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Die Dekonstruktion Sartres – François Noudelmanns Un tout autre Sartre und die neuere französischsprachige Sartre-Forschung

Alfred Betschart [1]


Die Publikation von François Noudelmanns Buch Un tout autre Sartre im Herbst 2020[2] stieß unter den Sartre-Forschern nicht nur auf positive Rezeption, denn Noudelmann zeigt uns den Sartre, den er uns im Titel seines Buches verspricht: einen ganz anderen Sartre – den apolitischen Sartre, den Sartre, den „Politik anscheißt“, den touristischen Sartre, den romantischen Sartre und den „queeren Sartre“. Diese Seiten Sartres sind zwar Kennern von dessen Biographie und Werk nicht gänzlich neu, wurden jedoch von den „offiziellen Narrativen“ – „les récits officiels“ (N-2 11)[3], wie Noudelmann sie nennt – systematisch vernachlässigt. Noudelmanns Un tout autre Sartre stört viele Forscher, denn dieses Werk hat das Potential, unsere Sicht auf Sartre grundlegend zu verändern.

 

Sartre als private Person

 

Schon in seinem Buch Le toucher des philosophes: Sartre, Nietzsche et Barthes au piano hatte Noudelmann uns Sartre als einen Klavierspieler mit Vorliebe für die Romantik vorgestellt. Diese Sicht auf Sartre bekräftigt er nochmals in Un tout autre Sartre. Sartre, der immer sehr musikinteressiert war, spielte zeitlebens regelmäßig Klavier (cf. CA 286–292; AP70 204–206): zuerst als Kind und Student – zur Zeit der ENS (École Normale Supérieure) gab er sogar Klavierunterricht – und dann 1946–62, als er bei seiner Mutter Anne-Marie lebte. Diese Praxis setzte er danach mit seiner Adoptivtochter Arlette fort, die er am Klavier begleitete, während diese Flöte spielte und sang. Seit La nausée (1938) und dessen musikalischem Markenzeichen Some of these days ist Sartres frühes Faible für Jazz, Blues und Negro Spirituals bekannt (B-FA 121). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Sartre dank Boris und Michelle Vian mit Charlie Parker, Miles Davis und den Bebop vertraut (N-2 179). Die „offizielle Erzählung“ von Sartre als Liebhaber des Jazz, der sich – wohl auf Veranlassung Simone de Beauvoirs hin – später für die Zweite Wiener Schule mit Anton Webern, Alban Berg und Arnold Schönberg interessierte und mit Michel Sicard über zeitgenössische Komponisten wie Iannis Xenakis, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen diskutierte (N-2 179), bedarf jedoch offensichtlich der Korrektur. Sartre, der rationale „Cartesianer“, zu dem die abstrakte moderne Klassik so gut zu passen schien, zeigte privat eine ausgeprägte Schwäche für klassische Komponisten aus dem Barock, dem beginnenden 20. Jahrhundert und vor allem für Vertreter der Romantik: Frédéric Chopin, Ludwig van Beethoven, Robert Schumann, Johann Sebastian Bach, Gabriel Fauré, Claude Debussy und Maurice Ravel (N-2 178-179).

Auch begeisterte sich Sartre, der Romantiker, nicht nur für klassische Musik, sondern versuchte sich in Briefen an seine Freundinnen auch gelegentlich als Dichter. In einem Interview mit Beauvoir 1974 sprach er davon, dass er schon als junger Mann Gedichte geschrieben hatte. In der Tat gehörten zu den 2011 auktionierten Fragmenten von Sartres Frühwerk Empédocle von 1926/27 auch drei Gedichte, u.a. ein sechsseitiges über Peter Pan und ein vierseitiges über den Rausch (Bourgault/Contat/Coorebyter 2016, 21). Da überrascht es nicht sehr, dass er in seinen Carnets de la drôle de guerre (1940/41) seine unzureichenden Fähigkeiten als Dichter bedauerte (CA 186, 189, 549; auch B-FA 41, CDG 559). Ein weiteres deutliches Indiz für Sartres poetische Neigung ist die Tatsache, dass die ersten beiden der vier Schriftsteller, über die er eine Biographie schrieb – Charles Baudelaire (1946), Stéphane Mallarmé (1947–49), Jean Genet (1952) und Gustave Flaubert (1971/72) – Dichter waren.

Das traditionelle Bild von Sartre als einem durch und durch rationalistischen Cartesianer wird auch durch seine Drehbücher widerlegt. Von den Szenarien, deren Inhalt wir in etwa kennen – Typhus, Les jeux sont faits, Résistance, L’engrenage, Les faux nez (alle geschrieben zwischen 1943 und 1947), Joseph Le Bon (1955), Les sorcières de Salem (1955/56) und Freud (1958/59) – sind alle außer Freud Liebesgeschichten. In einem Interview mit Michel Contat erwähnte Sartre, dass er noch zu Beginn der 1960er Jahre daran dachte, einen Liebesroman zu schreiben (AP70 218–219). Vielleicht hatte er die Geschichte von Alkestis und Admetos in Erinnerung. 1961 trug er sich nämlich mit der Idee, dieses Thema von Euripides zu bearbeiten – 1965 folgte vom selben griechischen Klassiker die Bearbeitung von Les Troyennes –, in dem Alkestis aus Liebe bereit ist, für Admetos zu sterben, und nach ihrer Rückkehr aus der Unterwelt mehr Macht als Admetos besitzt (ObsUK61 120). Sartre waren zwischenmenschliche Beziehungen zeitlebens mindestens so wichtig wie die Philosophie. Bezeichnenderweise zog er es vor, mit Frauen über andere Menschen zu quasseln statt mit Männern zu philosophieren (AP70 220–221). Diese Haltung erklärt auch eine der größten Enttäuschungen unter den Publikationen von Sartres Texten: in den Briefen an Beauvoir geht es höchst selten um Philosophie, wie es von zwei der größten französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts zu erwarten wäre, dafür enthalten diese viel Gerede über ihre Mitmenschen.

Sartre als Misanthrop, den viele in Huis clos (1944) aufgrund der Aussage zu erkennen glauben, dass die Anderen die Hölle sind, ist ein Fehlurteil. Obwohl Sartre, wie seine beißenden Kritiken an François Mauriac (1939) und Albert Camus (1952) zeigen, ein großes Potential als Polemiker hatte, setzte er diese Fähigkeit ganz selten ein. Sartre war ein Menschenfreund, der sich schwertat, einen Wunsch abzulehnen – vor allem wenn ihn junge Leute äußerten. Huis clos ist kein Drama über negative zwischenmenschliche Beziehungen (ORTF 232), sondern repräsentiert vielmehr die zweite Hälfte von Sartres existentialistischer Ethik. War die Kernaussage von Les mouches (1943), dass die Menschen frei wählen können, so ist die von Huis clos, dass der Einzelne sich für seine Wahl und sein Handeln gegenüber den anderen ver-antworten muss, in dem Sinne, dass ich dem Andern Red’ und Antwort stehen muss – und zwar dem konkreten Anderen und nicht einem Kant’schen universellen, abstrakten Anderen (cf. Fn. 36). Die Andern sind die Hölle, weil sie meine Richter sind – Richter, die ich nicht auswählen kann. Anders als bei solipsistischen Philosophien ist das Sartre’sche Subjekt auf den Andern fundamental angewiesen, kann es nur in Gemeinschaft leben. Eliminiert das Subjekt bei René Descartes den Zweifel an seiner Existenz durch einen Denkakt (cogito, ergo sum), ist in Sartres Philosophie die Bestimmung des Selbsts des Subjekts nicht ohne den Andern möglich. Ich empfinde Scham, also existiere ich: me pudet, ergo sum – der Andere ist ursprünglicher als ich selbst (cf. DGG65 282).

Eine Fehlinterpretation ist auch das herkömmliche Bild vom Sartre’schen Menschen mit seiner pessimistischen Existenzangst. Noudelmann zitiert eine Aussage von Arlette, dass Sartre diese Angst nie empfunden hat. Dies deckt sich mit Sartres eigener Feststellung gegenüber Benny Lévy in L’espoir maintenant (1980), dass er selbst nie hoffnungslos war und nur davon sprach, weil es damals Mode war (N-2 131; EM 9)[4]. Bezeichnenderweise gibt es für Sartre im Gegensatz zu Martin Heidegger kein Sein zum Tode (CDG 308). Obwohl Sartre 1939/40 Søren Kierkegaard las – dessen Namen er übrigens erstmals im Empédocle von 1927 erwähnt hatte (Emp 35) –, gibt es keine wesentlichen Hinweise darauf, dass Kierkegaard, der Vater der Existenzangst, einen tieferen Einfluss auf ihn hatte (cf. B-FA 45, 118). Als Sartre sich 1963 bereit erklärte, an einem Kierkegaard-Symposium der UNESCO mitzuwirken – sein Beitrag hierzu wurde 1965 unter dem Titel L’universel singulier veröffentlicht –, hatte dies wenig mit einer Vorliebe Sartres für Kierkegaard zu tun. Vielmehr war dies, wie Noudelmann ausführt, der Preis, den Sartre seinem alten Freund René Maheu, dem damaligen Generaldirektor der UNESCO, dafür zahlen musste, dass dieser Sartres Idee unterstützte, den Ost-West-Dialog unter den Schriftstellern zu stärken. Der Hintergrund war, dass Sartre einen Vorwand brauchte, um seine sowjetische Freundin Lena Zonina nach Paris zu bringen – der Ost-West-Dialog hätte wohl primär in Sartres Bett in seiner Wohnung am Boulevard Raspail stattgefunden (N-2 39–40).

Ein pikanter, aber auch amüsanter Teil in Noudelmanns Un tout autre Sartre beschäftigt sich mit dem queeren Sartre. Offensichtlich schlüpfte Sartre gerne in Frauenrollen bis hin zum Crossdressing – und das nicht nur auf dem Kreuzfahrtschiff vor der norwegischen Küste 1935 (N-2 93–94; auch B-FA 211). Das passt sehr gut zu der Tatsache, dass Sartre sich als Frau-Mann sah, der schon immer eine Frau in sich gespürt hatte (N-2 87, 92; schon in CDG 505). Dass Sartre eher ein Masturbator als ein Penetrator von Frauen war (N-1 30; CA 390, 406), ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass er keinen sehr ausgeprägten Sexualtrieb besaß (N-2 96; auch B-L-A 302). Nathalie Sorokine bezeichnete ihn sogar als impotent (L-B2 144).

Sartres großes Sexualorgan war sein Hirn. Sein literarisches, aber auch sein philosophisches Werk beschäftigt sich immer wieder mit Sexualität. Fritz Heinemann, Walter Kaufmann und Alfred Stern, die so viel zur Verbreitung des Existentialismus in Großbritannien und Nordamerika beitrugen, betrachteten L’être et le néant (1943) als teilweise pornographisch, als ein Werk, das D. H. Lawrences Lady Chatterley’s Lover in den Schatten stelle und als Skandal in die Geschichte der Metaphysik eingegangen sei (Heinemann 1971, 189; Kaufmann 1975, 45; Stern 1967, 250). Queere Sexualität ist nicht nur in Saint Genet ein Thema. Homosexualität ist ein Motiv auch in La nausée, L’enfance d’un chef (1939), Les chemins de la liberté (1945–49) und Huis clos. Sartre schrieb in mehreren seiner Texte darüber, dass er sich zu schönen Männern und Frauen-Männern hingezogen fühlte, von André Bercot und Marc Zuorro bis zu den langhaarigen jungen Männern der 1970er Jahre (CA 337, 369–370; CDG 118, 505; Mots 127). Andere Motive queerer Sexualität, einschließlich inzestuöser Motive (Mots 32), finden sich in Dépaysement (1936), Érostrate, La chambre, Intimité (alle 1939), Les mouches, L’âge de raison (1945) und Les séquestrés d’Altona (1959). Noudelmann berichtet uns sogar von Anspielungen auf Sadomasochismus in Sartres Briefen (N-2 97).[5]

Mit seinen Schilderungen, die auf seinen Gesprächen mit Arlette sowie auf Briefen und Ton- und Filmaufnahmen von Sartre und Arlette beruhen, die letztere ihm zugänglich machte, stellt Noudelmann die „offiziellen Narrative“ über den privaten Sartre stark in Frage. Da Arlette Sartre erstmals 1956 traf, sind hiervon vor allem jene Elemente der „offiziellen Narrative“ betroffen, die sich auf Fakten ab 1956 stützten. Aber was ist mit dem privaten Sartre vor 1956? Die folgende – kurze und summarische – Analyse zeigt, dass die „offiziellen Narrativen“ wohl auch in dieser Hinsicht tiefgreifender Korrekturen bedürfen.

Wir wissen, dass Sartres Mutter Anne-Marie Sartres Bild von seiner Kindheit in Les mots (1963) für stark verzerrt hielt (N-1 42; Cohen-Solal 1991, 667). Auch Annie Cohen-Solal (1991 69) stellt mit ihrem viel differenzierteren Bild Sartres Darstellung seines Großvaters in Les mots in Frage. Bestätigt wird diese Kritik an der Darstellung in Les mots auch durch Robert Minder, einen französischen Germanisten, der mit Sartre seit der gemeinsamen Studienzeit an der ENS bekannt und mehrere Jahre mit Colette Audry verheiratet war, einer guten Freundin von Beauvoir und Sartre. Minder kannte Sartres Großvater von Treffen der Schweitzers im Elsass persönlich. Zu diesen hatte ihn Albert Schweitzer mitgenommen, bei dem er das Orgelspiel erlernte. Nehmen wir Minders Aussagen ernst, dann war die Diskrepanz zwischen Sartres Schilderung seiner Kindheit und der seiner Mutter nicht das Ergebnis eines gewöhnlichen Mutter-Sohn-Konflikts, sondern vielmehr waren Les mots Sartres späte Rache an seinem Großvater. Minders Charakterisierung von Charles Schweitzer als einem komödiantisch-tyrannischen Großvater, der sich durch provokatorische Unverblümtheiten auszeichnete, ist sehr weit von jener Sartres entfernt, der in ihm eine Art Gottvater sieht (Minder 1971, 44).

Sartre schildert seinen Großvater als einen Mann des 19. Jahrhunderts, einen Republikaner des alten Kaiserreichs, der dafür verantwortlich war, dass der junge Sartre seine Karriere mit einem Handicap von achtzig Jahren beginnen musste (Mots 15, 16 37). Gegenüber John Gerassi behauptete Sartre sogar, dass sein Großvater keinen einzigen Roman gelesen habe, der nach Victor Hugo veröffentlicht wurde (Gerassi 1989, 45; auch Mots 37). Diese Beschreibungen sind offenkundig falsch. Wie wir aus französischen und österreichischen Quellen wissen (Sosnowski 1989; Schweitzer 1925), war Sartres Großvater 1925 die führende Persönlichkeit in Frankreich, die Karl Kraus für den Nobelpreis für Literatur vorschlug – Kraus, einen progressiven Schriftsteller und Journalisten, der wie später Sartre journalistische und literarische Fähigkeiten zu verbinden wusste und dessen Zeitschrift Die Fackel ein Vorläufer der Temps Modernes (gegr. 1945) war. Charles Schweitzers Horizont reichte offensichtlich, anders als Sartre in Les mots behauptet, weit über das 19. Jahrhundert hinaus bis in die Gegenwart des jungen Sartre hinein.

Schweitzers Einfluss auf Poulou kann gar nicht überschätzt werden. Sein bedeutendster war, dass er seinem Enkel Deutsch beibrachte (cf. Merkur79 1211). In der Schweizer Wochenschau vom 31. Mai 1946 (SFW) liest Sartre einen Text auf Deutsch, in dem er sich durch eine fast fehlerfreie Aussprache auszeichnet – eine bemerkenswerte Fähigkeit, die man Sartre auf der Basis der „offiziellen Narrative“ nicht zutraut (Cormann 2021a, 15) und die dieser nur erreicht haben konnte, weil er die deutsche Sprache als Kind erlernt hatte. Aufgrund der Liste der von Sartre an der ENS ausgeliehenen Publikationen (cf. Dassonneville 2018a), aber auch den Carnet Midy (Midy 452, 486) wissen wir, dass er verschiedene Bücher und Aufsätze in deutscher Sprache las, darunter – neben Gedichten von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller – philosophische Werke von Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche und vor allem Publikationen über Psychologie. Sartres erste „philosophische“ Karriere – von seiner Diplomarbeit L’image dans la vie psychologique: rôle et nature (1927) bis L’imaginaire (1940) – stützte sich nicht zuletzt auf wissenschaftliche Beiträge deutscher Psychologen, insbesondere der Würzburger Schule und der Gestaltpsychologie, die Sartre aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse im Original lesen konnte. Noch 1940 schrieb er in einem Brief an Beauvoir, dass er Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 mit Vergnügen las, weil er auf Deutsch (!) war (L-B2 62). Wir wissen ebenfalls, dass Sartre, als er 1948 in Berlin am Round-table über Les mouches teilnahm, keines Dolmetschers bedurfte, um die Fragen zu verstehen, während Beauvoir wegen ungenügender Deutschkenntnisse der Diskussion fernblieb (Merkur79 1211; B-L-A 222).

Nach der Niederlage Frankreichs durch die Preußen im Jahr 1871 hatte Charles Schweitzer Frankreich als seine Heimat gewählt, weil er sich in der Tradition der französischen Revolution verortete. In kultureller Hinsicht fühlte er sich jedoch als Vertreter der deutschen Kultur, genauer gesagt der regionalen alemannischen Kultur – wie viele andere Elsässer in Paris, wie Henri Lichtenberger, Lucien Herr, den Sartre noch als Bibliothekar der ENS erlebte, Charles Andler und Robert Minder (Bock 2004). Wie sehr Schweitzer der deutschen Sprache zugetan war, zeigt die Tatsache, dass er sich im Familienkreis nicht mit seinem französischen, sondern seinem deutschen Vornamen ansprechen ließ: Karl (Mots 22). Albert Schweitzer beschrieb die Gegend um die Sorbonne, wo auch Sartres Großvater an 1 rue Le Goff wohnte, als Ort, wo sich die Elsässer Landsmannschaft niederließ und wo deren elsässischen Mägde im Winter Stille Nacht, Heilige Nacht, im Sommer Loreley sangen (Bock 2004, 65). Es ist gut möglich, dass Sartre als Kind unter dem Weihnachtsbaum saß und dort ebenfalls Stille Nacht, Heilige Nacht sang – auf Deutsch, denn auch die Schweitzers hatten junge elsässische Dienstmädchen (Cohen-Solal 1991, 61).

Teil von Sartres deutschem Erbe war seine enge Beziehung zu Nietzsche. Obwohl er sich gelegentlich von ihm distanzierte (Midy 471; AR 102; Lutèce 909), schien er Nietzsche während seiner Zeit an der ENS als Vorbild betrachtet zu haben. In den Jahren 1926/27 verfasste Sartre sowohl das philosophische Manuskript Empédocle, wo sich deutliche Spuren von Nietzsches Einfluss auf Sartres Denken finden (cf. Simont 2016;  2021, 150–155)[6], wie den Roman Une défaite, in dem Sartre in der Dreiecksgeschichte von Richard und Cosima Wagner und Nietzsche die Rolle des Letzteren einnimmt (Schilpp 9; B-FA 25). 1928 schreibt er bei Léon Brunschvicg eine Arbeit zur Frage, ob Nietzsche Philosoph sei. In seinem Kriegstagebuch vermerkte Sartre, dass er an der ENS eine nietzscheanische Moral der Freude gepredigt habe (CDG 279; Gerassi 2009, 53), und zu Beauvoir sagte er, dass er sich für ein Genie und einen Übermenschen in einem durch und durch nietzscheanischen Sinne hielt (CA 212–213; auch Lutèce 919, Nizan 18).

Die wahrscheinlichste Erklärung für Sartres Kenntnis von Nietzsches Denken ist, dass er Bücher über Nietzsche bei seinem Großvater fand, der Andler, den Autor der wichtigsten Nietzsche-Biographie in Frankreich, sehr gut kannte (CA 179). Viele elsässischen Intellektuellen in Paris – auch Herr und Lichtenberger, der 1898 das erste französischsprachige Werk über Nietzsches Philosophie verfasst hatte – waren trotz ihrer sozialistischen Gesinnung von Nietzsche sehr angetan[7]. Die in Frankreich vorherrschende Interpretation von Nietzsche war eine progressive und nicht die „braune“ Version von Elisabeth Förster-Nietzsche und deren Anhänger. Als Sartre „Wasserbomben“ – nach Gerassi „Urinbomben“ – auf Kommilitonen warf und „So pisste Zarathustra“ rief (N-1 54), waren diese Studenten mit ziemlicher Sicherheit keine Nietzscheaner, wie Noudelmann in Le toucher des philosophes (N-1 56) schrieb, sondern „Rechte“ (Gerassi 2009, 45, 53; cf. auch CA 319). Nietzsche, der den Tod Gottes verkündet hatte, war für Sartre und seine Freunde ein Held.

Sartre schoss in Les mots einige Giftpfeile auf die Deutschen ab; so bezeichnete er sie als „Wesen niederer Art“ (Mots 22–24). Bei seinem Aufenthalt in Berlin 1948 war von Sartres Abneigung gegen die Deutschen jedoch nichts zu spüren. Angesichts der Notizen in seinem Kriegstagebuch ist dies nicht verwunderlich. Dort beklagt er sich über die Behandlung der Elsässer und ihrer Frauen durch die anderen Franzosen (CDG 212–213) und vor allem über den „limousinischen Bauerntrampel, den letzten Menschen, rückständig, stumpfsinning, geldgierig und niederträchtig“ (CDG 226). Offensichtlich fühlte sich Sartre den elsässischen Schweitzern näher als den perigordinischen Sartres[8]. Hat Sartre seine Ansichten über Deutschland und die deutsche Kultur zwischen 1948 und 1963 so radikal geändert? Wahrscheinlicher ist, dass Sartre es angesichts des starken Anstiegs des französischen Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für ratsam hielt, seine germanophile Haltung offen zu demonstrieren.

Wie sehr Sartre der deutschen Kultur verbunden war, geht auch aus einem Hinweis von Grégory Cormann hervor, wonach sich Sartre in seiner Zeit von der ENS bis zum Zweiten Weltkrieg in einem Umfeld bewegte, das stark deutsch resp. elsässisch geprägt war. Die deutschsprachigen Wissenschaften galten bis 1933 als weltweit führend und dies, selbst nach zwei großen Kriegen (1870–71, 1914–18), auch in Frankreich. Was heute ein Postgraduate-Aufenthalt in den USA ist, war damals nicht nur für Aron und Sartre einer in Deutschland. Schon während der Zeit an der ENS zeigte Sartre ein hohes Interesse an den Arbeiten deutschsprachiger Wissenschaftler, wie die Liste der an in der Bibliothek der ENS ausgeliehen Werke beweist (Dassonneville 2018a). Für Cormann war Sartre an der ENS Mitglied einer „communauté alsacienne“ (Cormann 2021a, 14, und zuvor Cormann 2016, 103 et passim), wie seine Nähe zu dem 1923 von Minder gegründeten Groupe d’Information Internationale nahelegt, zu dessen Mitgliedern auch Raymond Aron und Paul Nizan zählten. Diese Gruppe wollte im Geiste Romain Rollands, Henri Barbusses, Stefan Zweigs, Maxim Gorkijs, Albert Einsteins und anderer progressiver Intellektueller zur Überwindung der Spaltung der europäischen Intelligentsia infolge des Ersten Weltkriegs beitragen. Nach einem weiteren Weltkrieg wird sich Sartre wie Maurice Merleau-Ponty zwanzig Jahre später, 1948, nochmals als Unterstützer des unter Führung von Emmanuel Mounier und Alfred Grosser gegründeten Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle für die Überwindung innereuropäischer Gegensätze einsetzen.

Selbst in den Jahren zwischen 1933 und 1939 wiesen die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ein Niveau hoher Intensität auf, nicht zuletzt auch in der Philosophie. Sartres Interesse an Edmund Husserl und Heidegger muss vor diesem Hintergrund verstanden werden. Zu den wesentlichen Vermittlern deutscher Philosophen und Geisteswissenschaftler gehörten damals Alexandre Koyré, Alexandre Kojève, Georges Gurvitch, Eugène Minkowski und Emmanuel Levinas – alle fünf in Russland geboren, mit Studium in Deutschland und wissenschaftlicher Karriere in Frankreich –, aber auch Jean Wahl, Aron und Bernhard Groethuysen. Aron wurde zum Türöffner für Max Webers Soziologie in Frankreich und mit seiner Introduction à la philosophie de l’histoire (1938) für Sartre nicht nur ein wichtiger Ideengeber zum Thema der Geschichte (cf. CDG 395), sondern auch zu einer wichtigen Informationsquelle für Sartres Kenntnis von Wilhelm Dilthey. Zu dieser trug auch Groethuysens Introduction à la pensée philosophique allemande depuis Nietzsche (1926) bei. „Groet“ , ein nach Frankreich emigrierter Deutscher, den Sartre erstmals 1926 getroffen hatte, war u.a. Mitherausgeber von Diltheys Gesamtwerk und hielt eine bedeutende Stelle bei Gallimard inne, wo er unter anderem entscheidend an der Einführung von Franz Kafka in Frankreich wirkte. Das Kapitel über das Kunstwerk in L’imaginaire fügte Sartre auf dessen Verlangen ein, und Sartres La liberté cartésienne war das Vorwort zu einer Auswahl von Descartes-Texten, die Groethuysen bei Sartre in Auftrag gegeben hatte.

Eine wichtige Rolle in diesem Milieu der Rezeption deutscher Philosophie in Frankreich spielten damals wissenschaftliche Zeitschriften. Cormann verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Bedeutung der Recherches philosophiques, in der Sartre 1936 La transcendance de l’ego als erste philosophische Arbeit veröffentlichen durfte. In dieser Zeitschrift veröffentlichten Autoren wie Aron, Gaston Bachelard[9], Jean Baruzi, Henry Corbin, Groethuysen, Kojève, Koyré, Levinas, Gabriel Marcel, Minkowski und Wahl (letzterer z. B. das Vorwort zu Vers le concret), aber auch deutsche Philosophen wie Heidegger, Hans Lipps, Karl Löwith, Helmuth Plessner und Günther Stern. Dass Sartre sich als Teil dieser „Forschungsgemeinschaft“ verstand, die sich mit zeitgenössischer deutscher Philosophie auseinandersetzte, kann einer Anmerkung in den Kriegstagebüchern entnommen werden (CDG 396).

Charles Schweitzer war von eminenter Bedeutung für seinen Enkel nicht nur dadurch, dass er ihn an die deutsche Kultur heranführte, sondern auch in Bezug auf Religion und Literatur. Sartres Desinteresse an Religion widerspiegelt jenes von Schweitzer – wobei hier bewusst das Wort „Desinteresse“ gebraucht wird. Der „Protestant“ Schweitzer ließ seinen Enkel katholisch erziehen (Mots 59), mit dem Effekt, dass Sartres Ethik entgegen den „offiziellen Narrativen“ der katholischen viel näher als der protestantischen steht: die Rechtfertigung des Subjekts erfolgt nicht gegenüber Gott, sondern dem Andern; der Mensch ist absolut frei, von Prädestination keine Spur; nur die Tat (das gute Werk), nicht der Glaube („sola fide“) zählt. Es stellt sich die „ketzerische“ Frage, ob Sartre wirklich ein Atheist und ein Vertreter des atheistischen Existentialismus war, wie er seine Philosophie in L’existentialisme est un humanisme (1946) bezeichnete (EH 148). Nach seinen eigenen Angaben hat er im Alter von zwölf Jahren den Glauben an Gott verloren. Jedoch deuten seine Mitgliedschaft im Kirchenchor des Lycée Henri IV im Alter von fünfzehn Jahren, sein Vortrag zur „Frage des Geisteslebens“ im Rahmen der Dekade zur „christlichen Prägung“ in Pontigny 1926, seine Beschäftigung mit Mystikern in seiner Diplomarbeit 1927[10], seine Freundschaften mit Priestern im Kriegsgefangenenlager in Trier 1940–41, das Weihnachtsstück Bariona (1940) als sein erstes dramatisches Werk sowie sein Interesse an Voodoo-Kulten auf seinen Reisen nach Haiti (1949) und Brasilien (1960) darauf hin, dass Sartre wohl eher als Nicht-Theist und Nicht-Gläubiger denn als A-Theist zu bezeichnen ist. Im Cahier Lutèce (Lutèce 930) bezeichnete sich Sartre selbst als Erben der Religiosität ohne Gott der 1920er Jahre, einer Zeit, als ein grundlegendes Interesse an religiösen Phänomenen ohne direkten Glauben in den philosophischen Kreisen, denen Sartre zuzuordnen ist, weitverbreitet war. Nicht nur die Recherches philosophiques publizierten in den 1930er Jahren immer wieder Beiträge zu Religion und Mystizismus, inklusive solchen außereuropäischen Ursprungs. Auch Alain, Sartres großes Vorbild an der ENS und wie dieser ein „Atheist“, publizierte Bücher wie Les idées et les âges und Les dieux, in denen dem Mythischen und Magischen eine wichtige Rolle zukam (cf. Cormann 2021b, 81–17).

Noch entscheidender für Sartres Entwicklung war Schweitzers eminentes Interesse an Literatur. Dass sich schon der kleine Poulou am Verfassen literarischer Werke versuchte, war ein direkter Ausfluss der Erziehung durch einen Großvater. Bis zur Zeit des Philosophieunterrichts bei François Colonna d’Istria zur Zeit der Khâgne war Sartres Berufsziel jenes des Schriftstellers. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur in seinem Leben sagte Sartre Gerassi zu Beginn der 1970er Jahre: „I decided to study philosophy and teach philosophy, but not to be a philosopher, that is someone who writes works of philosophy. I was going to be a writer in order to communicate the realities that the study of philosophy made me to grasp” (Gerassi 1989 74–75). Philosophie war für Sartre das Mittel, um die Realität, das Ontische, besser erfassen zu können (siehe auch CA 183, 184, 190, 206, 208; Playb65 130; Film 29). Dass sein bevorzugtes Ausdrucksmittel die Literatur blieb, erklärt vieles, sowohl die viel größere Zahl an literarischen als philosophischen Werken wie auch die Tatsache, dass sich Sartre in seinem philosophischen Œuvre wenig um einen guten Stil kümmerte. Auch sein umfangreiches Arbeiten an Biographien im Grenzbereich zwischen Philosophie und Roman muss vor diesem Hintergrund verstanden werden.

Selbst seine literarischen Vorlieben widerspiegeln dieses Verständnis des Verhältnisses von Philosophie und Literatur. Mit seinen Romanen und Erzählungen, zu denen auch ein so seltsames Buch wie La reine Albemarle ou le dernier touriste gehört, wo Sartre ähnlich wie Stendhal seine Reiseeindrücke in Italien wiedergibt, wollte Sartre vor allem die Wirklichkeit beschreiben. Sein filmerisches Schaffen, das heute leider zu sehr vernachlässig wird, kam dem Bestreben, die Wirklichkeit so genau wie möglich zu erfassen, noch näher, denn wie Sartre 1924 schrieb, galt für ihn, dass „allein das Kino einen genauen Bericht über die Psychoanalyse ablegen kann“ (ApoCin 398). Das Theater war für ihn hingegen die perfekte Möglichkeit, vor allem seine Vorstellungen von Ethik zum Ausdruck zu bringen, da die Bühne in idealer Form den handelnden Menschen in einer (gemäßigt) abstrakten Situation zeigt. Die seit Sartres Tod unter den Philosophen immer stärker gewordene Tendenz, die Beziehung zwischen Philosophie und Literatur in Sartres Schaffen zu vernachlässigen, ist nicht kompatibel mit Sartres Selbstverständnis als Schriftsteller-Philosoph.



[1] Es handelt sich bei diesem Text um eine stark erweiterte Fassung eines Beitrags, der unter dem Titel „Deconstructing Sartre. F. Noudelmann’s Un tout autre Sartre“ in den Sartre Studies International I/2022, S. 85–105, erschien.


[2] Für eine detaillierte Besprechung von Un tout autre Sartre auf Französisch siehe Boulé (2020).


[3] Für die Abkürzungen der Siglen siehe Literaturverzeichnis. Alle Übersetzungen aus französischen und englischen Texten durch den Autor.


[4] Diese Aussage ist vor dem Hintergrund der in den 1930er Jahren in der westlichen Welt stattfindenden Renaissance Kierkegaards zu verstehen. Hierzu trug in Frankreich nicht zuletzt Jean Wahl – zu dessen Einfluss auf Sartre siehe unten – mit seinen Études kierkegaardiennes (1938) bei. Auf eine andere mögliche Quelle verweist Grégory Cormann, dem gemäß die Angst als wesentliches Grundgefühl der Menschen in die Esquisse d’une théorie des émotions (EsqTE) über Sartres Lektüre von Heideggers Was ist Metaphysik?, publiziert 1931 in Bifur, gerutscht sein könnte (Cormann 2021b, 41).


[5] Die Frage ist berechtigt, wie sich Sartres eher schwacher Sexualtrieb mit der Häufigkeit sexueller Motive in seinem Werk verträgt. Im Cahier Lutèce stellt er sich selbst diese Frage und weist u.a. darauf hin, dass der Schriftsteller als Mitglied der Avantgarde Skandale erregen muss (Lutèce 931). Sartre liebte den Skandal und aufmerksamkeiterregende Formulierungen – und dies gilt nicht nur für seine literarischen Werke. Dass Sartre schon früh das Potential von Sexszenen in der Literatur erkannt hatte, zeigt sich nicht nur in seiner Novellensammlung Le mur, sondern auch in La nausée, wo Gallimard gewisse Szenen – inklusive einer Vergewaltigungsphantasie – zensurierte.


[6] Empédocle weist gemäß Cormann auch Beziehungen zu Bernhard Groethuysen und Friedrich Hölderlin auf (Cormann 2021b, 147–150).


[7] Andler übersetzte das Kommunistische Manifest auf Französisch und hatte Friedrich Engels in London getroffen; Herr war ein bedeutender Ideologe der französischen Sozialisten vor dem Ersten Weltkrieg. Zur linken Lesart von Nietzsche siehe auch Jean Jaurès’ drei Vorlesungen zu Nietzsche et le socialisme in Genf 1902.


[8] Elsässer zu sein war damals angesehen. Selbst Camus, der sich in L’homme révolté für das mittelmeerische und gegen das nordische Denken aussprach, glaubte gem. Todd (Todd 1996, 987) noch 1958, dass sein Vater elsässischer Herkunft gewesen sei.


[9] Von Bachelard, einem regelmäßigen Autor in den Recherches philosophiques, übernahm Sartre nach eigenen Angaben das für seine realistische Philosophie so bedeutende Konzept des Widrigkeitskoeffizienten (EN 574).


[10] U.a. Hl. Teresa von Ávila, Hl. Johannes vom Kreuz und Meister Eckhart unter Bezugnahme auf Werke von Delacroix und Baruzi.


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