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Die Dekonstruktion Sartres – François Noudelmanns Un tout autre Sartre und die neuere französischsprachige Sartre-Forschung

Noudelmann, die neuere französischsprachige Sartre-Forschung und das Ende des Sartrismus

 

Das große Verdienst von Noudelmanns Buch Un tout autre Sartre besteht darin, das von den „offiziellen Narrativen“ vermittelte Bild von Sartre korrigiert zu haben, insbesondere im Hinblick auf Sartre als Privatperson und als politischen Intellektuellen. Die neuere französischsprachige Sartre-Forschung hat uns wiederum die Bedeutung von Sartres Anfängen als Philosoph und Psychologe aufgezeigt. Dies sind nicht die ersten großen Veränderungen im Bild, das sich Forscher wie interessiertes Publikum von Sartre machen. Während der Blütezeit des Existentialismus zwischen 1944 und 1968, als Sartre für die progressiven politischen Kreise außerhalb der kommunistischen und sozialistischen Bewegungen der weltweit einflussreichste Intellektuelle war, dominierte das Bild von Sartre als einem Philosophen der individuellen und sozialen Freiheit und des Engagements (cf. Betschart 2019b, 19–22, 26–28). Dieses Narrativ fand weltweit außerordentlich breiten Anklang, von den USA und Lateinamerika über Europa und den arabisch-iranischen Raum bis nach Japan. Aufgrund der späten Übersetzung von L’être et le néant basierte dieses Verständnis von Sartre allerdings hauptsächlich auf seinen Dramen und ausgewählten Essays wie L’existentialisme est un humanisme und Qu’est-ce que la littérature? (1947). Entsprechend groß war die Rezeption in literarischen Kreisen, während sie im Bereich der akademischen Philosophie selbst in Frankreich eher bescheiden blieb.

Schon im Lauf der 1960er Jahre und insbesondere in der folgenden Dekade geriet die Rezeption von Sartres Denken stark unter den Druck seitens neomarxistischer, später auch poststrukturalistischer und postmoderner Philosophen. Nicht zuletzt aufgrund seines intensiven politischen Engagements gegen jegliche Formen des (Neo-)Kolonialismus (inklusive Algerien- und Vietnamkrieg) und für die 68er-Generation mit ihren Protesten wandten sich viele Intellektuelle von Sartre ab und es entstand das heute noch weitverbreitete Bild vom (pro-)kommunistischen Sartre. Während sich die Sartre-Forschung in Frankreich seit dessen Tod vor allem mit der Edition unveröffentlichter Werke (Cahiers pour une morale 1983; Lettres au Castor et à quelques autres 1983; Carnets de la drôle de guerre 1983/95; Écrits de jeunesse 1990) beschäftigt, entstand eine grundsätzlich neue Rezeption von Sartres Denken in den 1970er und 1980er Jahren im angelsächsischen Bereich durch den Versuch, eine Art marxistischen Existentialismus zu etablieren. Beteiligt waren daran Sartre-Forscher wie Mark Poster mit Existential Marxism in Postwar France (1975), John Lawler mit The Existentialist Marxism (1976) und Thomas Flynn mit Sartre and Marxist Existentialism (1984). Es handelte sich um eine Interpretation von Sartres Denken, die sich vor allem auf die Questions de méthode, Sartres Vorwort zu Fanons Les damnés de la terre (1961) und z.T. auf die Critique, insbesondere aber auf Sartres politische Aktionen mit Kommunisten, Gauchisten und Antikolonialisten in den Jahren zwischen 1954 und 1973 stützte. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen kommunistischen Systems 1989/91 und dem damit verbundenen Niedergang der kommunistischen Ideologie war auch dieses neue Narrativ gescheitert, das heute nur noch von sehr wenigen Sartre-Forschern wie Ron Aronson vertreten wird[1].

Die Implosion des Ostblocks hat die Rezeption von Sartres Denken weiter beschädigt, da dieser als „Weggefährte der Kommunisten“[2] selbst für viele progressive Intellektuelle nun erst recht diskreditiert war. Viele wandten sich verwandten Denkern wie Camus, Beauvoir und Merleau-Ponty zu. Selbst Nietzsche und Heidegger, deren Denken politisch viel belasteter als Sartres ist, erhielten größere Aufmerksamkeit. Während sich die französischsprachige Sartre-Forschung weiterhin auf die Edition und Kommentierung bisher unveröffentlichter Werke konzentrierte, setzten ihre angelsächsischen Kollegen ihr Vorhaben fort, ein neue Sartre-Narrativ zu entwickeln. Was sich in den letzten dreißig Jahren herausbildete, unterscheidet sich allerdings wesentlich von seinen Vorgängern. Sartres literarisches Werk, das für die Rezeption seines Denkens zwischen 1944 und 1968 so wichtig war, ist für das aktuelle Narrativ weitgehend zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Dieses basiert heute auf einer Kombination aus Sartres existentialistischer Philosophie zwischen 1944 und 1949 und seiner politischen Haltung zwischen 1952 und 1973, bereinigt um jene Elemente, die heute als zu kommunistisch gelten.

Sartres Philosophie wird nun vor allem als eine humanistische Philosophie verstanden, die einerseits die Freiheit des Einzelnen und andererseits dessen Verantwortung gegenüber der gesamten Menschheit betont. Wichtige Beiträge hierzu kamen von David Detmer mit Freedom as Value (1988), Thomas C. Anderson mit Sartre’s Two Ethics: From Authenticity to Integral Humanity (1993), T. Storm Heter mit Sartre’s Ethics of Engagement und Authenticity and Others: Sartre’s Ethics of Recognition (2006) und Jonathan Webber mit The Existentialism of Jean-Paul Sartre (2009) and Rethinking Existentialism (2018). Die darin geäußerten Vorstellungen von existentialistischer Ethik, die bis hin zu objektiver Wertethik und Tugendethik reichen, können zwar durchaus auf gewisse Stellen in den Cahiers pour une morale und in Existentialisme est un humanisme verweisen, insbesondere darauf, wo die universelle Respektierung der Freiheit des Andern als „objektives“ Erfordernis für moralisches Handeln diskutiert wird. Diese neuen existentialistischen Ethiken sehen sich jedoch mit dem doppelten Problem konfrontiert, dass Sartre die Cahiers pour une morale in Sartre. Un film als idealistisch und „völlig mystifiziert“ bezeichnete (Film 66) und Existentialisme est un humanisme von ihm in großen Teilen widerrufen wurde (Contat/Rybalka 1974, 133; cf. Film 61). Auch der Versuch, die existentialistische Philosophie stärker mit dem Antirassismus zu verbinden, wie dies unter anderen Robert Bernasconi und Jonathan Judaken versuchten, ist nicht über alle Zweifel erhaben, denn es droht die Gefahr eines essentialistischen Verständnisses von Rasse, das weit weg ist von einem existentialistischen in Analogie zu Beauvoirs „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (B-DS 265).

Der große Mangel dieses neueren Narrativs ist, dass es sich auf eine sehr selektive Auswahl von Sartre-Texten stützt. Die vielen in den letzten dreißig Jahren (wieder-)entdeckten und postum veröffentlichten Texte von Sartre – Écrits de jeunesse, Sartres Metaethik der 1960er Jahre mit Morale et histoire und Les racines de l’éthique, mehrere Filmdrehbücher und seine Interviews über eine anarchistische politische Philosophie der 1970er Jahre[3] –, werden kaum rezipiert. Auch die Grundlagenarbeit, die französische und belgische Sartre-Forscher seit den 1980er Jahren leisteten, ist außerhalb des engen Kreises an Sartre-Forschern im französischsprachigen Raum kaum bekannt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Sartre-Forschung weltweit schwächelt und die Sartre-Gesellschaften mit größeren Problemen kämpfen. Da halfen auch nicht jene wenigen Publikationen, die eine alternative Sicht auf Sartre bieten, zu denen unter anderem Christina Howells Einleitung zu The Cambridge Companion to Sartre von 1992, Nik Farrell Fox’ Buch The New Sartre: Explorations in Postmodernism (2003) und Elizabeth C. Butterfields Sartre and Posthumanist Humanism (2012), David Mitchells Sartre, Nietzsche and Non-Humanist Existentialism (2020) und Francesco Caddeos Sartre antihumaniste: Antisubjectivisme, marxisme critique, postcolonialisme (2020) zählen.

Eine Wiederbelebung der Sartre-Forschung kann nur in der Form der Schaffung eines neuen Narrativs gelingen. Es ist Zeit für eine Erzählung, die die Critique als ein wichtiges Werk der Sozialontologie versteht und sich mit den beiden metaethischen Werken der 1960er Jahre sowie der anarchistischen politischen Philosophie Sartres der 1970er Jahre auseinandersetzt; eine Erzählung, die Sartre als Drehbuchautor ernst nimmt; und vor allem eine Erzählung, die tief in die philosophische Entwicklung des jungen Sartre vor seiner Reise nach Berlin eindringt. Die von Coorebyter, Cormann und ihren Kollegen wiederentdeckten Schriften Sartres aus dessen Zeit an der ENS ergeben nämlich ein „ganz anderes Bild des jungen Sartre“ (Cormann 2021a, 12). Es ist an der Zeit, Sartres Klage im Interview für Schilpps Reihe The Library of Living Philosopher” (Schilpp 49) gerecht zu werden, dass seine Kommentatoren aufgrund ihrer selektiven Lektüre nicht in der Lage seien, seinen Entwurf und sein Denken zu verstehen. Dieser Vorwurf ist umso ernster zu nehmen, als die Beiträger zu Schilpps Band nicht Nobodies waren, sondern die damalige Crème de la crème aus den USA: von Robert Stone, Flynn, Oreste Pucciani, William McBride bis zu Hazel Barnes und Aronson.

Bei der notwendigen Revision unserer Erzählung über Sartre und sein Denken könnte François Noudelmanns Un tout autre Sartre eine ähnliche Rolle zukommen wie den Pariser Manuskripten von Marx. Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei den Zitaten Noudelmanns um Originalzitate und nicht einfach um eine weitere Neuinterpretation von Sartres Schriften handelt. So wie die Pariser Manuskripte zu einer Revision des marxistisch-leninistischen Bildes von Marx und seinem Denken führten, so stellt Noudelmanns Un tout autre Sartre heute das vom „Sartrismus“ etablierte Bild von Sartre in Frage. Unterstützt wird dieses Unterfangen durch die von den französischen und belgischen Sartre-Forschern neu herausgegebenen frühen Sartre-Schriften. Das offizielle Bild von Sartre muss dekonstruiert werden – es muss dekonstruiert werden, um im Einklang mit Sartres Forderung in seinem Interview für Schilpps Library of Living Philosopher den wirklichen Sartre überhaupt erst rekonstruieren zu können. Wenn Sartre vom Piedestal des progressiven Intellektuellen der Jahre zwischen 1945 und 1973 geholt wird, zu dem seine Anhänger wie seine Gegner gleichermaßen hinblicken – nur in unterschiedlicher Richtung, die einen hinauf, die andern hinunter –, dann verliert Sartre wenig. Sartre, der immer dagegen war, folgsame Schüler zu haben, würde seine Dekonstruktion als erster unterstützen. Was Sartre dabei jedoch gewinnen kann, ist viel an Tiefe und Breite – und nicht zuletzt an Menschlichkeit.


Alfred Betschart



[1] Siehe meine Kritik des marxistischen Existentialismus in „Sartre was not a Marxist” and Aronsons Antwort in derselben Ausgabe der SSI (Aronson 2019).


[2] Als Weggefährte der französischen Kommunisten kommt Sartre allenfalls für die Jahre 1952–56 und für die sowjetischen Kommunisten für die Jahre 1954–56 und 1962–66 in Frage. Nicht nur waren dies Perioden des Tauwetters, bei deren Ende Sartre jeweils mit den Kommunisten brach. Sartre zeigte auch nie die bedingungslose Unterwürfigkeit, die typischen Weggenossen eigen war.


[3] Siehe die Dokumente zur politischen Philosophie des späten Sartre auf https://sartre.ch/originals and Betschart (2016b). Sartres ideale anarchistische Gesellschaft erinnert an Marx’ Reich der Freiheit und insbesondere an Kants Reich der Zwecke.




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