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Die Dekonstruktion Sartres – François Noudelmanns Un tout autre Sartre und die neuere französischsprachige Sartre-Forschung

Sartre als Philosoph (Teil 2)

 

Weitere wichtige Hinweise auf Sartres philosophische Ansichten am Ende seiner Zeit an der ENS liefert das 1987 veröffentlichte Notizbuch von Shuzo Kuki (Kuki 1987). Kuki, ein junger japanischer Philosoph, der Husserl und Heidegger persönlich kannte – und Sartre wahrscheinlich von deren Philosophien erzählte –, erhielt 1928 von Sartre Unterricht in französischer Philosophie, als Sartre ein Zwischenjahr einschalten musste, weil er bei der ersten Prüfung zur agrégation durchgefallen war und sich seinen Lebensunterhalt mit Unterricht verdienen musste. In seinem Notizbuch, in dem Kuki vor allem die Namen der Philosophen notierte, über die Sartre sprach, taucht Brunschvicg mit siebzehn Nennungen am häufigsten auf, gefolgt von Alain mit fünfzehn, Descartes mit zehn, Bergson mit neun, Paul Valéry mit sechs, Maurice Blondel und Octave Hamelin mit je fünf sowie Émile Boutroux, Pierre Maine de Biran und Spinoza mit je vier Nennungen.

Wenig verwunderlich steht Brunschvicg, der berühmteste französische Philosoph jener Zeit, an erster Stelle. Anders als in den „récits officiels“ dargestellt unterhielt Sartre offensichtlich eine gute Arbeitsbeziehung zu ihm. Brunschvicg war der Vorsitzende der Kommission für die agrégation und empfahl Sartre auch für das Jahr in Berlin. Er war Mitbegründer der Revue de métaphysique et de morale, in der Sartre 1938 Structure intentionelle de l’image, den ersten Teil von L’imaginaire, veröffentlichen konnte, und zusammen mit Wahl sollte Brunschvicg L’imaginaire als Sartres Dissertation annehmen, zu einer Zeit, als Sartre noch eine Professur an der Sorbonne anstrebte (L-B2 134; B-L-S 148). Brunschvicg hätte mit seiner Reputation Sartre sicher behilflich sein können, an der Sorbonne einen Lehrstuhl für „phänomenologische Psychologie“ zu erhalten, wie der Untertitel von L’imaginaire nahelegt (Betschart 2014).

Brunschvicgs Philosophie war vor allem von Kant und Spinoza inspiriert. Sartre selbst bezog sich mehrfach positiv auf Spinoza (cf. CA 171). Spinozas Satz omnis determinatio est negatio bildet eine wesentliche Grundlage für Sartres Philosophie mit ihren Begriffen von Nichtung und Urwahl/Entwurf. Zudem führt Spinozas Pantheismus mit seinem deus sive natura letztlich zu ähnlichen Ergebnissen wie Sartres ethischer Relativismus. Bezeichnenderweise lehnen beide Reue ab, Spinoza, für den die guten wie die bösen Taten des Menschen letztlich Taten Gottes sind, wie Sartre, den Bewunderer von Baudelaires Fleurs du mal, für den Reuegefühle nur lästige Fliegen sind, um die der Mensch sich nicht kümmern soll (siehe Les mouches; Verger47 81).

Was Kant betrifft, so gilt, dass, obwohl dieser von Sartre oft kritisiert wird, viel mehr Kant in Sartre zu finden ist, als allgemein angenommen wird. Kritik an einem Philosophen bedeutet bei Sartre meist ein Lob, insofern Sartre dessen Denken für gut genug befand, um sich näher mit ihm auseinanderzusetzen. Schon Aron wies in seinen Memoiren darauf hin, dass Sartres Konzept von Entwurf/Urwahl auf Kants intelligiblem Charakter basiert (Aron 1983, 36). Spätestens seit den 1950er/60er Jahren bildete für Sartre die Anthropologie das Herz der Philosophie (QM 180, aber schon zuvor in EsqTE 256, Prés 165), was ganz Kants Auffassung in der Logik entspricht, wonach die (drei) wichtigsten Fragen der Philosophie – Was kann ich wissen? Was soll ich thun? Was darf ich hoffen? – in folgender enthalten sind: „Was ist der Mensch?“ (Kant 1800, 25). Auch Sartres Konzeption des An-sich und des Für-sich steht jener Kants mit der Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena (Letztere von Kant sogar als „An-sich“ bezeichnet) und seinen apriorischen Formen der Intuition und Kategorien viel näher als Descartes’ oder Husserls.

Insgesamt lässt sich eine bemerkenswerte Parallelität zwischen Kants und Sartres grundlegenden philosophischen Konzepten feststellen. Beide gehen vom Subjekt aus, das mit seiner spezifischen Sichtweise die Umwelt wahrnimmt. Die Unterschiede beruhen vor allem darauf, dass Kant als Astronom, der er ja auch war, und Aufklärer von einem naturwissenschaftlich geprägten Bild eines rationalen urteilenden Subjekts mit seinen Anschauungen von Raum und Zeit und den Kategorien herkommt, während Sartres Auffassung des Subjekts geisteswissenschaftlich, vor allem von der Psychologie geprägt ist. Sartres Individuum handelt nicht nur auf rationaler, sondern ebenso sehr auf emotionaler Basis handelt und es handelt und urteilt nicht bloß. Und dies tut es auf der Basis eines umfassenden Entwurfs, der auch eine bestimmte Weltanschauung mit ihren ethischen und ästhetischen Werten umfasst (cf. Jeans 12), ähnlich wie bei Dilthey und Jaspers. Damit verbunden ist auch, dass Sartre immer von einem konkreten Individuum in Situation ausgeht, während für Kant das Individuum ein abstraktes und universelles ist. In L’apprentissage de la réalité, geschrieben ca. 1954 als Vorarbeit zu Les mots, beschreibt Sartre seine Differenz zu Kant wie folgt: „Kant sagte: Wählt das Allgemeine. Wir sagen: Wählt in [konkreter] Situation und im Gegensatz.“ (Apprenti 963).

Eine deutliche Parallele gibt es auch zwischen Kants kategorischem Imperativ und der im Rückblick später als „mystifiziert“ beurteilten (Film 66) Moral, die Sartre und Beauvoir zwischen 1944 und 1948 entwickelten[1]. Nach Kants erster Formulierung des kategorischen Imperativs muss die Maxime einer Handlung so beschaffen sein, dass sie zu einem allgemeinen Gesetz werden kann. Sartres Vertrautheit hiermit zeigt sich nicht nur in der daraus folgenden schon von Kant behandelten Frage, ob gelogen werden darf, um jemandes Leben zu retten, die Sartres erster Erzählung Le mur Gevatter stand. Jahre später versuchten Sartre und Beauvoir selbst, ein ähnliches universelles Kriterium wie jenes des kategorischen Imperativs in der ersten Formulierung einzuführen, indem sie eine Handlung nur dann für gerechtfertigt hielten, wenn sie die Freiheit des universellen Anderen nicht verletzt. Sartre/Beauvoir sehen wie Kant (und ähnlich auch John Stuart Mill) und mit ihnen viele Anhänger des im PRRRS dominierenden Linksliberalismus die Grenzen der eigenen Freiheit (resp. Willkür) in der Freiheit der andern (Kant 1797, 230; Mill 1859, 223).

Ebenso offensichtlich ist Sartres und Beauvoirs Vertrautheit mit Kants zweiter Formulierung des kategorischen Imperativs, nämlich dass der Mensch niemals nur als Mittel zum Zweck, sondern immer zugleich als Zweck behandelt werden soll. Gegen die marxistische Auffassung, wonach der Zweck jedes Mittel heiligt, und die Haltung von Camus, wonach ein Zweck bestimmte Mittel ausschließen kann, vertraten Sartre und Beauvoir stets die Idee der Einheit von Zweck und Mittel. Gegensätzliche Ansichten von Sartre und Camus in dieser Frage führten 1952 zum Bruch zwischen ihnen, nachdem diese in einem versteckten Disput thematisiert worden waren, den diese seit Camus’ Lettres à un ami allemand (1943–45) und Beauvoirs Les bouches inutiles (1945) über mehrere Jahre hinweg – leider nur indirekt – geführt hatten[2].

Der Leser mag sich über die Tatsache verwundern, dass Alain der am zweithäufigsten genannte Philosoph ist. Alain ist allgemein eher als Ideologe des PRRRS[3] denn als Philosoph bekannt. Entsprechend bezieht sich Sartre selten auf Alain , wenn es um konkrete philosophische Positionen geht. Am bekanntesten ist, dass er ihm – sowie Émile Bréhier (Gerassi 1989, 74) – seinen Stoizismus verdanke, nämlich die Ansicht, dass der Mensch immer frei ist (CA 459; cf. B-FA 17; CDG 89; cf. auch Cormann 2021b, 89–90). Doch die Idee von der Freiheit des Individuums haben fast alle Philosophen, darunter auch Descartes, Kant und Bergson, vertreten, die Sartre irgendwie beeinflussten. Werfen wir einen Blick in Alains Quatre-vingt-un chapitres sur l’esprit et les passions, die Sartre in seiner Diplomarbeit (DES 216) zitiert und auf deren überarbeitete Ausgabe unter dem Titel Éléments de philosophie später auch Merleau-Ponty in seiner Phénoménologie de la perception verweist, erkennen wir, dass Alain in der Tat viele der Fragen behandelte, an denen Sartre sehr interessiert war, Themen wie Sinneswahrnehmung, Vorstellungskraft, Assoziation von Ideen, Gedächtnis, das Gefühl der Dauer, Zeit, Ziele und Ursachen, Psychologie sowie Persönlichkeit und das Ich. Wenn es über den „Stoizismus“ hinaus einen weitergehenden Einfluss Alains auf Sartre gegeben hat, dürfte er nicht zuletzt über dieses Buch erfolgt sein.

Überraschend ist das Auftauchen von Blondel, Hamelin, Boutroux und Maine de Biran in der Liste der am häufigsten genannten Philosophen. Sartre ließ diese vier Philosophen, die ihm 1928 offenbar so wichtig erschienen, später im Orkus der Vergessenheit verschwinden. Der erste bedeutende Vertreter dieser Strömung war Maine de Biran, der Vater des französischen Spiritualismus. Schon Maine de Biran vertrat die spiritualistische Grundthese, dass der Geist von der Materie unabhängig ist. Von größerer Bedeutung als Maine de Biran war philosophiesoziologisch jedoch Félix Ravaisson, der Jules Lachelier, Boutroux und Jules Lagneau beeinflusste. Boutroux wiederum war ein Lehrer von Bergson und Blondel, und Alain war ein Schüler von Lagneau. Auch Hamelin stand dem Spiritualismus nahe. Er war ein Schüler von Charles Renouvier, dessen Neokritizismus eine Synthese aus Kant, Positivismus und Spiritualismus darstellte. Angesichts der Nähe zu Maine de Biran und von diesem direkt und indirekt beeinflussten Philosophen überrascht George Pattisons und Kate Kirkpatricks Hinweis nicht, dass sich Sartre und Beauvoir während ihrer Studienzeit im weiteren Feld des französischen Spiritualismus bewegten (Pattison/Kirkpatrick 2019, 134, 167; cf. Coorebyter 2005, 26–27). Mehrere dieser „spiritualistischen“ Philosophen[4] hatten im Übrigen mehr oder wenige enge Beziehungen zum amerikanischen Pragmatisten William James, auf den wir bereits im Zusammenhang mit Wahls Buch Vers le concret verwiesen haben. Renouvier beeinflusste James, und es gab Kontakte, z.T. sogar enge Beziehungen zwischen James einerseits und Bergson, Boutroux, Blondel und Sartres Lehrern Delacroix und Dumas andererseits.[5]

Offensichtlich war Sartre Teil eines Rhizoms, das ganz unterschiedliche Positionen, von streng katholischen bis progressiv-säkularen Philosophen umfasste, die sich im grundlegenden philosophischen Problem der Beziehung zwischen der kausal bestimmten Materie und dem freien schöpferischen Geist grundsätzlich auf die Seite des Letzteren stellten. Ihre Kernthese war, dass der Geist (weitgehend) unabhängig von der Materie ist. Damit sollte der Mensch im Gegensatz zu den Thesen des französischen Positivismus (v.a. Auguste Comte) und der englischen und deutschen Assoziationspsychologie[6] als religiöses und moralisches Wesen bewahrt werden. Ihnen allen war auch gemeinsam, dass sie, wie schon Sartres erster Philosophielehrer Colonna d’Istria, die Auffassung vertraten, dass Philosophie vor allem Psychologie ist.

Was heute bestenfalls noch ein Gegenstand der Philosophie- und insbesondere der Psychologiegeschichte ist, war zur Zeit, a von Sartres Studium an der ENS in Frankreich ein sehr angesagtes Thema, wie Brunschvicgs damals aktuellstes, 1922 erschienenes Buch nahelegt, das den Titel L’expérience humaine et la causalité physique trug. Es begann mit einer Untersuchung der Frage, was den Menschen bestimmt, Kausalität wie bei Nicolas Malbranche und David Hume, innere Erfahrung wie bei Maine de Biran oder äußere Erfahrung wie beim bekanntesten Vertreter der Assoziationspsychologie, bei John Stuart Mill (Brunschvicg 1922, 3, 19, 53). Nicht nur Brunschvicg, Alain und Sartre (Alain 1916, 56–58; I-tion 25–30) beschäftigten sich in den 1910er und 1920er Jahren damit. Das Thema hinterließ seine Spuren auch später noch, nicht nur bei Sartre in L’imagination, sondern auch bei Simone Weil in den Leçons de philosophie 1933–34 und bei Merleau-Ponty in der Phénoménologie de la perception (Reynaud-Guérithault 1989, 53–55; MP-PP 36–49).

Schon in der Khâgne war Sartre zum Schluss gekommen, wie er in Sartre. Un film erklärt, dass Ideen nicht einfach auf Sinneswahrnehmungen zurückgeführt werden können, wie es die Assoziationspsychologie postulierte (Film 27–28). Seine philosophische Beschäftigung bis 1940 – eigentlich müsste von einer psychologischen die Rede sein – fokussierte wesentlich auf diese Frage des Verhältnisses von Geist und Materie. Von großer Bedeutung von seiner Diplomarbeit L’image dans la vie psychologique bis zu L’imaginaire und indirekt für sein ganzes philosophisches Denken waren die Erkenntnisse der Würzburger Schule (mit u.a. Karl Bühler, August Messer und Auguste Flach). Ausgehend von der Position der Assoziationspsychologie kam diese zum Schluss, dass sich das psychische Erleben, einschließlich ethischer, ästhetischer und politischer Aktivitäten, entgegen deren eigenen Erwartungen nicht allein auf Sinneseindrücke reduzieren lässt. Sartres These in L’imagination und L’imaginaire von der Vorstellung – l’image ist mehr als nur ein Abbild – als primärem Produkt des Bewusstseins und nicht der Wahrnehmung ist wesentlich von der Würzburger Schule beeinflusst. Ausgehend von der französischen Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von Maine de Biran bis Alain, und der Würzburger Schule entwickelte Sartre, indem er deren Vorstellungen mit dem Begriff der Intentionalität aus der Aktpsychologie verband, sein Konzept des spontanen, kreativen Für-sich als Ursprung des Entwurfs und damit der ethischen und ästhetischen Werte.

Entscheidenden Einfluss auf Sartres Philosophie hatte auch dessen Rezeption der Gestaltpsychologie mit Vertretern wie Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Max Wertheimer und Kurt Lewin (cf. auch QM 77–78), die um 1930 begann (B-FA 40). Vertrat die Würzburger Schule wie schon die Assoziationspsychologie immer noch eine analytische Psychologie, d.h. eine Psychologie, die das Ganze auf einzelne Elemente reduziert, so war die Gestaltpsychologie eine synthetische, die die einzelnen Elemente immer als im Zusammenhang mit den andern Teilen stehend verstand. Nicht nur führt von der Gestaltpsychologie der Weg zu den für den späteren Sartre so wichtigen Begriffen wie Totalität und Totalisierung, eine synthetische Sichtweise, wie sie der Gestaltpsychologie eigen ist, diese prägte auch Sartres Verständnis von Situation und der Beziehungen des Subjekts zu den Andern: der Einzelne resp. das einzelne Element darf nie losgelöst von den andern verstanden werden. Wie er in der Présentation der Temps Modernes festhielt, ist der situierte Mensch die ganze Erde (Prés 165), er ist das singulare Universale (US 139). Dass Lewin der Begründer der modernen Sozialpsychologie ist und Sartres Werke von L‘être et le néant bis zur Critique stark vom Reflektieren über das Verhältnis zum Andern und die Gruppe geprägt sind, stellt keine Zufälligkeit dar. In den Questions de méthode wird Sartre seine Methode nicht nur als eine regressiv-progressive, sondern auch als eine analytisch-synthetische beschreiben (QM 160).

Sartres Philosophie gehört zum Originellsten, was die Philosophie in 20. Jahrhundert schuf. Ausgehend vom Subjekt in Situation, wo das Für-sich mit dem An-sich eine Einheit bildet, begründete er eine Philosophie, die Geist und Materie, Freiheit und Scheitern am An-sich verbindet, ohne sich in den Fallen des Idealismus und des Materialismus zu verfangen. Zu den zentralen Elementen von Sartres Philosophie gehören das Bewusstsein als leeres Nichts und reine Intentionalität, die Urwahl als wichtigster Bestandteil seiner existentiellen Psychoanalyse und der Leib als gelebte Erfahrung. Der Mensch ist gleichzeitig Subjekt mit absoluter ontologischer Freiheit[7] und ein Seiendes, das nur in der Beziehung zum Andern und als Mitglied von Gruppen existieren kann. Sartre schuf so eine neorealistische Philosophie mit dem Ziel, „die Autonomie des Menschen und seine Realität unter den realen Objekten [zu] fassen, ohne entweder dem Idealismus oder einem mechanistischen Materialismus zu verfallen“ (NLR69 147; cf. CDG 200). Die finale Aufgabe der Philosophie war nach Sartre, den Menschen als Subjekt-Objekt zu verstehen (Anthro 78). Dazu dient die erstmals 1957 in Questions de méthode vorgestellte regressiv-progressive Methode. Mit deren Hilfe wollte Sartre den Menschen verstehen, wie er dies paradigmatisch in seinem Flaubert vorführte: den Menschen, der als Mensch nicht bloß ist, was aus ihm gemacht wurde, sondern ist, was er daraus macht (der progressive Teil), wozu er gemacht wurde (der regressive Teil) (Arc66 95; ähnlich schon in Prés 168)[8].

Um diesen Charakter der Sartre’schen Philosophie zu erfassen, reicht ein Rekurs auf Husserl, Heidegger und Hegel nicht aus, deren philosophischen Konzepte Sartre nur sehr selektiv und in seiner höchsteigenen Interpretation übernahm. Vielmehr müssen wir auf Sartres philosophische Entwicklung in die Jahre zwischen 1921 und 1933 zurückgehen, als er das Fundament seiner Philosophie legte. Die „offiziellen Narrative“ müssen nicht nur in Bezug auf Sartre als Privatperson und als politischer Intellektueller, sondern auch in Bezug auf Sartre als Philosoph korrigiert werden. Wir müssen ihn in der Tradition einer Philosophie verstehen, die bezüglich der Diskussion über das Verhältnis von Geist und Materie dem französischen Spiritualismus näher als dem Positivismus und Materialismus steht. Die Philosophien von Alain, Bergson, Delacroix und Dumas wie die Würzburger Schule und die Gestaltpsychologie bildeten jenes Fundament, auf dem Sartre das Gebäude seiner Philosophie errichtete. Weitere wichtige Bezugspersonen zum Verständnis von Sartres Philosophie sind Brunschvicg mit seinem Kantianismus und Spinozismus, Nietzsche und Jaspers sowie indirekt Dilthey und James.

Damit soll nicht einer Reduktion von Sartres Philosophie auf jene anderer Philosophen das Wort gesprochen werden. Zum Teil sind die Gegensätze zwischen ihnen und Sartre sogar sehr groß. Konservative Katholiken wie Maine de Biran, Blondel und Baruzi, die, wie Sartre in L’imagination schrieb, eine zentrale Rolle im Disput mit der Assoziationspsychologie spielten (I-tion 123), haben politisch wie philosophisch in mancher Beziehung wenig mit Sartre gemein. Als „Atheist“ resp. Nicht-Theist war Sartre zusammen mit Nietzsche und Alain eine Ausnahme im Pantheon der Philosophen. Am nächsten kam diesen wohl Bergson mit seiner Befürwortung von offener Moral und dynamischer Religion im Gegensatz zur traditionellen geschlossenen Moral und statischen Religion. Auch wenn James in Will to Believe eine ähnliche Position wie Bergson einnahm, sein Glaube an eine nach dem Tod weiterexistierende Seele unterschied ihn doch in dieser Frage deutlich von Sartre. Auch in Bezug auf die Methode der Philosophie gibt es große Differenzen zu vielen Philosophen, mit denen er sonst bedeutende Gemeinsamkeiten teilte. Nach Sartre bildet die Anthropologie das Herz der Philosophie. Damit verbunden ist eine systemische Auffassung dessen, was Philosophie ist. Die Anthropologie beruht auf der Ontologie und Epistemologie und ist ihrerseits die Grundlage für die (Meta-)Ethik, Ästhetik und politische Philosophie.[9] Mit dieser sehr klassischen Auffassung von Philosophie unterscheidet sich Sartre beispielsweise stark von jener eines James oder eines Jaspers.

Entscheidender als die Differenzen sind jedoch die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. In Anlehnung an Herbert Schnädelbach und sein Buch über die Philosophie in Deutschland 1831–33 kann die Geschichte der deutschen Philosophie im nachhegelianischen Zeitalter verstanden werden als eine des Kampfes zwischen einer „szientistisch“ orientierten Philosophie, die die Philosophie auf den Erkenntnissen der Natur- und insbesondere der Geisteswissenschaften aufbauen wollte, und einer Auffassung von Philosophie als „reiner Philosophie“. Letztere wollte die Philosophie radikal von den Wissenschaften trennen, weil sie die jeder wissenschaftlichen Erkenntnis inhärente Relativität von deren Gültigkeit mit dem Anspruch der Philosophie nicht für vereinbar hielten, die absoluten Grundlagen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zu legen. Die szientistisch orientierte Philosophie umfasste im deutschen Sprachraum vor allem zwei Richtungen, den Historismus, zu dem ich neben Gustav Droysen, auch in wichtigen Teilen Nietzsche zähle[10], und den Psychologismus u.a. mit den Vertretern der Assoziationspsychologie, aber auch Dilthey und Jaspers. Marx steht gleichermaßen für einen Historismus wie einen Soziologismus und Ökonomismus. Die einzige bedeutende szientistische Strömung in der deutschen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg war der Neomarxismus mit der Frankfurter Schule. Die Vertreter einer reinen Philosophie, sei es in Form der analytischen Philosophie, des Neukantianismus, der Phänomenologie oder von Heideggers Fundamentalontologie, erreichten schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein klares Übergewicht.

In andern Sprachgebieten verlief die Entwicklung nach demselben Modell, wenn auch mit zeitlichen Verschiebungen und nicht immer in derselben Abfolge. In den USA gab es mit dem Pragmatismus zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Mitte des folgenden, eine spezifisch amerikanische Form szientistischer Philosophie. In Großbritannien dominierte noch lange ein Hegelianismus, der im deutschen Sprachraum schon längst passé war. Nach einer kurzen Periode, wo mit Spencer ein Vertreter eines Soziologismus-Biologismus eine bedeutende Position innehatte, herrschte dann bald die analytische Philosophie als Vertreterin der „reinen Philosophie“ vor. In Frankreich wiederum war die Philosophie ganz in den Händen der Vertreter einer szientistischen Auffassung, deren Ablösung erst in den 1970er Jahren mit der Entstehung der postmodernen Philosophie (Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Jean Baudrillard, Gilles Deleuze etc.) erfolgte und dies in einer äußerst radikalen Form. Der Strukturalismus zuvor vertrat zwar eine ganze Palette von anti-psychologistischen, anti-existentialistischen Positionen: ethnologischen (Lévi-Strauss), psychoanalytischen (Jacques Lacan), zeichentheoretischen (Roland Barthes), gesellschaftstheoretischen (Althusser) und historischen (Foucault). Doch mit diesen Positionen zählt der Strukturalismus immer noch zur szientistischen Richtung der Philosophie.

Über die Positionierung von Sartres Philosophie auf dieser Landkarte modernen philosophischen Denkens kann es wenig Zweifel geben: Sartres Philosophie gehört der szientistischen Richtung und zwar jener des Psychologismus an. Sartres Auffassung von Philosophie und Wissenschaft war immer eine, die auf einem wechselseitigen Verhältnis beruht. Wissenschaft und Philosophie waren für ihn immer gleichberechtigte Partner. Ebenso klar ist seine Positionierung hinsichtlich des Psychologismus. Nicht nur ist L’être et le néant ein Werk, das, anders als der irreführende Untertitel „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“ weiszumachen versucht, weniger mit Ontologie als vielmehr mit existentieller Psychoanalyse und Sozialpsychologie zu tun hat. Auch die Critique und die beiden Werke über Ethik aus den 1960er Jahren, Les racines de l’éthique und Morale et histoire, betrachten die soziale Umwelt radikal aus einer individualistischen und damit psychologistischen Perspektive. Suchen wir nach den Sartres Existentialismus am nächsten stehenden Positionen, so werden wir am ehesten in den Philosophien des Pragmatismus, Bergsons, Diltheys und Jaspers, des späteren Georg Simmel und Gabriel Marcels fündig. Was sie verbindet, ist, dass die Philosophie vom Subjekt in Situation ausgeht und damit dem Psychologischen und der Lebenswelt im Alltag[11] eine sehr große Bedeutung zukommen lässt. Aufgrund ihrer Nähe zum alltäglichen Leben scheint mir die Bezeichnung von deren Philosophien als „Philosophien des Lebens“ angebracht[12]. Es ist Zeit, das offizielle Narrativ von Sartre als Erben von Husserl, Heidegger und Hegel zu begraben. Benötigt wird ein neues Narrativ, dass der skizzierten Positionierung Sartres auf der Landkarte der Philosophie Rechnung trägt.



[1] Die wichtigsten Primärtexte dieser „mystifizierten“ Ethik sind Sartres L’existentialisme est un humanisme und Cahiers pour une morale und Beauvoirs Pyrrhus et Cinéas (1944) und Pour une morale de l’ambiguïté (1947). Spätestens mit Beauvoirs Faut-il brûler Sade? (1951) und Sartres Saint Genet (1952) war der mystifizierte Teil der Ethik von 1944 bis 1948 gestorben. Sartre bestätigte 1975 gegenüber Contat, dass er mit den Cahiers in eine Sackgasse geraten war (AP70 233).


[2] Andere Werke, mit denen sich die Autoren am Disput beteiligten, waren: Camus‘ Ni victimes, ni bourreaux 1946, Les justes 1949 und L’homme révolté 1951, Beauvoirs Idéalisme moral et réalisme politique 1945 und Sartres Qu’est-ce que la littérature? 1946/47, L’engrenage 1946/48, La responsabilité de l’écrivain 1947, Les mains sales 1948 und Le diable et le bon dieu 1951. Zur Ausgangslage für den Disput in der Zeit der Résistance siehe Verger48, S. 82–83.


[3] Es ist bemerkenswert, dass Sartre ihn nie als Theoretiker der Radikalen Partei erwähnt. Eine Ausnahme findet sich in Présentation des Temps Modernes (Prés 166), wo er ihn in kritischem Sinne anführt, ohne allerdings seinen Namen zu nennen.


[4] Die Nähe zu Philosophen wie Bergson, Boutroux oder Brunschvicg belegt übrigens, wie weit Sartre von Nizan entfernt war, der diese Philosophen zur Zielscheibe seiner Kritik in Les chiens de garde (1932) machte.


[5] Das Wissen um die enge Beziehung zwischen Existentialismus und Pragmatismus, auf die schon Hans Lipps bezüglich Existenzphilosophie und Pragmatismus in derselben Nummer der Recherches philosophiques aufmerksam machte, in der Sartre seinen Aufsatz La transcendance de l’ego veröffentlichte, ist leider verloren gegangen. Mit dem Band zur Tagung Pragmatismus und Existentialismus vom Herbst 2021, dessen Veröffentlichung für 2022 geplant ist, sollte diese Lücke ein wenig geschlossen werden.


[6] Zur englischen Assoziationspsychologie zählen vor allem Thomas Hobbes und David Locke als Vorläufer, dann David Hartley, James und John Stuart Mill, Alexander Bain und Herbert Spencer, zur deutschen Schule unter anderen Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt und Hermann Ebbinghaus. Als deren französische Vertreter betrachtete Sartre Hippolyte Taine und Théodule Ribot.


[7] Die absolute ontologische Freiheit steht für die Verantwortung des Subjekts für seinen Entwurf. Das offizielle Narrativ, dass (erst) der spätere Sartre sich von der absoluten Freiheit abwandte, ist in doppelter Hinsicht falsch. Einerseits findet sich das Skandalon, dass auch der Sklave diese absolute Freiheit besitzt, nicht nur in L’être et le néant, sondern auch in der Critique (Sartre 1995: EN, S. 944; 1967: CRD, S. 612). Andererseits hielt schon der mittlere Sartre von La liberté cartésienne (1945) fest: „Frei sein heißt nicht, tun können, was man will, sondern wollen, was man kann“ (LibCar 128).


[8] Alexandre Feron macht in seinem Buch Le Moment marxiste de la phénoménologie française (Feron 2021, 30) zurecht darauf aufmerksam, dass die meisten französischen Intellektuellen, ja sogar Merleau-Ponty – vor allem in Les aventures de la dialectique, aber auch schon in der Phénoménologie de la perception – Sartre missverstanden und ihn nur als einen Vertreter eines Ultrasubjektivismus verstanden, nicht als einer, der die Abhängigkeit des Subjekts von seiner Situation, d.h. auch der Gesellschaft, betont.


[9] Zur Auffassung von Philosophie als System siehe Margaret Simons Interview mit Beauvoir (B-MS 11) und B-FA 189–190.


[10] Nietzsches wissenschaftliche Arbeiten wie Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral weisen einen stark geschichtlichen Charakter auf.


[11] Von hier ergibt sich wiederum eine Beziehung zum späten Husserl in Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, der Soziologie von Alfred Schütz und der Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas.


[12] „Philosophien des Lebens“ und nicht Lebensphilosophie. Letztere umfasst nur einen Teil der Autoren, die ich zur Gruppe der Philosophien des Lebens zähle.


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