieren. Die Beziehung zwischen hexeis einerseits und der grundlegenden Wahl und Konstitution des Subjekts andererseits bleibt dabei jedoch weitgehend unberücksichtigt. Aber das sind letztlich Details. Das große Verdienst von Sieglers Buch ist die positive Neubewertung des Praktisch-Inerten, der Hexis und der Institutionen, einschließlich der Knappheit und der Gegenfinalität, die bisher im Gegensatz zur Praxis und den Gruppen unterhalb der Ebene der Institutionen überwiegend negativ beurteilt wurden.
Alfred Betschart