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Wahrheit, Anerkennung, Verstehen und mauvaise foi.

Reflexionen über Krieg und Frieden (Teil 2)

 

… neu mit einem Vorwort aus dem Jahr des Ukrainekriegs 2022/23

Alfred Betschart 

 

Krieg, Anerkennung und Verstehen

 

Das Kolloquium trägt den Titel „Über Lügen im Zeitalter des Krieges“. Nur zu leicht könnte man schon aufgrund des Titels versucht sein zu behaupten, dass die Lüge am Anfang des Krieges stünde. Dies wäre jedoch ein Fehlschluss. Nicht Lügen, sondern Wahrheiten stehen am Anfang von Kriegen – und zwar absolute Wahrheiten. Der Krieg ist das ultimative Mittel, um den eigenen absoluten Wahrheiten durch den Versuch Geltung zu verschaffen, den Anderen zum Objekt zu degradieren. Die Anerkennung des Anderen als Subjekt ist ein zentraler Begriff in den Cahiers pour une morale. Dessen Grundlagen wurden allerdings schon in L’Être et le néant gelegt. Einer der bekanntesten Teile von L’Être et le néant beschäftigt sich mit dem Blick. Das Verhältnis des Betrachters zum betrachteten Objekt verändert sich grundlegend, wenn es sich beim betrachteten Objekt nicht um ein Ding, sondern um ein anderes Subjekt handelt. Im Blick begegnen sich zwei Subjekte. Einerseits entfaltet sich zwischen den beiden der Konflikt um ihr je eigenes Subjekt-Sein. Entsprechend konnte Sartre schon in L’Être et le néant schreiben: „Der Konflikt ist der ursprüngliche Sinn des Für-Andere-seins“ (SN 638). Dies ist die Vorstufe zu dem, was er noch prägnanter in Huis clos als „Die Hölle, das sind die Anderen“ beschrieb[1]. Welche entscheidende Bedeutung dem Blick in Huis clos zukommt, zeigt sich darin, dass den drei Hauptfiguren in der Hölle die Augenlieder fehlen: sie sind dazu verdammt, sich immer gegenseitig anzuschauen. Hierbei ist der Blick nicht abstrakt zu verstehen. In Sartres Theorie der sozialen Beziehungen handelt es sich beim Anderen nicht um einen allgemeinen Anderen, der sozusagen als Stellvertreter der gesamten Menschheit handelt, sondern immer um den konkreten Anderen, um das effektive Gegenüber.

Doch das gegenseitige Anblicken impliziert nicht nur den Konflikt, sondern das Subjekt erfährt sich andererseits auch erst durch den Anderen als Subjekt. Der Blick des Anderen stellt die Frage nach dem „Wer bist Du?“. So sehr der Entwurf des Subjektes ein individueller willkürlicher Akt ist, die Identität des Subjekts definiert sich immer in Abhängigkeit vom Anderen. Nichts macht dies deutlicher, als wenn der Andere versucht durch seine Begrifflichkeit mein Sein zu definieren. In den Réflexions sur la question juive analysiert Sartre dieses Doppelspiel zwischen zwei Subjekten unter Bezugnahme auf das Verhältnis des Antisemiten und des Juden. Es ist der Antisemit, der den Juden macht (ÜJ 44). Der Antisemit macht den Juden zum Objekt, indem er seine eigenen Ängste auf den diskriminierten Anderen projiziert (ÜJ 35f.). Der Andere versucht dem Subjekt, sei dies nun eine Frau oder ein Mann, ein Schwarzer oder Weißer, ein Hetero- oder Homosexueller, seine Ansicht bezüglich dessen Sein aufzudrängen, indem er ihn mit seinen Stereotypen konfrontiert. Diese Stereotypen sind jedoch nur Produkte des Bewusstseins des Anderen und sagen deshalb mehr über den Anderen als über das Subjekt aus.

Im Kampf zweier Subjekte geht es letztlich um die Frage der Anerkennung des Anderen als Subjekt in all seiner Freiheit. Wenn das Subjekt auf den Blick des Anderen mit Scham, Furcht oder Stolz reagiert, so zeigt sich hierin die Anerkennung des Anderen als Subjekt. Sartres Begriff der Anerkennung fußt auf Alexandre Kojèves Interpretation von Hegels Herr-Knecht-Verhältnis[2]. Er ist zwar mit dem Begriff der Menschenwürde verwandt, der letztlich auf Kants kategorischen Imperativ zurückgeführt werden kann, doch er ist abstrakter. Die Anerkennung des Anderen als Subjekt impliziert nicht die Anerkennung der Richtigkeit oder Berechtigung von Wahrheiten, Werten, Bedürfnissen, Begehren oder welcher Ableitung immer aus dessen individuellem Entwurf. Die Anerkennung des Anderen ist – beispielhaft im Herr-Knecht-Verhältnis – die Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen. In den Cahiers führt Sartre so unterschiedliche Formen sozialer Beziehungen wie die Bitte, die Forderung oder den Appell an. Sie alle beruhen auf der Anerkennung des Anderen als Subjekt in seiner persönlichen handelnden Freiheit.

Im dritten Teil von L’Être et le néant analysiert Sartre verschiedene intersubjektive Verhältnisse, auf die er in den Cahiers zum Teil wieder Bezug nimmt. Die Liebe ist für ihn der unrealisierbare Versuch des Subjekts, sich mit einem anderen Subjekt zu vereinigen und dessen Freiheit als Freiheit zu besitzen (SN 641, 643). Wie er später in den Cahiers betont, setzt Liebe eine tiefere Anerkennung des Anderen und das Verstehen von dessen Freiheit voraus (EM 725). Das Gegenteil von Liebe ist Hass. Im Hass versucht das Subjekt, seine Freiheit wiederzugewinnen, indem es den Anderen als Objekt zerstören will (SN 716). Zu den Formen von Hass zählen auch der Antisemitismus, weitere Arten von Rassismus, Homophobie, aber auch religiöser oder sozialer Hass. Liebe ist wesentlich mit Anerkennung und Verstehen des Anderen verbunden. Hass beruht entsprechend auf Nicht-Anerkennung und Nicht-Verstehen. In der Critique hält Sartre später fest, dass Ausbeutung und Unterdrückung das Gegenteil der gegenseitigen Anerkennung darstellen (KDV1 116).

L’Être et le néant enthält auch die großartige Analyse von Masochismus und Sadismus. Sartre gemäß sind sowohl die Versuche des Masochisten wie des Sadisten zum Scheitern verurteilt. Der Masochismus stellt den unrealisierbaren Versuch dar, mich, meinen Körper, ganz und gar zum Objekt zu machen (SN 660-663), und der Sadismus den unrealisierbaren Versuch, den Körper des Anderen ganz zum Objekt zu machen, die Freiheit des Anderen zu unterwerfen (SN 698, 703). Doch der Masochist wie der Sadist scheitern, da das Opfer immer ein eigenständiges Subjekt in seiner Freiheit bleibt. Dass es dem Sadisten nicht gelingt, den Anderen vollständig zum Objekt zu machen, erfährt er spätestens dann, wenn das Opfer ihn anblickt (SN 707). Ebenso scheitert der Hass, da der Hass letztlich die Anerkennung der Existenz des Anderen voraussetzt (SN 718). Die ultimative und einzige Möglichkeit, den Anderen zum Objekt werden zu lassen, ist, ihn zu töten, der Krieg. Nur totes Fleisch kann Objekt sein. Solange der Andere lebt, wird er immer Subjekt sein und bleiben. Der Krieg ist der Akt, in dem der Andere versucht, die Anerkennung des Subjekt-Seins des Subjekts in seiner Freiheit zu vermeiden, indem er das Subjekt tötet. Entsprechend besteht der Unterschied zwischen dem friedlichen Disput und dem Krieg darin, ob ich den Anderen als Subjekt anerkenne oder ihn zum absoluten Objekt reduzieren will.

Die letztliche Begründung für die Liebe resp. den Hass eines Subjekts findet sich in dessen Entwurf. Dies verweist auf die Bedeutung von Religionen und politischen Weltanschauungen als den säkularen Formen von Religionen als Rechtfertigungen für Krieg. Religionen und Ideologien sind Formen des objektiven Geistes, wenn nicht ganzer Gesellschaften, so doch von gesellschaftlichen Milieus, die gleichermaßen Produkt individueller Entwürfe sind wie die Situation bestimmen, in der die individuellen Entwürfe erfolgen. Da Krieg – aber auch Frieden – ultimativ auf individuellen Entwürfen basiert und jeder Entwurf letztlich einen acte gratuit, eine willkürliche Handlung, in ihrer ganzen Irrationalität darstellt, beruht auch der Entscheid für oder gegen Krieg letztlich auf einer irrationalen Entscheidung.[3]

Entwürfe sind immer individuelle Entwürfe. Sartre lehnt explizit Émile Durkheims Vorstellung ab, dass es kollektive Formen gibt, die jenseits der menschlichen Subjekte existieren (WS 73). Es gibt nicht die Klasse an sich, sondern nur Subjekte, die zusammen eine Klasse bilden. Nicht Klassen handeln, sondern Subjekte, die sich zu Gruppen zusammenschließen.[4] Die Tatsache, dass Kriege letztlich auf individuellen Entwürfen basieren, bedeutet jedoch weder, dass es spezifische Individuen wären, die für Kriege die Alleinverantwortung trügen, noch dass der Krieg allein durch individuelle Entwürfe zu begründen ist. Der individuelle Entwurf, der den Kernbestandteil der Personalisierung eines Individuums bildet, setzt immer eine entsprechende Konstituierung des Individuums durch eine in Raum und Zeit kontingente Situation voraus. So wie es Freiheit nur in Situation gibt, so gibt es auch nur den Entwurf in einer kontingenten Situation.

In Questions de méthode und noch deutlicher in Saint Genet (SG 85) und in Jean-Paul Sartre répond (SR 95) hielt Sartre fest, dass der Mensch das ist, was er daraus macht, wozu er gemacht worden ist. Sartre verneint nicht die Bedeutung der von Marxisten oft erwähnten objektiven Interessen. Die objektiven Interessen sind Ausdruck einer kontingenten Situation. Doch so spezifisch eine Situation ist, sie determiniert nicht das Handeln des Subjekts. Subjektives Handeln basiert immer sowohl auf der Situation wie dem Entwurf des Individuums. Wie Sartre schon in Matérialisme et révolution kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Diskussion mit den Kommunisten festhielt, mag es zwar eine objektiv revolutionäre Lage geben, aber es braucht immer den subjektiven Entwurf des Revolutionärs und das darauf basierende subjektive Engagement des Revolutionärs, damit es zu einer Revolution kommt. Ob die objektive Unterdrückung durch die Kolonisatoren zu einem bewaffneten Aufstand wie in Algerien oder zu gewaltfreien Aktionen wie im Falle von Mahatma Gandhis Indien führt, hängt letztlich von den Entwürfen der beteiligten Individuen ab. In seiner Kritik an den Strukturalisten (Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser, Michel Foucault) in Jean-Paul Sartre répond bestritt Sartre nicht die Bedeutung der Strukturen, sondern kritisierte nur, dass die Strukturalisten den Menschen als handelndes Individuum „weggedampft“ hatten, so dass dem, was der Mensch schuf und nur er allein wieder ändern kann, der Charakter von geologischen Strukturen zuteilwurde.

Ebenso wenig darf die Auffassung, dass Krieg letztlich auf individuellen Entwürfen beruht, dazu führen, die Verantwortung für Krieg allein einzelnen Individuen zuzuordnen. Für den Zweiten Weltkrieg waren nicht nur Adolf Hitler und seine Entourage verantwortlich. Dem objektiven Geist einer bestimmten Epoche kommt, wie Sartre im vierten Teil von Sartres L’Idiot de la famille aufzeigte, zwar durchaus eine große Bedeutung zu. Hitlers Erfolg basierte auf der Tatsache, dass er den objektiven Geist seiner Zeit besser als alle anderen Politiker verkörperte. Es ist der objektive Geist, der sowohl die Konstituierung wie die Personalisierung der Individuen beeinflusst. Hitlers Entwurf war in seinen extremen Ausprägungen zwar nicht repräsentativ für die Mehrheit der Entwürfe der Deutschen, wies allerdings mit seinem Rassismus und Antisemitismus so viele Gemeinsamkeiten mit dem Entwurf des Durchschnittsdeutschen auf, dass er diesen zu seinen Gunsten mobilisieren konnte. Doch das Individuum kann und darf seine Verantwortung und damit auch seine Verantwortung für Krieg oder Frieden nicht auf den objektiven Geist oder die Umstände abschieben. Die letztliche Verantwortung für Krieg verbleibt beim einzelnen Subjekt.

Nach Sartre sind Hass und Liebe und damit Krieg und Frieden gleichermaßen irrational und zum Scheitern verurteilt. Verbleibt uns entsprechend nur noch die Resignation in einem Leben fortwährender Konflikte zwischen den Subjekten? Aufgrund der Omnipräsenz zwischenmenschlicher Konflikte in Sartres literarischem Schaffen wird diese These immer wieder vertreten. Doch Sartre, ein ausgesprochen sozialer Mensch, war nicht ein verspäteter Henry David Thoreau, der sich in die Wälder zurückzog. Wer eine radikale Wende zwischen dem Sartre von L’Être et le néant, wo der ontologische Konflikt im Zentrum steht, und dem Sartre der Critique de la raison dialectique postuliert, wo der Mensch im anthropologischen Sinne als Gruppenwesen dargestellt wird, irrt sich. Der dialogische Charakter der Philosophie in L’Être et le néant ebenso wie die hohe Anzahl der dort geschilderten Beispiele aus der alltäglichen Lebenswelt belegen, wie sozial Sartres Philosophie schon in den 1940er Jahren angelegt war.

Krieg ist die ultimative Form des Hasses und der Verweigerung der Anerkennung des Anderen als Subjekt. Doch daraus zu schließen, dass Liebe die Grundlage des Friedens sei, wäre verfehlt. Anders als die Hippie-Bewegung der 1960er Jahre, die mit ihrem make love, not war dem Krieg die (sexuelle) Liebe entgegenhielt, zeigte Sartres ein ausgesprochenes Misstrauen gegenüber der Liebe. Letztlich ist auch sie zum Scheitern verurteilt.[5] Auf der Basis der Cahiers und insbesondere seiner Äußerungen zum israelisch-arabischen Konflikt erkenne ich die Voraussetzung für Frieden nicht in der Liebe, sondern vielmehr im gegenseitigen Verstehen. Schon in den Cahiers hielt er fest: „Die Freiheit des Anderen konkret anerkennen heißt in Wirklichkeit, sie in ihren eigenen Zwecken anerkennen, […] heißt sie verstehen“ (EM 496). Explizit zu dieser Abhängigkeit des Friedens vom Verstehen äußerte sich Sartre in seinem Beitrag Pour la vérité, einer Stellungnahme zum israelisch-arabischen Konflikt.

In anderen kriegerischen Konflikten wie dem Algerien- oder dem Vietnamkrieg tat Sartre sich dadurch hervor, dass er radikal für eine Seite Partei ergriff. Im Algerienkrieg stand er auf der Seite der Algerier im Kampf gegen die Franzosen und im Vietnamkrieg auf der Seite der (pro-)kommunistischen Kräfte im Kampf gegen die Amerikaner und deren Verbündete. Sartre stellte sich in Kriegen immer auf die Seite der Unterdrückten, die sich mit Gegengewalt zu befreien suchten, und setzte sich immer für ein Ende der Unterdrückung und damit des Krieges ein. Dem israelisch-arabischen Konflikt kommt insofern eine besondere Stellung zu, weil es sich hier nicht um einen Konflikt zwischen Unterdrückern und Unterdrückten handelt, sondern zwischen Opfern von Unterdrückung: die Juden in Israel als Opfer der Unterdrückung in Europa und die Araber als Opfer der kolonialen Unterdrückung im Nahen Osten und in Nordafrika.

In den Jahren 1965–67, in der Zeit unmittelbar vor dem Sechs-Tage-Krieg versuchte Sartre einen Beitrag zur Verhinderung des Kriegs zwischen den beiden Parteien zu leisten, indem er das Verständnis zwischen den beiden Parteien zu fördern beabsichtigte. Es war eine Sondernummer der Temps Modernes unter dem Titel Le conflit israélo-arabe geplant, in der ein Versuch eines Dialogs zwischen israelischen und arabischen Intellektuellen beabsichtigt war. Nach langwierigen Problemen konnte die Nummer erst 1967 erscheinen, wobei Sartre im Vorwort unter dem Titel Pour la vérité eingestehen musste, dass der Dialog gescheitert war. Es verblieb nur ein Dialog der israelischen Intellektuellen mit den europäischen und der arabischen mit den europäischen. Doch die Grundzüge seines Projektes sind klar:

„Sie werden uns davon abhalten, […] zu schnelle Schlüsse zu ziehen, zu schnell einen Blickwinkel einzunehmen und auf diesem aus Bequemlichkeit oder Voluntarismus zu beharren, ohne daß der andere Gesichtspunkt wenigstens eine Verunsicherung hervorriefe. Ich behaupte hier nicht, man müsse nach Versöhnung trachten, noch, daß man nicht eine Position wählen und an ihr unter Ausschluß der anderen festhalten könne. Ich sage nur, man muß wenigstens wissen, daß das, was man ausschließt, von Menschen aus Fleisch und Blut gedacht wurde“. (FW 166)

Den Anderen als Subjekt anzuerkennen und ihn zu verstehen zu versuchen als Mittel gegen den Krieg und Kriegsgefahren – dies war Sartres Rezept im israelisch-arabischen Konflikt.

Auch seine kurz zuvor im Februar/März 67 erfolgte Reise nach Ägypten und Israel sollte dem Zweck dienen, den Dialog zwischen arabischen und israelischen Linken in Gang zu bringen. Ein weiterer Versuch, das Verständnis zwischen den beiden Konfliktseiten im Nahen Osten zu verbessern, fand ein Jahr vor Sartres Tod statt. Nachdem ein Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel abgeschlossen worden war, schien die Zeit für einen definitiven Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn günstig. Benny Lévy, Sartres Sekretär, organisierte einen Dialog zwischen israelischen und arabischen Intellektuellen, an dem auch Sartre teilnahm. Dieser Konferenz im März 79 war allerdings kein größerer Erfolg als den Bemühungen in den Jahren 1965-67 beschieden.

Sartres Bemühungen um ein Zusammenleben der Menschheit ohne Krieg hatte seine Grundlage im gegenseitigen Verstehen, das wiederum auf der Anerkennung des Anderen als Subjekt beruht. Das gegenseitige Verstehen stellt jedoch nicht nur das Fundament des Friedens dar, sondern ist ganz grundsätzlich die Grundlage des Lebens in sozialen Gruppen. Es ermöglicht dem Subjekt, das felsenfest von der absoluten Wahrheit seiner Ansichten und der absoluten Richtigkeit seiner Werte überzeugt ist, mit anderen Subjekten mit ihren je eigenen absoluten Wahrheiten und absoluten Werten zu kooperieren. Noch einmal sei an dieser Stelle auf Sartres späte politische Philosophie verwiesen, die er in seinen letzten zehn Lebensjahren primär in Interviews darlegte. Um ein weitgehend konfliktfreies Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, trat Sartre dafür ein, dass die Menschen sich autonom in kleinen bis mittelgroßen Gruppen organisieren, die auf gemeinsamen Wahrheiten und Werten beruhen. Auf solcher Grundlage lässt sich gegenseitige Anerkennung und gegenseitiges Verständnis viel leichter realisieren als in den konfliktuösen Verhältnissen eines Nationalstaats.

Verstehen des Anderen bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf die eigene absolute Wahrheit. Madame de Staël postulierte als erste in Corinne ou l’Italie: „comprendre, c’est pardonner“. Friedrich Nietzsche und Lev Tolstoj radikalisierten diese Vorstellung in „tout comprendre, c’est tout pardonner“.[6] Doch im Gegensatz zu Nietzsche und Tolstoj impliziert Sartres Auffassung von Verstehen nicht ein Vergeben, sondern nur eine Toleranz der absoluten Wahrheit des Anderen bei gleichzeitigem Festhalten an der eigenen absoluten Wahrheit. Das Verstehen des Anderen bedeutet nur die Anerkennung des Anderen als Subjekt mit seinen eigenen Wahrheiten und eigenen Werten ohne Verzicht auf die eigene absolute Wahrheit und die eigenen Werte. Verstehen wird somit auch nicht durch unsägliche Relativierungen zu einem Hindernis für Engagement. Vielmehr stellt Verstehen die Grundlage von Engagement dar.

Der enge Zusammenhang zwischen dem Verstehen des Anderen und Konfliktlösung resp. Vermeidung von Kriegen findet sich übrigens nicht nur in Sartres Denken, sondern ist auch einer der Grundlagen des bedeutendsten Konzepts erfolgreichen Verhandelns ist, des sog. Harvard-Konzepts. Heute findet das Harvard-Konzept zwar überwiegend nur noch in der Wirtschaft Anwendung. Das gegenwärtige politische Klima mit seinem Moralismus und seiner Political Correctness ist ungünstig für die vom Harvard-Konzept propagierten Kompromisse. Dem war jedoch nicht immer so. Einer der Begründer des Harvard-Konzepts, Roger Fisher, benutzte dieses erfolgreich in den Verhandlungen zwischen Sadat und Begin, die 1978 zum Camp David-Abkommen führten, aber auch in den Verhandlungen um die Geiselkrise zwischen Iran und den USA oder in El Salvador und Südafrika.

Sartres Modell von Anerkennung und Verstehen wie dem Harvard-Konzept ist eigen, dass Frieden beiderseitiges Verstehen des Anderen voraussetzt. Durch Verstehen des Anderen kann ein Konflikt vermieden resp. beendet werden – dies gilt nicht nur für Krieg, sondern auch für Konflikte in der Ehe, am Arbeitsplatz oder in der Politik. Erforderlich ist immer ein gegenseitiges Verstehen. Entsprechend muss auch der Unterdrückte seinen Unterdrücker verstehen. Dass der Befreiungskrieg in Algerien – anders als Camus meinte – unvermeidbar war, hatte seine tieferen Ursachen darin, dass beide Parteien, die Franzosen, insbesondere auch die Algerienfranzosen, und die muslimischen Algerier absolut kein Verständnis für den Anderen aufbrachten. Die Anforderung, dass alle Seiten eines Kriegs für die anderen Parteien Verständnis aufbringen müssen, stellt eine sehr hohe Anforderung dar, denn niemand kann gezwungen werden, den Anderen zu verstehen. Dies trägt wohl auch viel zur historischen Ubiquität von Krieg bei. Durch nur einseitiges Verständnis lässt sich ein Frieden meist nicht sichern (außer der andere kapituliert). Es kann sogar so sein, dass, wie der Fall des Münchner Abkommens 1938 belegt, einseitiges Verständnis kriegsfördernd wirkt. Das Verständnis, das Frankreich und Großbritannien für die Folgeprobleme der Versailler Verträge mit Bezug auf das Sudetenland aufbrachten, hatte Hitler, der absolut kein Verständnis für Andere hatte, noch ermutigt, später ganz Tschechien zu besetzen und Polen anzugreifen.

Auch der Blick zurück auf die Geschichte des Menschen mit seinen Kriegen, zeigt, wie bedeutungsvoll das Verstehen des Anderen für die Vermeidung von Krieg ist. Ob wir die Inquisition des Mittelalters, die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die Kolonialkriege des 19. oder 20. Jahrhunderts oder die beiden großen Weltkriege des 20. Jahrhunderts nehmen, immer war es so, dass die angreifende Partei die eigenen Wahrheiten absolut setzte und sich nicht darum bemühte, die Wahrheit der Anderen zu verstehen. Homo homini lupus ist keine Naturgesetzlichkeit. Doch Krieg war historisch immer mit fehlendem Verständnis des Anderen und damit der Empathie zum Anderen verbunden. Wir können aber auch die aktuellen Kriege in der Ukraine, in Syrien oder im Jemen nehmen und werden dasselbe Muster feststellen. Putin und Poroshenko halten gleichermaßen an ihren eigenen absoluten Wahrheiten fest, ohne sich darum zu bemühen, jene des anderen zu verstehen. Im Kampfbegriff des „Putinverstehers“ wird sogar deutlich zum Ausdruck gebracht, dass den Anhängern der einen Partei das Bemühen um das Verständnis der Anderen vollkommen unerwünscht ist. Beim Verstehen handelt es sich in der Tat um einen sehr subversiven Begriff, denn das Verständnis des Anderen und von dessen Interessenlage gefährdet die eigene absolute Wahrheit und kann dem Krieg die nötige absolute Wahrheit als dessen Grundlage entziehen.

 

 

Krieg und mauvaise foi

 

Gemeinhin setzen wir der Wahrheit die Lüge entgegen. Doch dies ist eine unangebrachte Vereinfachung. Schon die Lüge an sich taucht in vielfältiger Form auf. Wenn jemand auf die Frage nach seinem Befinden antwortet, dass es ihm gut gehe, obwohl er zuhause große Sorgen hat, dann ist dies eine andere Form von Lüge, als jene Putins, der bestritt, dass es sich bei den grünen Männchen auf der Krim um russische Soldaten handelte. Und nicht jede Nicht-Wahrheit ist Lüge. Sartre unterscheidet entsprechend verschiedene Formen von Nicht-Wahrheit. Sehr oft ist Nicht-Wahrheit simples Nicht-Wissen. Wenn ein Schüler in der Prüfung eine falsche Antwort gibt, liegt kein Fall von Lüge vor. Für Sartre gibt es aber nicht nur Nicht-Wissen und Lügen als Formen von Nicht-Wahrheit. Er kennt noch eine dritte, nämlich jene der mauvaise foi, auf deutsch meist als Unaufrichtigkeit übersetzt. Sehr ausführlich kommt Sartre auf diese in L’Être et le néant zu sprechen:

 

            Oft setzt man [Unaufrichtigkeit] mit der Lüge gleich. Ohne zu unterscheiden, sagt man von einer Person, sie sei unaufrichtig oder sie belüge sich selbst. Wir stimmen zwar zu, daß die Unaufrichtigkeit ein Sich-selbst-Belügen ist, sofern nur das Sich-selbst-Belügen vom Lügen schlechthin unterschieden wird. […] Das Wesen der Lüge impliziert ja, daß der Lügner über die Wahrheit, die er entstellt, vollständig im Bilde ist. Man lügt nicht über das, was man nicht weiß, man lügt nicht, wenn man einen Irrtum verbreitet, dem man selbst erliegt, man lügt nicht, wenn man sich irrt [SN 120f: …]. Bei der Unaufrichtigkeit geht es zwar auch darum, eine unangenehme Wahrheit zu verbergen oder einen angenehmen Irrtum als Wahrheit hinzustellen. Die Unaufrichtigkeit hat also scheinbar die Struktur der Lüge. Aber alles ist dadurch verändert, daß ich in der Unaufrichtigkeit mir selbst die Wahrheit verberge. Daher gibt es hier keine Dualität von Täuscher und Getäuschtem. [122; …] das Bewußtsein affiziert sich selbst mit Unaufrichtigkeit. Es bedarf einer primären Intention und eines Unaufrichtigkeitsentwurfs; dieser Entwurf impliziert ein Verständnis der Unaufrichtigkeit als solcher und ein präreflexives Erfassen (von) Bewußtsein, daß es sich in Unaufrichtigkeit verwirklicht. Daraus folgt zunächst, daß der, den man belügt, und der, der lügt, ein und dieselbe Person sind [122f.]

 

Für das bessere Verständnis von Sartres Konzept der mauvaise foi ist es hilfreich, die Umstände von dessen Entstehung zu berücksichtigen. Sartre, der in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre mit einer akademischen Karriere im Bereich der phänomenologischen Psychologie liebäugelte, setzte sich damals mit psychoanalytischen Theorien zur Verdrängung auseinander. Sartre erwies sich dabei als Kritiker von Sigmund Freuds Ansatz, psychische Störungen in pathogenetischer Hinsicht nach den Prinzipien der Naturwissenschaften zu analysieren (siehe Freuds mechanistisches Modell der Triebe und seine Topik), sie jedoch nach geisteswissenschaftlichen Methoden, d.h. mittels Gesprächs, zu heilen. In Sartres bewusstseinsphilosophischer Welt des Für-sich und des An-sich gibt es keinen Platz für Unbewusstes. In seiner Argumentation gegen dessen Existenz bezog er sich nicht zuletzt auf die Erkenntnis eines anderen Psychoanalytikers und sogar Freud-Schülers. nämlich Wilhelm Stekels. Dieser hatte, als er die Frigidität der Frau untersuchte, festgestellt, dass der Kern jeder Psychose bewusst ist [SN 131]. Freuds Konzept einer unbewusst erfolgten Lösung eines Konfliktes zwischen Es und Über-Ich stellte Sartre seine Lösung des prä-reflexiv erfolgten Entwurfes der mauvaise foi gegenüber.

Mauvaise foi wird im Deutschen Traugott König folgend meist als Unaufrichtigkeit übersetzt. In der ersten Übersetzung von Justus Streller lautete sie noch Unwahrhaftigkeit. Ich glaube nicht, dass Königs Übersetzung ein Fortschritt war. Unaufrichtig ist viel näher an der Lüge als unwahrhaftig.[7] Wieso nicht mauvaise foi wie in anderen Sprachen als Bösgläubigkeit (z.B. als bad faith, malafede, mala fe) übersetzen? Für den Fall des Verliebten, der seine Frau für die beste Frau auf der Welt hält, mag der Ausdruck der Unaufrichtigkeit zutreffend sein. Doch im Fall des Antisemiten, der die Juden für die Ursache alles Bösen auf der Welt hält, von (bloßer) Unaufrichtigkeit zu sprechen, impliziert eine Verharmlosung des Faktums – zumal das Wort Unaufrichtigkeit gerade in der deutschen, stark von Kants Ethik und dem dahinterstehenden Pietismus geprägten Kultur eine viel weniger stark negativ geprägte Konnotation als der Begriff der Lüge aufweist. Grundsätzlich ziehe ich deshalb den französischen Begriff der mauvaise foi vor, der beide Möglichkeiten offenlässt, die Übersetzung als Unwahrhaftigkeit wie – wohl öfters zutreffend – als Bösgläubigkeit.

Eine erste Annäherung an Sartres Auffassung von mauvaise foi findet am sinnvollerweise über die Bestimmung seines Gegenteils statt. Das Gegenteil von mauvaise foi ist bei Sartre primär[8] nicht bonne foi, Gutgläubigkeit, wie vermutet werden könnte, sondern Authentizität. Gemäß den Réflexions sur la question juive besteht Authentizität darin, „ein klares und wahrhaftiges Bewusstsein von der Situation zu haben [und] die Verantwortungen und Risiken, die die Situation einschließt, auf sich zu nehmen“ (ÜJ 56). Dieser doppelte Bezug auf Faktizität und Transzendenz kommt auch der mauvaise foi zu [SN 134f.]. Ich bin bösgläubig, wenn ich die Verantwortung für meine Handlungen nicht vollständig auf mich nehme und/oder mir der Situation, in der ich meine Handlung ausführe, nicht ausreichend bewusst bin.

Den Normalzustand des Menschen stellt für Sartre nicht die Authentizität, sondern die mauvaise foi dar: der Mensch wählt zuerst meist die Unauthentizität (EM 972). Es stellt sich sogar die Frage, ob ein Mensch vollkommen authentisch sein kann. Nicht nur im Hinblick auf Sartres eigenes Handeln, sondern auch aufgrund seiner Auffassung, dass menschliches Leben ein Prozess fortlaufenden Scheiterns ist, muss diese Frage wohl verneint werden. Authentizität kann nur als ständiges Bemühen um und Streben nach Authentizität aufgefasst werden, das jedoch immer wieder zum Scheitern verurteilt ist.

Mauvaise foi ist ein auch in der Politik und bei Politikern weit verbreitetes Phänomen. Die heute übliche Art der Politik mit der stark gestiegenen Bedeutung des medialen Auftritts hat die Tendenz zur Unaufrichtigkeit in der Politik zweifellos noch verstärkt. Dies gilt auch für den Bereich der Außenpolitik und damit für Fragen des Krieges. Doch Bösgläubigkeit beschränkt sich nicht auf Außenpolitisches. Mauvaise foi findet sich ebenso in Fragen um die Finanzkrise 2008/09 oder die Griechenlandkrise seit 2010 oder wenn es sich um die Sozialversicherungen oder das aktuelle Flüchtlingsproblem handelt. Es gibt die mauvaise foi in der Form des Verstoßes gegen die Transzendenz. Neigen die Großmächte wie die USA, aber auch China und Russland eher zum Verhalten der Dreckskerle, der salauds, wie Sartre sie in L’Existentialisme est un humanisme nannte (EH 172), indem sie ihre eigenen Interessen offen und unverblümt als das einzige Wahre und Richtige darstellen, so neigen wir Europäer als Feiglinge, als Sartres les lâches, eher dazu, unsere Interessen hinter vermeintlich unveränderlichem Völkerrecht[9] und ebenso vermeintlich universell gültigen Menschenrechten zu verstecken. Noch häufiger findet sich jedoch bei Politikern unaufrichtiges Handeln als Verstoß gegen die Faktizität – und zwar insbesondere in der Form von Realitätsverweigerung, d.h. der Verweigerung, die Praxis und das Praktisch-Inerte in all ihrer Komplexität mit ihren Knappheiten, Gegenfinalitäten und Sachzwängen wahrzunehmen. Bösgläubigkeit findet sich gleichermaßen bei Bürgerlichen wie Linken – vielleicht mit dem Unterschied, dass bei den Bürgerlichen die Unaufrichtigkeit sich häufiger auf die Transzendenz bezieht, indem gerne auf Sachzwänge verwiesen wird, bei den Linken mit ihrem Machbarkeitswahn häufiger auf die Faktizität.

Mauvaise foi unterscheidet sich, wie das zuvor wiedergegebene längere Zitat aus L’Être et le néant zeigt, wesentlich von der Lüge. Erstere ist ein Produkt des präreflexiven, nicht-thetischen Bewusstseins, letztere eines des reflektierten, thetischen Bewusstseins. Doch lassen sich Bösgläubigkeit und Lüge nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch unterscheiden? In der Selbstreflexion ist, wie die Psychotherapie zeigt, die Erkenntnis der eigenen Unaufrichtigkeit meist ein langwieriger und schwieriger und kein spontaner, einfacher Prozess. Noch schwieriger ist es für einen Dritten zu erkennen, ob es sich um mauvaise foi oder um Lüge handelt. Für Sartre war klar, dass Bösgläubigkeit und Lüge phänomenal schwierig voneinander zu unterscheiden sind. Dass Putin log, als er die Anwesenheit von russischen Truppen auf der Krim bestritt, ist offensichtlich. Putin weiß wohl auch, wer den Malaysia-Airline-Flug 17 abgeschossen hat, und Merkel weiß viel mehr darüber, was und wen der NSA (und der BND) abgehört hat, als sie uns kundtut. Aber nicht immer ist die Lage so eindeutig. Handelte es sich bei den Gründen, die George W. Bush und sein Außenminister Colin Powell 2003 für den Irakkrieg vorbrachten, um mauvaise foi oder um Lüge? Bei Bush würde ich eher Bösgläubigkeit vermuten, bei Powell Lüge. Fühlte sich Stalin vor und nach dem Zweiten Weltkrieg so bedroht, dass er für die Einrichtung des Gulags Unaufrichtigkeit in Anspruch nehmen konnte oder war dies intendiertes rationales Handeln? Müssen die Taten Hitlers und seiner Generäle in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs als beabsichtigter, auch mittels Lügen angestrebter kollektiver Selbstmord verstanden werden oder waren sie ein Fall von kollektiver Bösgläubigkeit?[10]

In welchem Verhältnis stehen nun Krieg und mauvaise foi resp. Lüge? Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist. Dass Lügen und Täuschen zum Krieg gehören, ist wenig erstaunlich. Dass die Hemmungen zu lügen in Kombination mit anderen Untaten gering ist, legt uns nicht nur die Verhaltenspsychologie nahe, es reicht schon ein Blick auf die Zehn Gebote. Die darin implizierte Rangordnung besagt, dass eine Lüge zu sagen weniger schlimm ist als gegen die Grundlagen der eigenen Religion (=Ideologie) zu verstoßen, den Eltern nicht zu gehorchen, einen Mitmenschen zu ermorden, verfemte Sexualbeziehungen zu unterhalten oder fremdes Eigentum zu rauben.

Intuitiv würden wohl die meisten auch eine Beziehung zwischen Unaufrichtigkeit und Krieg vermuten. Doch welcher Art ist sie? Meine These ist, dass Krieg der ultimative Ausdruck der Nicht-Anerkennung des Anderen als Subjekt ist. Dadurch, dass der eine den anderen nicht als Subjekt anerkennt, besteht auch keine Notwendigkeit mehr, den anderen zu verstehen und durch das Verständnis des anderen zu einem friedlichen Interessenausgleich zu kommen. Die Nicht-Anerkennung des Anderen stellt dabei nicht einen Akt des Nicht-Könnens dar, sondern einen des Nicht-Wollens. Und hinter diesem Nicht-Wollen steht Unaufrichtigkeit, Bösgläubigkeit, die präreflexive Entscheidung, den Anderen nicht als Subjekt anerkennen zu wollen, obwohl der Andere ein Subjekt ist. In der Nicht-Anerkennung des Anderen als Subjekt liegt ein Fall von mauvaise foi als Verstoß gegen die Faktizität vor. Es ist die mauvaise foi, die erst Kriege ermöglicht. Mauvaise foi als die condition sine qua non für Krieg.

Welchen der großen Kriege des 20. Jahrhunderts wir immer nehmen, den Ersten Weltkrieg inklusive vorausgehender und nachfolgender Kriege auf dem Balkan und in Osteuropa über den Zweiten Weltkrieg, die vielen kolonialen und postkolonialen Kriege, bspw. in Indochina oder Korea, bis zu den Kriegen im Nahen Osten oder in Jugoslawien, immer kam der Verweigerung der Anerkennung des Anderen eine zentrale Rolle in der Entstehung der Kriege zu. Dem Anderen, sei es in der Form des Juden, des Negers, der slawischen Untermenschen, des Vietcongs, des Arabers, des Albaners, wurde die Anerkennung als Subjekt immer verweigert. Die hat sich auch in den Kriegen des 21. Jahrhunderts nicht geändert, sei dies nun im Afghanistan-, Irak-, Ukraine- oder im Syrienkrieg. Was die mauvaise foi im 21. Jahrhundert von jener im 20. unterscheidet, ist allenfalls, dass heute, im Zeitalter der Medien und der virtuellen Politik, der Realitätsverweigerung, der Unaufrichtigkeit im Sinne des Verstoßes gegen die Faktizität, eine ganz besondere Bedeutung zukommt.

Das Kolloquium trug den Titel „Über Lügen im Zeitalter des Krieges“. Eigentlich müsste dieser Titel berichtigt werden. Sartres Philosophie gemäß ist der bedeutende Zusammenhang nicht jener zwischen Krieg und Lüge, sondern vielmehr der zwischen mauvaise foi und Krieg. Krieg fußt auf mauvaise foi, mauvaise foi ist die condition sine qua non des Kriegs. Krieg baut auf der Verweigerung der Anerkennung des Anderen als Subjekt auf. Erst im Töten, im Krieg, gelingt es mir, den Anderen zum Objekt zu machen. Der Verweigerung der Anerkennung des Anderen als Subjekt, liegt mauvaise foi zugrunde – ebenso wie der Weigerung, den Anderen zu verstehen. Die eigene Wahrheit wie die eigenen Werte sind für das Subjekt immer absolut. Begegnen sich Subjekte mit ihren je eigenen absoluten Wahrheiten und Werten – oft in Form von Religionen und Ideologien als säkularen Religionen –, setzt ein Interessensausgleich zwischen Konfliktbeteiligten das Verständnis des Anderen voraus und damit die Anerkennung des Anderen voraus. Angesichts der Ubiquität von mauvaise foi erstaunt es jedoch nicht, dass es gerade daran immer wieder fehlt: an der Anerkennung des und Verständnis für den Anderen. Entsprechend weitverbreitet sind Konflikte und kommt es auch immer wieder zu Kriegen. Und es wird wohl auch so bleiben.


Exkurs:

Krieg und Lüge als Mittel der Politik – ein Verstoß gegen die Ethik?

 

Aus der Sicht von Sartres theoretischer Philosophie beruht Krieg auf fehlender Anerkennung des Anderen als Subjekt als conditio sine qua non – fehlende Anerkennung als klassischer Fall von mauvaise foi. Angesichts der Bedeutung, die Sartre der Authentizität zukommen ließ, läge eine moralische Verurteilung von Krieg auf der Hand. Allerdings ließ Sartre seinen ursprünglichen Entwurf einer Ethik der Authentizität, die er zusammen mit Beauvoir zu Zeiten um das Ende des Zweiten Weltkriegs ausarbeitete, fünf Jahre später wieder fallen. Auch Sartres Engagement zugunsten von Befreiungskriegen legt nahe, dass Krieg als Mittel der Politik nicht in jedem Fall des Bösen ist. Dass dies grundsätzlich auch für Lügen gilt, kann durch Fälle von Aussagen durch Sartre belegt werden, deren Wahrheitsgehalt sehr zweifelhaft ist. Die negative Behandlung von mauvaise foi in Sartres theoretischer Philosophie ist undiskutabel. Doch hieraus auch notwendigerweise auf eine ethische Verurteilung von mauvaise foi zu schließen, ist, wie noch dargelegt wird, nicht angebracht.

Mit der Frage, inwieweit Sartres Ethik gemäß Lügen und Krieg erlaubt sind, kehren wir wieder zum Anfang dieses Beitrags zurück, zu Sartres Erzählung Le Mur und zu Kant. Kants Antwort auf die Frage nach der moralischen Zulässigkeit der Lüge ist negativ. Lügen verstößt sowohl gegen Kants Formulierung des Kategorischen Imperativs als Forderung, wonach der Mensch nach jener Maxime handeln solle, die sich selbst zum allgemeinen Gesetz machen kann, wie gegen das Postulat, dass ich mich selbst und die Anderen nie bloß als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandle. A fortiori gilt dies auch für Krieg als Mittel um politische Ziele zu erreichen.

Eine Gegenposition vertrat schon zu Kants Lebzeiten Jeremy Bentham mit seiner handlungsutilitaristischen Ethik und dem Prinzip des größten Glücks der größten Zahl. Krieg und Lügen sind als Mittel erlaubt, wenn die Summe der Nutzen in der Gesellschaft mit Krieg und Lügen höher ist als ohne. Diese Position wird auch von den Sozialisten resp. Kommunisten geteilt, nur dass die Rechtfertigung hier nicht über die Ethik, sondern durch eine Geschichtsphilosophie erfolgt. Vladimir Lenin drückte die schon bei Karl Marx angelegte Haltung von „der Zweck heiligt die Mittel“ in Der linke Radikalismus klar aus, indem er schrieb:

 

            Man muß all [den Maßnahmen der Sozialdemokraten] widerstehen können, muß zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar — wenn es sein muß — alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.[11]

 

Mit anderen Worten: Lügen zu einem guten Zweck, zum Gelingen der Revolution ist erlaubt. In der erweiterten Stalinschen Version bedeutete dies, dass Tod und Unterdrückung von Millionen gerechtfertigt sind, wenn der Weg zum Kommunismus dies erfordert.

Die Exzesse in Stalins Sowjetkommunismus stellten den Einsatz von bösen Mitteln zu einem guten Zweck radikal in Frage. Entsprechend sah sich Leo Trotzki schon 1938 gezwungen, hierzu in seiner Schrift Ihre Moral und unsere Stellung zu beziehen.[12] Grundsätzlich verteidigte er die Ansicht, dass „Lügen und Schlimmeres“ im Klassenkampf erlaubte Mittel seien. Er verurteilte deren Gebrauch nur für die Zeit nach einer erfolgreichen kommunistischen Revolution. Immerhin nahm er für die Kommunisten in Anspruch, dass sie „die ehrlichste Partei in der Geschichte“ gewesen seien. Zu einer Diskussion um das Verhältnis von Mittel und Zweck in Hinsicht auf die Politik und insbesondere die kommunistische Politik kam es erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und zwar in Frankreich.

Die eine Extremposition wurde von den Kommunisten vertreten, die die Leninsche Position, dass der gute Zweck den Einsatz aller Mittel rechtfertige, aufrechterhielten.[13] Da die Entwicklung der marxistischen Theorie, wie Sartre in Questions de méthode festhielt, jedoch zum Stillstand gekommen und sogar zu einem idealistischen Voluntarismus degeneriert war, äußerten sich die kommunistischen Theoretiker nicht expressis verbis zu diesem ethischen Problem. In ihrem Dogmatismus entzogen sie sich dem Diskurs.

Die beiden anderen prominenten Teilnehmer dieser Diskussion waren ― Albert Camus und Sartre. Diese Feststellung wird die meisten erstaunen. Doch bei der Betrachtung der Liste der Werke, in denen sich Camus und Sartre mit dem Zweck-Mittel-Problem befassten, wird die Berechtigung dieser Schlussfolgerung sofort klar:

1943-45 verfasste Camus die Lettres à un ami allemand;

1945 widmete sich Simone de Beauvoir diesem Problem in theoretischer Hinsicht im Aufsatz Idéalisme moral et réalisme politique und bearbeitete es literarisch in Les Bouches inutiles;

1946 folgten Camus’ Ni Victimes, ni bourreaux;

1947/48 beschäftigte sich Sartre intensiv mit dem Mittel-Zweck-Problem in seinen – allerdings erst 35 Jahre später zugänglich gemachten – Cahiers pour une morale;

1948 veröffentlichte Sartre das schon zwei Jahre zuvor geschriebene Drehbuch L’Engrenage, und im selben Jahr wurden Les Mains sales uraufgeführt;

1949 folgte Camus’ Drama Les Justes,

1951 Sartres Stück Le Diable et le bon dieu,

und im selben Jahr veröffentlichte Camus L’Homme révolté.

Zum Abschluss kam die Diskussion zwischen Sartre und Camus 1952 durch die Veröffentlichung von Camus’ Brief an Sartre und von Sartres Antwort an Camus in den Temps Modernes.

Die Diskussion hielt sieben Jahre an. Doch wieso wurde und wird sie immer noch kaum wahrgenommen? Die Erklärung liegt wohl darin, dass Sartre und Camus, gerade weil sie Freunde waren, sich nie gegenseitig attackierten – mit Ausnahme der Veröffentlichungen 1952 in den Temps Modernes, als es zum Bruch zwischen den beiden kam. Und es kam wohl zum Bruch, gerade weil sie sich in der Diskussion nie an den anderen wandten, sondern immer nur an das breite Publikum. Das Resultat dieser falschen Haltung unter Freunden war der Éclat 1952, der den Bruch zwischen Sartre und Camus bedeutete – ein Éclat, der den meisten Außenstehenden bis in die heutigen Tage unverständlich ist, weil sie nicht um die Vorgeschichte in Form der schon sieben Jahre andauernden Diskussion um das Verhältnis von Mittel und Zweck Bescheid wissen.

Camus’ Position war die des Antipoden der Kommunisten. Camus lehnte radikal den Einsatz von Lüge, Mord, Gewalt und Terror als Mittel der Politik ab. Sartres (und Beauvoirs) Position war hingegen eine zwischen den Kommunisten und Camus vermittelnde. Für Sartre und Beauvoir müssen Mittel und Zweck als eine Einheit betrachtet werden. Ihnen gemäß gibt es keine klare Trennung von Mittel und Zweck, vielmehr kommt auch Mitteln Zweckcharakter zu (MIPR 23). Da für Sartre Geschichte wesentlich auch eine Geschichte der Befreiung von Unterdrückung ist und diese zwar nicht immer, aber doch immer wieder den Einsatz von Gewalt erfordert, konnte Sartre Camus vorwerfen, mit seiner prinzipiellen Ablehnung von Gewalt implizit Geschichte abzulehnen. Camus’ Vorstellung von Reinheit in der Politik hielt Sartre für eine Idee für Fakire und Mönche, wie er sie in Les Mains sales er beschrieb. Sartres ethische Überlegungen zu diesem Problem stellen jedoch keinen Freipass zum Einsatz beliebiger Mittel dar. Sartre nahm vielmehr eine Mittelposition zwischen den Kommunisten und Camus ein. Da sich die Kommunisten allerdings der Beteiligung an dieser theoretischen Diskussion enthielten, wurde und wird auch heute noch der vermittelnde Charakter von Sartres Position meist übersehen und von deren Kritikern stattdessen radikalisiert und in die Nähe der Auffassung der Kommunisten gerückt.

Für Sartre kann Lügen wie auch Gewalt und Krieg erlaubt sein. Der Einsatz dieser Mittel muss jedoch den Prinzipien von Sartres Ethik gemäß situativ und im Diskurs mit den Nächsten rechtfertigbar sein. Vor allem dürfen Mittel nie den gemäß dem Entwurf des handelnden Subjekts letztendlichen Zwecken widersprechen. Bei Sartre können wir immer wieder Lügen feststellen. So gab er bspw. später zu, dass seine Aussagen, die er nach dem Besuch der Sowjetunion 1954 machte, zumindest teilweise Lügen darstellten. Auch gegenüber seinen Mitmenschen, vor allem seinen Frauen – sogar gegenüber Beauvoir, wie er John Gerassi gesagt haben soll – log er teilweise mit beträchtlicher Frivolität[14]. Auch beim Vergleich von zeitnah erstellten Texten stellt sich immer wieder die Frage nach Sartres allfälligen Lügen.

Oder waren es Fälle von Unaufrichtigkeit? Es liegt nahe, dass Sartre, der Philosoph der mauvaise foi, dies nicht nur im Sinne des genitivus obiectivus, sondern auch des genitivus subiectivus war: er dachte nicht nur über mauvaise foi nach, er litt auch selbst sehr schwer an ihr. Ein besonders schwerer Fall ist – um nur ein Beispiel anzuführen – die Darstellung seiner Kindheit in Les mots. Nicht nur seine Mutter kritisierte sie. Auch Annie Cohen-Solals Äußerungen in ihrer Sartre-Biographie und vor allem Robert Minders Rede von Les mots als Sartres Rache an seinem Großvater sprechen dafür.[15]

Was bedeutet Sartres Haltung zum Mittel-Zweck-Problem im Zeitalter des Krieges? Nach Sartre können Gewalt und Lügen grundsätzlich erlaubt sein, solange sie sich situativ und diskursiv vor den Anderen rechtfertigen lassen. Hiervon ist auch Krieg nicht ausgenommen. Sartre war zwar ein vehementer Antimilitarist, aber kein Pazifist. Sartre verweigerte den Wehrdienst nicht und kam dem Einberufungsbefehl im September 1939 nach. Sartre unterschied drei Formen von Gewalt: offensive, defensive und Gegengewalt (EM 366). Die beiden letzteren Arten (bspw. in der Form des Verteidigungs- und der Befreiungskriege) können nach Sartres Auffassung moralisch durchaus gerechtfertigt sein. Dies gilt sicher in einem großen Maße für die defensive Gewalt (Gewalt gegen andere, die selbst Gewalt anwenden). In einem etwas eingeschränkteren Rahmen kann auch Gegengewalt (Gewalt gegen solche, die selbst nicht Gewalt anwenden, aber andere ohne Gewalt unterdrücken) gerechtfertigt sein. Hierbei ist es jedoch nötig, dass keine friedlichen Mittel zur Beseitigung der Unterdrückung zur Verfügung stehen.

 

 

 

13.1.23, v.2.2

 

 

Verzeichnis der Siglen:

Werke von Jean-Paul Sartre:

CII       Critique de la raison dialectique. Tome II (inachevé). L’Intelligibilité de l’histoire. Gallimard: Paris 1985.

DR     „Denis de Rougemont: Die Liebe zum Abendland“. In: Der Mensch und die Dinge. Rowohlt: Reinbek 1986, S.43-48.

EH       „Der Existentialismus ist ein Humanismus“. In: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943-48. Rowohlt: Reinbek 2000, S. 145-192.

EM     Entwürfe für eine Moralphilosophie. Rowohlt: Reinbek 2005.

FM     Fragen der Methode. Rowohlt: Reinbek1999.

FW     „Für die Wahrheit. Vorwort von Jean-Paul Sartre für die Sondernummer von Les Temps Modernes «Der israelisch-arabische Konflikt», Nr. 253 bis, Juni 1967.“ In: Überlegungen zur Judenfrage. Rowohlt: Reinbek 1994, S. 165-171.

HJ       „Die hereingelegte Jugend“ (La Jeunesse piégée; 1969). In: Plädoyer für die Intellektuellen. Rowohlt: Reinbek 1995, S. 242-258     .

KDV1 Kritik der Dialektischen Vernunft. I. Band. Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Rowohlt: Reinbek 1967.

MUE   „Machismus und Ebenbürtigkeit: Simone de Beauvoir befragt Sartre zur Frauenbewegung“ (Simone de Beauvoir interroge Jean-Paul Sartre, 1975). In: Sartre über Sartre. Rowohlt: Reinbek 1980, S. 167-179.

SG     Saint Genet, Komödiant und Märtyrer. Rowohlt: Reinbek 1986.

STE     „Skizze einer Theorie der Emotionen“. In: Die Transzendenz des Ego. Rowohlt: Reinbek, 1997, S. 255-321-

SN       Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Rowohlt: Reinbek 1995.

SR       „Jean-Paul Sartre répond“. In: L’Arc, Nr. 30, 1966, S. 87-96.

TB       Tagebücher. Les Carnets de la drôle de guerre September 1949 – März 1940. Rowohlt : Reinbek 1996.

ÜJ       „Überlegungen zur Judenfrage“, in: Überlegungen zur Judenfrage. Rowohlt: Reinbek 1994, S. 9-91.

VDE   „’Die Verdammten dieser Erde’ von Frantz Fanon“ (Préface à ‚Les Damnés de la terre‘, 1961). In: Wir sind alle Mörder. Rowohlt: Reinbek 1988, S. 141-159.

WE     Wahrheit und Existenz. Rowohlt: Reinbek 1998.

WS     Was ist Subjektivität?. Turia + Kant: Wien 2015.

 

Werke von Simone de Beauvoir:

MIPR „Moralischer Idealismus und politischer Realismus“. In: Auge um Auge. Artikel zu Politik, Moral und Literatur 1945-1955. Rowohlt: Reinbek 1992, S. 7-34.

[1] Im Blick beurteile ich den anderen. Die Hölle durch die anderen liegt nach Huis clos darin, dass ich die Handlungen des anderen beurteile. Huis clos ist insofern die Fortsetzung von Les mouches als Theater über Ethik. Sie verhalten sich wie Avers und Revers einer Münze zueinander. Während Sartre in Les mouches die Freiheit des Subjekts in der Wahl seiner Werte betont, hebt er in Huis clos hervor, dass das Subjekt seine Wahl gegenüber den anderen rechtfertigen muss.


[2] In Sartres Denken kommt dem Herr-Knecht-Verhältnis eine zentrale Bedeutung zu. Im ursprünglichen Sinne kommt hier dem Knecht Macht zu, indem er über die Anerkennung des Herrn als Herrn entscheidet. Sartres ausgesprochen dialektisches Verständnis der sozialen Beziehungen schildert eine viel komplexere Situation. Der Kolonialist war für Sartre nicht nur ein Unterdrücker, sondern auch ein Unterdrückter (VDE 152), die Entfremdung des Managers noch größer als jene des Arbeiters (HJ 252) und die Frau in gewisser Weise freier als der Mann (MUE 178f).


[3] Sartre bezieht hier eine Gegenposition zu Clausewitz, für den Krieg ein rationales Mittel der Politik war mit dem Zweck, „den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“.


[4] Diese in der Critique vorgebrachte These unterminiert das marxistisch-kommunistische Verständnis der Geschichte als eine der Klassenkämpfe. In der Sowjetunion herrschte nach Sartre deshalb nicht das Proletariat, sondern die Partei.


[5] Anders als in Huis clos mit Sartres wohl bekanntestem Satz „Die Hölle, das sind die anderen.“, das als misanthropische Sicht auf die Menschheit ausgelegt werden könnte (siehe bez. der ethischen Bedeutung dieses Satzes Fn. 8), enthalten alle von Sartre verfassten Drehbücher eine Liebesgeschichte. Mit Ausnahme von Freud sind diese Liebesgeschichten sogar zentral für die Handlung. Doch Sartres Verständnis von Liebe unterscheidet sich vom gängigen. Nicht die Selbstaufopferung zugunsten des oder der Geliebten steht im Zentrum, sondern die Anerkennung des Geliebten als Wesen mit einem eigenen Entwurf.


[6] Erstmals http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1873,29[57]; Leo Tolstoj: Krieg und Frieden (Albatros: Düsseldorf 2002), S. 164.


[7] Als Synonyme für «aufrichtig» gibt der Duden an: echt, ehrlich, ernsthaft, geradlinig, unverstellt, für «wahrhaftig» jedoch: in der Tat, richtig, tatsächlich, unbestreitbar, wirklich.


[8] Bei Gelegenheit benutzt Sartre in L’être et le néant aber durchaus das Wortspiel von bonne foi und mauvaise foi – ein weiterer Grund, mauvaise foi als Bösgläubigkeit zu übersetzen.


[9] Ein gutes Beispiel hierfür ist die Haltung der EU und vieler anderer bei Falle der separatistischen Bestrebungen in Katalonien, Schottland oder der Krim.


[10] Das Verhältnis der großen totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, des Nationalsozialismus wie des Sowjetkommunismus, zur Lüge und zur Unaufrichtigkeit wäre ein Thema, das eine eigenständige Untersuchung verdiente. Lüge und Bösgläubigkeit kamen in beiden Systemen eine überragende Bedeutung zu. Die für den Nationalsozialismus wie den Sowjetkommunismus so charakteristische ideologische Indoktrination beruht auf beiden. Der Lüge kam eine wichtige Rollte zu. Hitler log, als er Polen des Überfalls auf den Sender Gleiwitz beschuldigte, um seinen Angriff auf Polen zu rechtfertigen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass Stalin, wenn er Todesurteile gegen enge Parteigenossen fällen ließ, die Wahrheit nicht kannte und deren Hirngespinsten von Selbstanschuldigungen Glauben schenkte. Doch der entscheidende Faktor scheint mir die Unaufrichtigkeit zu sein. Die Nazis wie die Neonazis von heute glaubten resp. glauben wirklich an die abstruse These, dass die Juden die Welt regieren. Stalins Verfolgungswahn war ein Wahn, nicht bloss zynische Strategie.

Eine Teilnehmerin an der Diskussion in Berlin machte darauf aufmerksam, dass Hitler aber in manchen Punkten sehr ehrlich war, als er die Verfolgung der Juden und den Krieg nach Osten schon Jahre vor seiner Machtergreifung ankündigte. In der Tat gab es Unaufrichtigkeit offensichtlich nicht nur auf Hitlers Seite, sondern auch auf jener der Opfer wie der Mitläufer auf deutscher Seite. Man wollte die wahren und immer wieder dargestellten Absichten Hitlers nicht wahrhaben. Dies beweist einmal mehr, wie richtig Sartres Auffassung von der Ubiquität der mauvaise foi ist.


[11] Vladimir Lenin, „Der ‚linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus.“ (1920).In: W. I. Lenin. Bd. 31. Berlin, 1966. S. 1- 106. Hier S. 40.


[12] Leo Trotzkij, Ihre Moral und unsere, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/moral/moral.htm (letztmals geprüft: 1.5.2015).


[13] Im Gegensatz zu den Konservativen und Nationalsozialisten, die kaum ein Problem mit Gewalt hatten, weil diese bei ihnen ein Teil der Ideologie war, lässt sich der Gulag kaum mit der Forderung der Kommunisten nach einer Gesellschaft auf der Basis „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ vereinbaren. Bei den Liberalen war das Problem des Verhältnisses von Mitteln zu Zwecken ebenfalls von Relevanz. Die Kolonialkriege – um nur ein Beispiel zu erwähnen – fanden zwar weite Unterstützung bei ihnen, entsprachen jedoch nicht dem liberalen Menschenbild. Die Liberalen entzogen sich der Diskussion weitgehend durch Schweigen. Eine bedeutende Ursache dafür, dass die Problematik gerade in Frankreich auf Interesse stieß, dürfte in der Erfahrung der Résistance gelegen haben. Denn hier stellte sich ganz virulent die Frage, ob sich die kleinen unbedeutenden Anschläge der Résistance auf die deutsche Wehrmacht lohnten, wenn anschließend Dutzende von unschuldigen Franzosen Opfer deutscher Repressalien wurden.


[14] Wenn es um Frauen geht, ist allerdings nicht klar, ob Sartre oder Camus der größere Lügner war.


[15] Zu Details siehe mein Beitrag Die Dekonstruktion Sartres.





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