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Wahrheit, Anerkennung, Verstehen und mauvaise foi.

Reflexionen über Krieg und Frieden (Teil 1)

 

… neu mit einem Vorwort aus dem Jahr des Ukrainekriegs 2022/23

Alfred Betschart 

 

… ein Vorwort aus dem Jahr des Ukrainekriegs 2022/23

 

Es handelt sich bei diesem Text um eine stark überarbeitete Fassung eines Vortrages, den der Autor am Kolloquium „Über Lügen im Zeitalter des Krieges“ der Sartre Gesellschaft e.V. an der Humboldt-Universität Berlin 9./10.10.2015 hielt. 2015, ein Jahr nach der fast gewaltfreien Besetzung der Krim durch Russland, zu einer Zeit als der Konflikt im Donbass eher auf kleiner Flamme kochte, schien es etwas gar hoch gegriffen zu sein, von einem Zeitalter des Krieges zu sprechen. Es gab zwar auch die Kriege in Syrien, Libyen und Jemen (seit 2011), aber die Konflikte in Jugoslawien (Kroatien/Bosnien 1991-95, Kosovo 1999) waren beendet. Der Georgienkrieg 2008 war eine kleine, schnell beendete Episode. Heute sehen wir uns nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 plötzlich mit einem Krieg konfrontiert, der unsere alten Gewissheiten schwer ins Wanken brachte. Es ist eine Außenministerin der pazifistischen Grünen, Annalena Baerbock, die die Koalition jener anführt, die in Deutschland für ein größeres militärisches Engagement zugunsten der Ukraine eintritt. Fast alle sind sich einig, dass wir im Westen wieder vermehrt Mittel für den (Wieder-)­Aufbau der Armee investieren müssen. Wie haben sich die Zeiten seit dem Vortrag von 2015 geändert!

Dass der Mensch immer in Situation ist, dies ist einer der Grundpfeiler von Sartres Philosophie. Das Subjekt handelt – und es schreibt auch in Situation. Die Gefahr ist – und dies beweisen nicht zuletzt auch viele von Sartres politischen Artikeln –, dass gerade politische Essays bald von der Geschichte überholt werden. Der vorliegende Beitrag mit dem Titel «Wahrheit, Anerkennung, Verstehen und mauvaise foi. Reflexionen über Krieg und Frieden» hat jedoch bis heute wenig von seiner Aktualität eingebüsst. Putins Krieg gegen die Ukraine belegt geradezu exemplarisch die Richtigkeit der hier vertretenen Thesen. Putins Überzeugung von der Richtigkeit seiner Wahrheiten ist grenzenlos: die Ukraine als ein unabdingbarer Teil des ostslawischen Mirs unter Leitung Russlands; die Auflösung der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe; der Kampf der USA, das Russland und die russische, orthodoxe Kultur zerschlagen wolle. Es sind diese starken Überzeugungen, die die Grundlage für Putins Entscheidung zum Krieg bildeten. Auf deren Basis verweigert er die Anerkennung jenen, die seine Thesen nicht teilen: den Ukrainern und Ukrainer:innen, den fortschrittlichen, nach Westen orientierten Russen, insbesondere auch den Vertretern der modernen Kunst, den Menschenrechtsaktivisten, den Schwulen in Russland. Und ohne Anerkennung kann er diese seine «Gegner» auch nicht verstehen. Seine Fehleinschätzung, dass er mit seiner Armee Kiev in wenigen Tagen erobern und die große Mehrheit der Ukrainer die Ablösung eines angeblichen «Nazi-Regimes» unter einem jüdischen Präsidenten durch Putins Marionetten akzeptieren würde, dürfte wohl als größtes Missverständnis in die Kriegsgeschichte der letzten 100 Jahre eingehen. Stattdessen leisten die Ukrainer:innen nach wie vor heroischen Widerstand. Putins mauvaise foi, seine Bösgläubigkeit hinsichtlich der Faktizität, ist offensichtlich.

Sed contra: Ist es korrekt, alle Verantwortung für den Krieg Putin anzulasten? Gibt es da nicht auch die Verantwortung des russischen Volkes, das die Ukrainer gerne als die nicht ganz ernst zu nehmenden Vettern anschaut? Weist Oksana Sabushko nicht auf die Verantwortung der klassischen russischen Schriftsteller in Bezug auf das Verhältnis der Russen zu den Ukrainern hin? Und wie steht es mit der NATO, die sich seit 1999 immer weiter nach Osten ausdehnte, und mit den USA, die 2008 sogar die Ukraine und Georgien in die NATO aufnehmen wollten und einen nach dem andern Abrüstungsvertrag kündigten? Und was ist mit den Westeuropäern, insbesondere dem Deutschland von Angela Merkel, die 2014 Janukovitchs Sturz trotz gegenläufigem Vertrag akzeptierte und nichts gegen die unvollständige Umsetzung der Minsker-Verträge durch Kiev und die Benachteiligung der russischsprachigen Ukrainer tat?

Wer ist schuld am Krieg? Diese Frage beschäftigte im März 1940 auch Sartre – in Bezug auf den Ersten Weltkrieg, aber durchaus auch in Hinsicht auf den Zweiten Weltkrieg, auch wenn sich dieser damals noch in der Phase des Sitzkriegs befand. 1938 hatte Raymond Aron mit den beiden Werken Introduction à la philosophie de l'histoire: essai sur les limites de l'objectivité historique und Essai sur la théorie de l'histoire dans l'Allemagne contemporaine: La philosophie critique de l'histoire doktoriert. Darin vertrat Aron die These, dass man «in der Erklärung wie im Verstehen des historischen Ereignisses verschiedene Bedeutungsschichten finden kann [, die erlauben,] die Entwicklung des historischen Prozesses auf befriedigende Weise zu beschreiben, jede auf ihrer eigenen Ebene.» Damals schien ihm Arons These, so Sartre in seinem Tagebuch (TB 527), überzeugend. Sartre unterschied zwischen vier Bedeutungsschichten, der ökonomischen, der politischen, der diplomatischen und der persönlichen (TB 525). Doch bald kamen ihm und Simone de Beauvoir Zweifel: Lag die Ursache nun bei Hitler und seinen Kumpanen, beim deutschen Volk oder beim Kapitalismus? (TB 527–528). Schon damals – später wird er diesen Punkt in Matérialisme et révolution oder in der Critique de la raison dialectique besonders hervorheben – vertrat er die Ansicht, dass es nur Individuen sind, die handeln, ob allein oder in Gruppen. Es sind die Individuen, die entsprechend die Verantwortung für Handlungen tragen, und nicht die „objektiven Lagen“ oder jene Kollektive von Individuen, die Sartre als Serien bezeichnet (Klassen etc.).

Wichtig für Sartres Auffassung von Verantwortung für große Ereignisse wie Krieg wurde die Lektüre eines Buchs von Ernst Ludwig, dessen Titelheld Wilhelm II. war, der deutsche Kaiser, der die letztliche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg trug (TB 525). Das Beispiel Wilhelms II. zeige auf, «inwiefern der historische Mensch sich im Rahmen bestimmter Situationen frei vergeschichtlicht» (TB 534), «daß es keine äußeren Fakten gibt, die auf seine Persönlichkeit eingewirkt haben, sondern daß er selbst eine Totalität in einer Situation ist, daß die Situationen nur durch seine Art und Weise existieren, sich durch sie hindurch als eine Totalität zu entwerfen.» (TB 545) Es sind «Situationen, die sich hierarchisieren und gemäß der Einheit ein und desselben ursprünglichen Entwurfs unterordnen.» (TB 553).

Die Verantwortung für die Geschichte tragen die beteiligten Individuen. Die entscheidende Bedeutung kommt hierbei deren Entwürfen zu. Selbstverständlich sind an einer Entscheidung immer viele Personen beteiligt. Als am 21.2.22 der russische Sicherheitsrat den definitiven Entscheid zum Überfall auf die Ukraine fasste, gab es zustimmende Voten (wahrscheinlich auch vom ehemaligen Präsidenten Dmitrij Medvedev und von Außenminister Sergej Lavrov) und auch ablehnende (wahrscheinlich von Sergej Naryshkin, dem Leiter des Auslandsgeheimdiensts SWR). Doch aufgrund seiner legalen wie faktischen Macht ist klar, dass der Ukrainekrieg ohne Zustimmung Putins nicht stattgefunden hätte. Sein Entscheid für den Krieg muss mit Putins persönlichem Entwurf, seiner ursprünglichen Wahl vereinbar gewesen sein. Im Rückblick auf seine Herrschaft als russischer Präsident und Ministerpräsident seit 1999 ist auch klar, dass es sich hierbei nicht um einen Entwurf handelt, dem eine plötzliche radikale Änderung zugrunde lag, sondern eine relativ konstante Entwicklung seit den Anfängen seiner ersten Präsidentschaft und dessen Ursprünge wohl in der Zeit vor 1999 zu suchen sind. Wie jedem Menschen kommt auch Putin aufgrund der absoluten ontologischen Freiheit die absolute Verantwortung für seinen Entwurf zu. Mit seinem Entwurf hat er auch bestimmt, welchen Menschen er Anerkennung zuteilkommen lässt und was der mauvaise foi anheimfällt. Es waren seine mauvaise foi in Bezug auf die Ukraine, sein fehlendes Verständnis für und seine fehlende Anerkennung der Mehrheit der Ukrainer:innen, die ihn, basierend auf seinen eigenen absoluten Wahrheiten, dazu veranlassten, diesen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen.

13.1.2023




Einleitung


Le Mur, Sartres erste literarische Veröffentlichung von 1937, erzählt die Geschichte dreier Anarchisten in einem franquistischen Gefängnis zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Es ist der Abend vor ihrer Erschiessung. Ihre Körper haben sie nicht mehr unter Kontrolle. Ihr Urin geht ab. Ohne Lebenszweck, ohne Entwurf, sind alle drei schon lange tot, bevor sie erschossen werden. Pablo wird eine letzte Chance zuteil, sein Leben zu retten. Hierfür muss er den Aufenthaltsort seines Freundes Ramón Gris verraten. Pablo will den Falangisten einen Streich spielen und gibt einen falschen Ort an. Doch genau dort befindet sich Ramón, der im Gefecht erschossen wird. Es war diese Geschichte über eine Lüge, mit der Sartres herausragende literarische und philosophische Karriere begann.

Wohl nur die wenigsten Leser waren und sind sich bewusst, dass Sartre in dieser Erzählung ein Thema aufgriff, dessen Vorlage Kants Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen aus dem Jahr 1797 war. Nirgendwo sonst legte Kant die Konsequenzen seiner auf dem Kategorischen Imperativ beruhenden Pflicht­ethik so klar und deutlich wie in diesem Aufsatz dar: Lügen, selbst um eines guten Zweckes willen, ist untersagt. Kants Aussagen über das absolute Verbot des Lügens wurde zum Vorbild jener deutschen Pflichtethik, die im Dritten Reich die Grundlage der Judenvernichtung[1] und der Eroberungszüge wie des absoluten Festhaltens am Krieg bis zur Selbstvernichtung darstellte. Sartres Erzählung Le Mur endet damit, dass Pablo, nachdem er das Ergebnis seiner Lüge erfahren hatte, sich auf die Erde setzt und lacht, dass ihm die Tränen in die Augen treten. Eine definitive Antwort auf die Frage, ob Lügen zu einem guten Zweck erlaubt sei, gibt Sartre in dieser Erzählung nicht. Klar werden jedoch die absurde Kontingenz und die zentrale Stellung des Scheiterns in der conditio humana oder – um mit dem späteren Sartre der Critique de la raison dialectique zu sprechen – die Bedeutung von Knappheit, Gegenfinalitäten und Sachzwängen in der Praxis.

Das Thema der Lüge begleitete Sartre während seines ganzen philosophischen, literarischen und politischen Lebens. Auf philosophischer Ebene hebt sich Sartre durch seine Unterscheidung von mauvaise foi, im Deutschen meist als Unaufrichtigkeit übersetzt, und eigentlicher Lüge hervor. Das Thema der mauvaise foi, das mit explizitem Bezug auf Sartre auch Eingang in philosophischen Nachschlagewerken fand, war schon Gegenstand unzähliger philosophischer Arbeiten. Nicht geringer ist die Bedeutung der Lüge in Sartres literarischem Werk. Allerdings ist nicht immer offensichtlich, ob es sich nun um einen Fall der Lüge oder um einen der mauvaise foi handelt. Ist der schwule Daniel aus der Romanserie Les Chemins de la liberté unaufrichtig oder lügt er? Zumindest bei den drei Hauptfiguren aus Huis clos, bei dem vor der Einberufung geflohenen Garcin, der Lesbierin Inès und der Kindsmörderin Estelle, ist klar: sie lügen. Auch bei Vater und Franz von Gerlach aus Les Séquestrés d’Altona erkenne ich mehr Lüge als mauvaise foi. Zu offensichtlich ist die Scheinwelt, die sich beide aufbauten.

Explizit mit der politischen Lüge befasst sich Sartres Farce Nekrassov mit dem Hochstapler Georges de Valera in deren Zentrum. Mit dessen Hilfe versuchen die Massenmedien durch erlogene Berichte die politische Stimmung anzuheizen. Wahrscheinlich, weil es in der falschen Zeit spielt, in der Zeit des virulenten Antikommunismus eines Joseph McCarthy, ist diese Komödie in Vergessenheit geraten. Dabei müssten nur die Namen der Zeitungen geändert – statt Soir à Paris hieße es Die Zeit, die FAZ oder die Süddeutsche – und das Wort Kommunisten durch Russen ersetzt werden, und ein Regisseur könnte damit ein hochaktuelles Stück gestalten. Fake News sind mit Trump und Putin wieder zu einem hochaktuellen Thema geworden. Wie Dramen aus dem letzten Jahrhundert wieder aktuell aufgeführt werden können, zeigte 2015 Stefan Pucher mit seiner Inszenierung von Les Mains sales am Zürcher Schauspielhaus. Aber selbstverständlich könnte Nekrassov mit umgekehrten Vorzeichen – statt Russen die Amerikaner, statt Soir à Paris die Izvestia – auch in den Moskauer Theatern Sovremennik oder An der Taganka aufgeführt werden.

Der Vorwurf der politisch motivierten Lüge darf aber auch gegen Sartre selbst erhoben werden. Seine Weggenossenschaft mit den Kommunisten und die Unterstützung der algerischen Freiheitskämpfer des FLN, von Castros Kuba oder der Gauche Prolétarienne in Paris zu Beginn der 1970er Jahre waren nicht frei von Lügen, wie Sartres spätere Geständnisse bezeugen.

 

 

Sartre und die absolute Wahrheit im Dialog

 

Ob Lüge oder mauvaise foi, beide Begriffe setzen jenen der Wahrheit voraus. Deshalb erforscht dieser Beitrag zuerst den Begriff der Wahrheit bei Sartre. In Vérité et existence definiert Sartre die Wahrheit wie folgt (WE 17)[2]: „Die Wahrheit ist das So-wie-es-ist-Sein eines Seins für ein Subjekt-Absolutes.“ Sartres letztliches Wahrheitskriterium ist die Evidenz (WE 45). Das An-sich – sei es als physikalisch-chemische Welt, von der Natur oder als Praktisch-Inertes vom Menschen geschaffen,  oder als der Andere – existiert als kontingentes Sein unabhängig vom Für-sich. Real Existierendes unterscheidet sich von bloß Geträumten durch seine Widrigkeit (adversité). Sartre nimmt hier eine erkenntnistheoretische und ontologische Position ein, die ihn dem Realismus zuordnet. Zumindest die Vertreter der beiden größten Kirchen des 20. Jahrhunderts, jene des Katholizismus und jene des Kommunismus, dürfte Sartres Positionsbezug erfreuen. Doch Sartre war einer der wenigen wahrhaft dialektischen Denker des 20. Jahrhunderts, der Dialektik nicht auf den Voluntarismus, Apriorismus und Idealismus der stalinistischen und poststalinistischen Kommunisten reduzierte.[3] Sartres Epistemologie lässt sich wie auch seine ganze Philosophie nicht auf ein paar einfache Fundamentalsätze reduzieren, vielmehr ist seine Philosophie in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen.

Neben diesen realistischen Ansatz Sartres tritt nämlich als weiteres und höherwertiges Prinzip jenes der Intentionalität. Das Ergebnis seines einjährigen Aufenthalts am Institut Français in Berlin 1933/34 und der damals erfolgten Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Philosophie waren zwei Aufsätze, an deren Grundinhalt er zeitlebens festhielt. Der erste Text trug den Titel La Transcendance de l’ego. Esquisse d’une description phénoménologique und legte die Grundlagen für die These in L’Être et le néant, wonach das Bewusstsein leer, immer Bewusstsein (von) etwas ist. Das Bewusstsein ist nicht wie bei Descartes ein der Seele analoges Ding, eine res cogitans (d.h. ein denkendes Ding), sondern vielmehr ein Nichts (d.h. eine Verneinung jeden Dings).

Der zweite, für Sartres Epistemologie entscheidende Aufsatz trug den Titel Une Idée fondamentale de la phénoménologie de Husserl: l’intention­nalité. Hierin nahm Sartre das auf Franz Brentano zurückgehende Konzept der Intentionalität auf. Das Bewusstsein als Bewusstsein (von) etwas hat eine intentionale Struktur. Dieses Konzept stellt eine Radikalisierung von Kants Antwort auf die Frage nach den a priori Formen der Anschauung dar. Während es Kant, der nicht nur Philosoph, sondern auch Astronom[4] war, um die für die Naturwissenschaften relevanten Fragen nach Raum, Zeit, Quantität, Qualität, Relation und Modalität ging, stellten sich diese Fragen für Sartre, den Philosophen und Aspiranten auf einen Lehrstuhl für phänomenologische Psychologie[5], in viel grundlegenderer Form. In Sartres Fokus standen die Fragen nach der Herkunft der Begriffe und deren Bedeutungen sowie der mit den Sinneswahrnehmungen verbundenen emotionalen, ästhetischen und moralischen Konnotationen. Seine Antwort lautete, dass diese in den intentionalen Strukturen des Bewusstseins begründet sind. Es ist der Mensch, der mit seinen Begriffen erst der Kontingenz des An-sich Struktur verleiht. Sartre vertritt – nicht unähnlich Brentano, aber im Gegensatz zu Husserl und dessen Vorstellung einer Wesenschau auf der Basis einer eidetischen Reduktion – eine absolut nominalistische Position. Und was die emotionalen, ästhetischen und moralischen Konnotationen anbetrifft, haben diese ihren Ursprung allein in den Subjekten. Seine metaethische Position ist entsprechend jene einer anthropologischen Wertethik.[6]

Sartres Erklärung mithilfe der intentionalen Strukturen verweist auf die Frage nach der Herkunft dieser Strukturen. Sartre antwortet hierauf mit seinem Konzept des Entwurfs. Der Mensch definiert sich durch seinen Entwurf (FM 163). Für Sartre, der in seinen Anfängen auch stark von der Gestalttheorie geprägt wurde, ist das Individuum eine Totalität, eine psychosomatische Totalisierung. Das Gemeinsame, das dem menschlichen Erkennen und Handeln zugrund liegt, ist der Entwurf. In seinem Entwurf legt er die Grundstrukturen seiner Wahrnehmung, aber auch seiner Emotionalität und seiner ästhetischen und moralischen Werte fest. Ähnliche Konzepte vertraten vor und nach Sartre auch Psychologen und Psychiater wie Alfred Adler, Ludwig Binswanger oder Viktor Frankl. Selbst zu den Verhaltenstherapeuten mit ihrem Begriff der Schemata gibt es eine Parallele. Synonyme Bezeichnungen, die Sartre für den Entwurf verwendete, sind „ursprüngliche Wahl“ und gelegentlich auch „Weltanschauung“. Gerade letzterer Ausdruck, der eine deutlich politische Konnotation aufweisen kann, verweist darauf, wie sehr auch die politische Haltung eines Subjekts vom Entwurf geprägt ist. Da der Entwurf allerdings einen präreflexiven Charakter aufweist, ist er dem Individuum selbst nicht bewusst. Auch wenn der Entwurf qua Urwahl grundsätzlich einen langfristigen, sich nicht schnell ändernden Charakter aufweist, muss das Individuum ihn dennoch mit jeder Handlung neu bestätigen.

Da jedes Individuum seinen eigenen Entwurf aufweist, verfügt entsprechend jedes Individuum auch über seine je eigene Wahrheit. „Wahrheit ist subjektiv“ schreibt Sartre in Vérité et existence (WE 29). Sartre ist nicht nur Realist, sondern noch viel mehr Subjektivist. Er ist einer der größten Subjektivisten des 20. Jahrhunderts. Nicht nur vertritt er mit einer anthropologischen Wertethik eine subjektive Ethik, sondern er ist auch in Fragen der Wahrheit ein Subjektivist. Dies bedeutet aber nicht, dass er Relativist wäre. Ebenda (WE 30) schreibt Sartre: „[die Wahrheit] ist für mich wahr im Absoluten, und ich gebe sie anderen als absolute weiter.“ Mit jeder Aussage mit einem Anspruch auf Wahrheit vertritt das Individuum einen absoluten, nicht nur einen relativen Anspruch auf Wahrheit. Entsprechend gibt es nicht die eine Wahrheit, sondern nur viele Wahrheiten, nicht die Wahrheit, sondern nur Wahrheiten.

Sartre ist Subjektivist, aber kein Solipsist. Sartres Subjektivismus ist ein sozialer. Das Subjekt muss seine Wahrheit wie seine Werte resp. seine (Nicht-)Handlungen vor dem Anderen rechtfertigen. In diesem Sinn ist Sartre auch kein echter Cartesianer, denn der Andere ist dem Subjekt genauso gewiss wie er selbst. Ja, das Selbst bedarf sogar der Anderen zur Konstitution des eigenen Subjekts. Entsprechend ist für Sartre die Gesellschaft eine Ansammlung von Subjekten mit ihren je eigenen Wahrheiten und Werten, die aber zugleich aufeinander angewiesen sind. Dass Sartre das soziale Leben entsprechend immer als von Natur aus konfliktbelastend auffasste, ergibt sich schon aus seiner Wahrheitstheorie. Dies gilt nicht nur für die Zeit von L’Être et le néant, sondern auch der Critique. Noch in seinen letzten acht Lebensjahren entwickelte Sartre die Theorie eines sozialen Anarchismus. Ausgehend von den Konflikten zwischen verschiedenen subjektiven Wahrheiten und Werten und dem fundamentalen Gegensatz zwischen Macht und Freiheit trat er für eine antihierarchische und libertäre Gesellschaft ein, in der der Mensch weitgehend unabhängig vom Staat in kleinen Gruppen Gleichgesinnter lebt.[7] Nur so sah er die Möglichkeit gegeben, dass Menschen mit unterschiedlichen absoluten Wahrheiten und Werten miteinander friedlich leben können.

Auch wenn es für das Subjekt nur eine Wahrheit gibt, es kann andere Wahrheiten verstehen. Zu den ältesten Bestandteilen von Sartres Philosophie zählt die Unterscheidung von Erklären und Verstehen. Sie geht auf das Jahr 1927 zurück, als er zusammen mit Paul Nizan die französische Übersetzung von Karl Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie korrigierte, und fußt auf Vorarbeiten von Max Weber und Wilhelm Dilthey. Naturwissenschaftliche Phänomene können kausal erklärt, geisteswissenschaftliche nur verstanden werden. Zu letztern zählt auch die Produktion von Wahrheit. Erklären ist vergangenheitsorientiert, insofern es nach den vorausgegangenen Ursachen fragt, während Verstehen zukunftsorientiert ist, insofern es nach den Motiven von Handlungen fragt, nach den in der Zukunft liegenden Zwecken von Handlungen. Diesen Zwecken liegt der Entwurf eines Individuums zugrunde. An dieser Unterscheidung von Erklären und Verstehen hielt Sartre zeitlebens fest. Sie war die tragende Säule von Sartres Ablehnung der um 1960 herum heftig diskutierten Dialektik der Natur im Stile Engels oder der Sowjetkommunisten. Wie wichtig Sartre die Unterscheidung von Erklären (expliquer) und Verstehen (comprendre) war, zeigt sich darin, dass er sie 1960 noch um eine dritte Art des Erfassens, nämlich jene des Begreifens (intelliger) ergänzte. Letztere gilt für jene Bereiche, in denen wie in der Geschichte natur- und geisteswissenschaftliche Phänomene untrennbar vermischt sind.

Der Entwurf eines Subjekts ist grundsätzlich für einen Anderen verständlich. Allerdings erschließt sich einem Anderen der Entwurf eines Subjekts noch schwieriger als dem Subjekt selbst, da der Andere psychische Vorgänge, die sich innerhalb eines Individuums vollziehen, nicht unmittelbar beobachten kann. Der Andere ist auf die Beobachtung von Handlungen angewiesen, nicht zuletzt in Form von Interaktionen zwischen Menschen. Aus Handlungen lässt sich der Entwurf des Subjekts erschließen. Ich kann den Entwurf eines Subjekts verstehen, indem ich dessen Handlungen zu verstehen versuche. Hierbei kommt Sartres Unterscheidung von Praxis und Hexis zum Tragen, wobei Hexis inetwa Max Webers Kategorie des traditionalen Handelns und Praxis jener des zweck- und wertrationalen Handelns entspricht. Es ist letzteres, das als teleologisches Handeln verstanden werden kann.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen von Verstehen. Sartres Position ist klar: es ist dem Menschen grundsätzlich möglich, alles und alle zu verstehen (SN 796). In L’Existentialisme est un humanisme (EH 167) schrieb Sartre: „Jeder Entwurf, selbst der eines Chinesen, Indianers oder Schwarzen, kann von einem Europäer verstanden werden.“ Dies gilt, obgleich die für ein vollständiges Verstehen nötige Totalisation nie erreicht wird und es immer nur bei partiellen Totalisierungen, bei partiellem Verständnis bleibt. Scheitern, ein fester Bestandteil von Sartres Philosophie zur Zeit von L’Être et le néant wie zur Zeit der Critique, ist auch ein unabdingbarer Bestandteil des Prozesses des Verstehens.

Um ein Subjekt zu verstehen, entwickelte Sartre in der Critique und vor allem in den vorausgehenden Questions de méthode seine – schon in Esquisse d’une théorie des émotions (STE 318) und in L’Être et le néant vorgezeichnete (SE 797f.) – regressiv-progressive Methode. Die Anwendung dieser Methode findet sich exemplarisch im L’Idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857. Der Ausgangspunkt zum Verständnis eines Subjekts ist Sartres Definition eines Menschen als „das, was er daraus macht, wozu er gemacht worden ist.“ (CII 305). Den ersten Schritt, in dem der Mensch zu etwas gemacht wird, bezeichnet Sartre im Flaubert als die Konstituierung eines Menschen. Dieser Vorgang der Interiorisierung ist ein Prozess, der vor allem in der Kindheit sehr intensiv abläuft, aber zeitlebens nie aufhört. Die wissenschaftliche Basis zur Analyse der Konstituierung des Menschen sah Sartre in der Soziologie (resp. Ethnologie), einer materialistischen Geschichtsschreibung und vor allem der Psychoanalyse gegeben, denn das Soziale wird dem Subjekt in der Kindheit durch die Familie vermittelt. Dieses Modell der regressiven Analyse legte Sartre theoretisch ausführlich in den Questions de méthode dar, findet sich jedoch als Konzept erstmals schon im 1939 verfassten Essay Denis de Rougement: L’Amour et l’Occident (DR 45).

Der zweite Schritt ist der Prozess der Personalisierung das, was das Individuum aus der Konstituierung macht. Der Ausdruck „zweiter Schritt“ im Sinne zweier einfacher aufeinanderfolgender Schritte zu verstehen, implizierte jedoch einen Irrtum. Vielmehr stellen Konstituierung und Personalisierung eine unendliche Reihe von sich gegenseitig ablösenden und kontinuierlich ineinander übergehenden Schritten dar. Im Zentrum der Personalisierung steht der Entwurf, der allen Exteriorisierungen des Individuums zugrunde liegt. Im Prozess der Personalisierung ist das Individuum nicht mehr konstituiertes Objekt, sondern handelndes, konstituierendes Subjekt.

Dem Entwurf zugrunde liegt die absolute ontologische Freiheit. Sie stand im Zentrum von L’Être et le néant, während er in der Critique den Fokus auf die anthropologische Freiheit legte. Diese anthropologische Freiheit ist nur noch eine begrenzte. Die Prägungskraft der Konstituierung erweist sich in der Regel als sehr hoch. Die Praxis, die sowohl Erkenntnis wie Arbeit ist, stößt an ihre Grenzen, nicht nur die Grenzen der physikalisch-chemischen Welt, sondern noch viel mehr jene des Praktisch-Inerten, dessen, was die Menschen schon zuvor geschaffen haben und was zur Grundlage von dessen Entfremdung wird. Dass Sartre allerdings auch in der Zeit der Critique noch an der absoluten ontologischen Freiheit festhielt, belegt die Wiederholung des schon in L’Être et le néant erfolgten Verweises auf die Freiheit des Sklaven in der Critique (KDV1 612).

Es ist die Praxis, in der sich sowohl die Produktion von Wahrheiten wie das Verstehen von Wahrheiten vollzieht. Wahrheit entsteht in zwischenmenschlichen Prozessen und damit auf der Basis zwischenmenschlicher Abhängigkeiten. Für Sartre gibt es deshalb keine objektiven Beobachter, keine objektiven Wissenschafter: der Geisteswissenschafter, der selbst Gegenstand der Geschichte ist, und sein Gegenstand bilden immer ein Paar, wie Sartre in Questions de méthode festhielt (FM 78). Für Sartre, damit das Konzept des hermeneutischen Zirkels erweiternd, setzen die Produktion und das Verstehen von Wahrheiten immer andere Wahrheiten und deren vielfältiges Verständnis voraus. Nach Sartre gibt es keine ewigen Wahrheiten. Er grenzt sich selbst von Hegel ab, indem er betont, dass Wahrheit mehr als eine gewordene Wahrheit, vielmehr immer eine werdende Wahrheit ist (WE 31). Produktion und Verstehen von Wahrheit ist nie ein abgeschlossener, vollendeter, sondern immer nur ein sich vollziehender Prozess.

Für Sartre gibt es nicht nur eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten. Jede hat ihren eigenen Absolutheitsanspruch, deren Anspruch das Subjekt jedoch vor den Anderen verteidigen muss. Aber, auch wenn das Subjekt den Wahrheiten der Anderen nicht zustimmt, es kann sie verstehen. Was bedeutet diese Theorie der Wahrheit für das Verständnis der geschichtlichen Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts? Es gab zwar immer wieder Perioden intensiverer Produktion von neuen Wahrheiten – denken wir an jene der Renaissance und Reformation. Doch die Produktion neuer Wahrheiten hat seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein sowohl in ihrer Quantität wie ihrer Diversität und ihrem Tempo ein zuvor unbekanntes Ausmaß angenommen. In den Industrieländern wurden die theistischen Religionen als Träger von Weltanschauungen weitgehend durch säkulare Ideologien abgelöst. Eine der ersten war der Liberalismus; ihm folgten bald Nationalismen der unterschiedlichsten Art, dann Sozialismus und Faschismus. Man kann diese Ideologien auch als säkulare Religionen bezeichnen, weil sie von ihrer Prägung als Weltanschauungen und ihren Strukturen und Verhaltensvorschriften her oft den Charakter von Religionen annahmen.

Wir mögen uns heute als Vertreter eines aufgeklärten Zeitalters verstehen, in dem die großen Erzählungen dekonstruiert sind. Doch die Mechanismen der Entwicklung neuer Ideologien resp. Religionen funktionierten sich auch in den letzten Jahrzehnten. Nach wie vor entstehen neue (säkulare) Religionen, auch in Europa, und sie weisen den traditionellen Charakter von Religionen als Strukturen von Denk- und Verhaltensvorschriften mit einem Absolutheitsanspruch auf, der das Verstehen des Anderen massiv behindert. Höchstens entfällt aufgrund der antiautoritären Revolution des Mai 68 gelegentlich das Element der zentralen einheitlichen Struktur und Lenkung. Zu den neuen wirkmächtigen Religionen, die sich in den letzten Jahrzehnten etablierten, müssen insbesondere die des Umweltschutzes und jene gezählt werden, die ich die Europäische nenne, deren wichtigste Dogmen jene der Europäischen Einheit und der Menschenrechte sind und deren Kathedralen in Brüssel und Strassburg stehen. Die Behauptung, dass Umweltschutz, Europäische Einheit und Menschenrechte die Dogmen neuzeitlicher Religionen, soll keine Kritik an den Zielen selbst sein – auch wenn im Rahmen von Sartres anthropologischer Wertethik die Vorstellung von allgemeingültigen, universellen Menschenrechten abzulehnen ist, da, wie auch die Historiker zustimmen, diese vielmehr in speziellen historischen Situationen geschaffen wurden. Was im Rahmen dieses Essays interessiert, sind nicht die einzelnen politischen Positionen – ob Griechenland im Euro bleiben soll oder eher ein Grexit befürwortet wird, ob für oder gegen Klimawandel, Homoehe ja oder nein, Putin oder Poroshenko –, sondern nur die metapolitische Ebene, die Frage, wie der politische Diskurs hierüber stattfindet.

Was wir für unsere Zeit in Anspruch nehmen können, ist zweifellos, dass sich die Zahl der Wahrheiten und damit die Heterogenität der Gesellschaft in einem früher undenkbaren Ausmaße vermehrt haben. Selbst grundlegenden „Wahrheiten“, die jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang unsere Gesellschaften geprägt haben wie jene, die mit patriarchalischen, antisemitischen, negrophoben oder homophoben Vorstellungen und den entsprechenden Diskriminierungen einhergingen, sahen und sehen sich mit neuen Wahrheiten konfrontiert. Die gestiegene Zahl der Wahrheiten ist gleich einer gestiegenen Zahl absoluter Wahrheiten. Sehr oft handelt es sich dabei um Wahrheiten, die religiöse Züge annehmen. Die Diskussionen auf Internetforen um die Griechenland- oder die Flüchtlingskrise, um Muslime in Europa und die Verteidigung des Abendlands (inkl. Pegida), Schwulenehe und -adoptionsrecht oder den Ukrainekonflikt bestätigen in erschreckendem Maße den Charakter dieser Diskussionen als religiöse Konflikte, als Konflikte zwischen säkularen Religionen. Das Auftreten neuer Konflikte mit theistischen Religionen wie dem islamischen Fundamentalismus (ob in dschihadistischer Form oder nicht), das an die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts erinnert, vergrößert die Palette möglicher Kriege zusätzlich zu den für das 20. Jahrhundert typischen Konflikten zwischen säkularen Religionen (wie dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg). Nicht nur gibt es schon terroristische, von Extremisten verursachte Attentate und Kriege, mindestens ebenso beängstigend ist, dass Gesprächsverweigerungen, Exkommunikationen und das Erlassen von Bannbullen gegenüber dem Gegner inzwischen wieder zum Standardrepertoire selbst der Politik gemäßigter Kräfte gehören. Vergangen sind die Tage des Helsinki-Prozesses, als Anfang der 1970er Jahre die damaligen Hauptgegner sich entschlossen, zugunsten der Prävention möglicher Kriege das unbeschränkte Gespräch mit dem politischen Gegner zu suchen. Nicht nur die USA, für die Krieg und Gesprächverweigerung immer valable Alternativen waren, auch die EU und ihre regierenden Eliten setzen zunehmend auf Maßnahmen, die ihren Ursprung im kirchlich-religiösen Bereich hatten. Wie der Fall des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine zeigt, wo seit Beginn, nämlich seit dem Sturz Janukowitschs, ein Zustand beiderseitiger Gesprächsverweigerung und gegenseitiger Diffamierung herrscht, ist von der Gesprächsverweigerung nur noch ein kurzer Schritt hin zum Krieg. Heute brennen bei uns Flüchtlingsheime, und wir müssen uns fragen, wieweit die Gesprächsverweigerung unserer politischen Eliten dazu beitrug. Sigmar Gabriels Besuch an einer Diskussionsveranstaltung der Pegida im Januar 2015 erntete leider nur Kritik und fand keine Nachahmer.



[1] Adolf Eichmann berief sich in seinem Prozess in Jerusalem 1961 explizit auf Kant. Hierbei mag ihm ein Fehler in der Güterabwägung unterlaufen sein, in dem er die Maxime, dass dem Befehl eines Vorgesetzten zu gehorchen ist, über alternative Maximen und insbesondere die zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs setzte, dass der Mensch nie bloß Mittel, sondern immer auch Zweck sein muss. Doch die Gefährlichkeit einer Ethik, der die Mittel wichtiger als der Zweck sind, lässt sich nicht bestreiten.


[2] Das Verzeichnis der Siglen findet sich am Ende dieses Essays.


[3] Sartre, der sich erstmals in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, in Questions de méthode, in aller Deutlichkeit und Klarheit zur Dialektik bekannte, war ein Dialektiker avant la lettre. Schon in L’Être et le néant finden wir Sätze, die jeden Dialektiker erfreuen, Sätze wie bspw. „dass sich das Sein des Für-sich […] definieren lässt als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist.“ (SN 42)


[4] Kant war nicht nur ein Begründer der modernen Philosophie, sondern entwickelte zuvor in seiner Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) eine Theorie über die Entwicklung des Universums und die Entstehung des Planetensystems, der als Kant-Laplace-Theorie auch heute noch die ihr gebührende Stellung zukommt. Als Astronom und Philosoph hielt er am Schluss der Kritik der praktischen Vernunft fest, dass zwei Dinge ihn mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen: „Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-praktischen-vernunft-3512/34, S. 300, 24.12.2015)


[5] Siehe Sartre und der Lehrstuhl für phänomenologische Psychologie.


[6] Siehe Sartre und Beauvoir - eine Ethik fürs 21. Jahrhundert.


[7]Libertaire“ ist im Französischen ein Synonym für anarchistisch. Sartre war allerdings weniger Anarchist als, was die übergeordnete politische Ebene anbetrifft, ein Minarchist. Eine solche politische Ordnung würde den Subjekten erlauben, sich in kleineren politischen Einheiten zu organisieren, so dass sie ihren je eigenen Bedürfnissen gemäß zu leben vermöchten. Für Sartre bedeutete das Ende der (Vor-)Geschichte auch das Ende des Staates, der Beginn des Reichs der Zwecke und der Moral und die Verwirklichung des Grundsatzes „jedem nach seinen Bedürfnissen“. Er sah das Ende der Geschichte allerdings noch lange nicht gekommen. Und das Ende der Geschichte identifizierte er auch mit dem Tod, denn das menschliche Leben, die conditio humana, setzte er mit einem Leben in Widersprüchen und mit notgedrungenem Scheitern gleich.





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