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Betschart - Vom Marxisten zum Anarchisten - Sartre 1972-1980 - espero_#8_2024.pdf

Alfred Betschart 

 

Sartre wird nicht nur von den meisten Sartrophoben, sondern auch von den meisten Sartrianern als Denker eines marxistischen Existentialismus verstanden. Zwei das politische Verständnis von Sartres Philosophie äußerst prägende Arbeiten tragen denn auch die Titel Existential Marxism in Postwar France (von Mark Poster, 1976) und Sartre and Marxist Existentialism (von Thomas R. Flynn, 1984). Für die Periode von 1941 bis 1972 ist die Rede vom marxistischen Existentialismus insofern gerechtfertigt, als diese Zeit in der Tat durch eine zunehmende Annäherung und teilweise Übernahme von marxistischen Topoi durch Sartre gekennzeichnet war.

Nach seiner Rückkehr 1941 aus dem Gefangenenlager Stalag XII D bei Trier brachte Sartre erstmals seine politische Affiliation klar zum Ausdruck, als er, der sich zuvor jeden politischen Engagements enthielt, eine – wenn auch ephemere – Widerstandsgruppe mit dem programmatischen Namen Socialisme et liberté gründete. Fünf Jahre später, 1946, setzte er sich in Matérialisme et révolution (dt.: Materialismus und Revolution) erstmals theoretisch mit dem Marxismus auseinander – auch wenn sich seine Kenntnisse des Marxismus weitestgehend auf Werke von Stalin beschränkte. 1948 war Sartre einer der Mitbegründer des Rassemblement Démocratique Révolutionnaire, einer linkssozialistischen, nicht zuletzt aus ehemaligen Trotzkisten bestehenden Bewegung zugunsten eines unabhängigen, vereinigten, sozialistischen Europa. 1952 distanzierte es sich noch von den Kommunisten, indem er zwischen seinen und ihren Prinzipien differenzierte (KUF 142)[1], doch er befand sich mitten in einer Phase der intensiven Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Fünf Jahre später schrieb Sartre in Questions de méthode (dt.: Fragen der Methode), dass der Marxismus die Philosophie unserer Zeit und der Existentialismus nur eine Ideologie sei (FM 12-14).

Sartres Auseinandersetzung mit dem Marxismus war damit jedoch nicht zu einem Ende kommen. Wie er in Sartre. Un film (dt.: Sartre. Ein Film.) sagte, waren nicht nur die Cahiers pour une morale (dt.: Entwürfe für eine Moralphilosophie), sondern auch die Critique de la raison dialectique (dt.: Kritik der dialektischen Vernunft) das Resultat seines Ringens mit dem Marxismus (SF 191f., 222)[2]. Doch Sartres Verhältnis zum Marxismus war immer ein sehr differenziertes. Gewisse Topoi des historischen Materialismus in seiner marxistischen Form finden sich tel quel in Sartres politischer Philosophie wieder. Dazu gehören Kernpunkte wie dass die Geschichte eine Geschichte des Klassenkampfs sei und der Übergang von einer Gesellschaftsform zur anderen durch eine Revolution erfolge. Mit den Kommunisten teilte Sartre einen sehr politischen Revolutionsbegriff, der stark durch die Französische und die Oktoberrevolution als von heftiger Gewalt gekennzeichneten Ereignissen von relativ kurzer Dauer geprägt war. Damit unterschied sich seine Auffassung von Revolution von einer mehr ökonomisch und soziologisch ausgerichteten wie jener der industriellen Revolution, die sich über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte mit beschränktem Einsatz von Gewaltmitteln vollzog.

In andern Punkten war die Übereinstimmung Sartres mit der marxistischen politischen Philosophie nur teilweise gegeben. Auch wenn Sartre vom grundsätzlichen Widerspruch zwischen Bürgertum und Proletariat ausging, war sein Klassenbegriff sowohl in Bezug auf diese beiden wie auf die intermediären Klassen differenzierter. Konflikte wie jener zwischen Kolonisatoren und Kolonialisierten entzogen sich sogar zu einem Großteil der Begrifflichkeit der Klassengesellschaft. Zwar war auch nach Sartre die Arbeiterklasse der Träger der zukünftigen Revolution, die zum Sozialismus und Kommunismus führen und mit der die Geschichte resp. Vorgeschichte zu Ende gehen sollte. Mit einer erfolgreichen Revolution beginne das Reich der Freiheit und werde der Staat absterben. Doch im Gegensatz zu den Kommunisten war Sartre in Bezug auf die Nähe dieses Ereignisses skeptisch. Auch seine Haltung zur Dialektik, die er sich in der Form der humanwissenschaftlichen Dialektik zu eigen machte, aber als Naturdialektik im Sinne von Engels und Stalin radikal ablehnte, brachte Sartres zwiespältige Haltung zur marxistischen politischen Philosophie zum Ausdruck.

Darüber hinaus gab es jedoch auch Punkte, in denen Sartres Ansicht mit jener der Marxisten-Kommunisten eindeutig kollidierte. Vom marxistischen Erklärungsmodell, wonach die Entwicklung der Produktivkräfte jene der Produktionsverhältnisse und diese zusammen als Basis wiederum jene des Überbaus bestimme, hielt er, mindestens in seiner stalinistischen Fassung, wenig. Dem Überbau mit Politik, Gesellschaft und Kultur kam bei Sartre wie bei den heterodoxen Marxisten Georg Lukács oder Antonio Gramsci immer eine eigenständige Rolle zu. Entsprechend galt sein Interesse eher der Unterdrückung als der Ausbeutung.[3]

Der wichtigste Gegensatz zwischen der marxistischen Philosophie und der existentialistischen „Ideologie“ ergibt sich allerdings aus deren methodischen Differenzen. Erstere steht klar auf dem methodischen Standpunkt des Holismus. Wie Durkheim erklärt der Marxismus Soziales durch Soziales (resp. Ökonomisches). Es sind die Klassen, die das wahre Agens der Geschichte bilden. Im Gegensatz dazu geht Sartres Philosophie – ähnlich wie die Soziologie Max Webers – vom methodischen Individualismus aus.[4] Sartre lehnte Plekhanows Ansicht ab, dass dem Individuum in der Geschichte keine wesentliche Bedeutung zukomme (FM 141-43, CRDII 103, 228-30). Valéry ist ein Kleinbürger, doch nicht jeder Kleinbürger ist ein großartiger Schriftsteller wie Valéry (FM 64). Die Geschichte wird durch Individuen gemacht resp. durch Gruppen, in denen sich Individuen zusammengeschlossen haben.

Die politisch wichtigste Form der Gruppe war für Sartre die Partei. In einem Diskurs mit Claude Lefort, einem Mitglied von Socialisme ou Barbarie, der im alten marxistischen Sinne an die Klasse als revolutionäres Agens glaubte, betonte Sartre (1952) die Bedeutung der revolutionären Partei als wichtigster Voraussetzung für den Erfolg der Revolution (ACL). Diese Position trug ihm 1955 in Merleau-Pontys Werk Les Aventures de la dialectique den Vorwurf des Ultrabolschewismus ein, da bei ihm die Bedeutung der Partei als Avantgarde der Revolution noch größer als bei Lenin war. Im Gegensatz zu Lenin fehlte Sartre allerdings der Glaube an das Grundsätzlich-Gute in der Partei. Vielmehr war nach ihm die Fehlentwicklung einer Partei hin zur fraternité-terreur, der Terror-Geschwisterlichkeit, fast unumgänglich. Seine Skepsis gegenüber den Parteien, die Sartres erste „protoanarchistische“[5], apolitische Periode bis 1941 zusammen mit den grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber Staat und Politik auszeichnete, hatte er in seiner marxistischen Phase offensichtlich nicht vollständig aufgegeben.

Die dritte Periode, die anarchistische von 1972 bis zu Sartres Tod 1980, unterscheidet sich von der vorhergehenden marxistischen in wesentlichen Punkten. Erst für diese Periode kann m.E. von einer eigenständigen politischen Philosophie Sartres die Rede sein. Die Erkenntnisse aus seinen beiden grundlegenden philosophischen Werken, L’Être et le néant (dt.: Das Sein und das Nichts) und der Critique, hatten aufgrund des methodischen Gegensatzes zwischen Individualismus und Holismus immer in einem grundlegend konfliktuösen Verhältnis zur marxistischen Theorie gestanden. Erst in seiner anarchistischen Periode, in der er sich nicht mehr zu Konzessionen an den Marxismus gezwungen sah, gelang es Sartre, seine Philosophie, die aufbauend auf einem ontologischen und epistemologischen Kern primär Psychologie und Anthropologie war, in eine eigenständige politische Philosophie weiterzuentwickeln. Erst jetzt schaffte er es, sich von den Elementen einer politischen Philosophie, die dem methodischen Holismus verpflichtet war, zu trennen und eine eigenständige politische Philosophie aufzubauen, die konsequent auf jenem methodischen Individualismus basierte, der die Grundlage seiner beiden Hauptwerke bildete. Im Zentrum von Sartres politischer Philosophie stand nun die Frage, wie der Mensch in Freiheit seinem Entwurf entsprechend in Gruppen leben kann. Den Hauptantagonisten zu einem solchen Leben in Freiheit sah Sartre neu zunehmend im Staat. Damit bezog er eine Position, die er zu Beginn noch verschämt als libertaire und dann zunehmend unkodiert als anarchistisch bezeichnete.

Dass Sartres anarchistische politische Spätphilosophie bis heute weitgehend unbemerkt blieb, hat verschiedene Gründe. Ein erster subjektiver Grund mag darin liegen, dass das Bild Sartres als eines marxistischen Denkers wohl bei den meisten Sartrianern wie Sartrophoben gleichermaßen Wohlbehagen auslöst. Doch bedeutsamer scheinen mir die objektiven Faktoren zu sein. Da Sartre im Frühjahr 1973 weitgehend erblindete, war ihm das Lesen oder Schreiben von zusammenhängenden Texten verunmöglichte. Als einzige Möglichkeit der Äußerung verblieb ihm das Interview. Dieses Medium erlaubt jedoch keine systematische Entwicklung der eigenen Ideen. Der harte Kern von Sartres politischer Spätphilosophie kommt in den Interviews meist nur schwach zum Ausdruck und offenbart sich dem Leser erst, wenn er die Aussagen in den Interviews auf dem Hintergrund von L’Être et le néant, der Critique, aber auch den Cahiers pour une morale interpretiert und versteht. Die manchmal reichliche verspätete Publikation der Interviews – bis zu sechs Jahren – erschwert darüber hinaus die Einordnung des Gesagten, zumal sich Sartres Gedanken trotz des physischen Handicaps relativ schnell weiterentwickelten.

Das größte Hindernis in der Rezeption der politischen Philosophie in dieser dritten Periode stellt jedoch die Tatsache dar, dass die Interviews in unterschiedlichen Sprachen publiziert wurden. Bei den fünfundzwanzig mir als für die politische Philosophie bedeutend erscheinenden Interviews, die Sartre in den Jahren 1972 bis 1980 gab, geschah die Erstveröffentlichung nur in fünfzehn Fällen auf Französisch. Bei vier Interviews erfolgte die Originalpublikation auf Deutsch, bei je zweien auf Englisch resp. Italienisch und in je einem Fall auf Spanisch und Holländisch. Zusätzlich nahm die Bedeutung der andern Sprachen mit der Zeit eher zu, da das Interesse an Sartre und dessen Philosophie in den 1970er Jahren in Frankreich kontinuierlich sank.

Gleichzeitig verringerte sich die Zahl der Übersetzungen stetig. Von den vierzehn auf Französisch erschienenen Interviews wurden m.W. nur sieben ins Deutsche und sechs ins Englische übersetzt. Bezeichnend ist, dass On a raison de se révolter (dt.: Der Intellektuelle als Revolutionär), Sartres wichtigstes politisches Buch in den letzten zehn Jahren vor seinem Tod, auf Französisch seit Jahren vergriffen und wurde erst 2018 auf English übersetzt (Titel: It Is Right to Rebel). Dass L’Espoir maintenant (dt.: Brüderlichkeit und Gewalt) in der Sartre-Gemeinschaft für soviel Aufregung sorgen und Olivier Todd und Ronald Aronson in diesem Werk nur einen Fall von Greisenverführung sehen konnte, erstaunt deshalb wenig. Selbst alte Weggefährten Sartres wie Simone de Beauvoir und Raymond Aron hatten Sartres Entwicklung in den letzten Jahren nicht mehr wahrgenommen. Hierin liegt wohl auch der wesentliche Grund für die Ablehnung von Sartres letzter Veröffentlichung vor seinem Tod.

Diese Lücke in der Kenntnis der Entwicklung von Sartres später politischer Philosophie zu schließen ist das Ziel dieses Beitrags. Nach der ersten eher unpolitischen, protoanarchistischen Periode bis 1941 und der zweiten, marxistischen Periode bis 1972 entwickelte Sartre 1972 bis 1980 eine politische Philosophie, die nach Sartres eigenen Worten als eine anarchistische bezeichnet werden muss.[6] Diese letzte Periode war jedoch nicht einheitlich, sondern vielmehr lassen zwischen 1972 und 1980 drei verschiedene Entwicklungsphasen feststellen:

-       jene von 1972-74, als Sartre sich als Teil der antihierarchisch-libertären Bewegung verstand,

-       jene von 1975-79, in der er am Buch Pouvoir et liberté (dt.: Macht und Freiheit) arbeitete, und

-       jene von 1979/80, in der er die Idee einer Gesellschaft auf der Basis der Geschwisterlichkeit entwickelte.

Parallel hierzu verlief eine Entwicklung in seinem politischen Selbstverständnis von einem Marxisten über einen Libertären hin zu einem Anarchisten. Damit der Leser sich ein originales Bild von Sartres dritter politischer Periode machen kann, soll im Folgenden Sartre selbst immer wieder in längeren Zitaten zu Wort kommen.

 

 

Sartre und die antihierarchisch-libertäre Bewegung

 

Den besten Ausgangspunkt für Sartres politische Spätphilosophie stellen die Gespräche zwischen Sartre, Benny Lévy alias Pierre Victor und Philippe Gavi dar, die 1974 unter dem Titel On a raison de se révolter veröffentlicht wurden. Die Gespräche begannen schon Ende 1972, wurden jedoch 1973 aufgrund von Sartres Erkrankung unterbrochen. Bemerkenswert ist, dass Sartre sich als politisch zu jener Bewegung zugehörig zählte, die er als antihierarchisch und libertär bezeichnete. An Philippe Gavi gewandt, der eher der spontaneistischen als der maoistischen Linken zuzurechnen und stark von der Bewegung der amerikanischen Counterculture geprägt war, sagte er im Dez. 72:

[IAR 59] Aus diesen verschiedenen Gründen glaube ich bei euch – und nicht nur bei euch, sondern bei der ganzen antihierarchischen und libertären Bewegung – die Ankündigung einer neuen Politik und die Wurzeln des neuen Menschen, der sie machen wird, zu erkennen. […, 60] Was mich verändert hat, ist, daß ich unter neuen Aspekten alte Dinge wieder auftauchen sehe, an die ich in meiner Jugend glaubte – den Moralismus[7] beispielsweise –, Dinge, die ich zugunsten des Realismus fallenließ, als ich mit dem Kommunisten zu arbeiten begann, und die ich jetzt, in der antihierarchischen und libertären Bewegung wiederfinde.

Für unsere Ohren mag ‚„libertär“ sehr nach freiheitlich tönen[8], doch seit den sog. „ruchlosen Gesetzen“ (lois scélérates) von 1893/94, durch die jegliche anarchistische Tätigkeit von Staates wegen verfolgt wurde, benutzten die Anarchisten überwiegend das Wort libertaire als Eigenbezeichnung. Auch wenn Sartre sich gegenüber Dritten noch nicht zum Anarchismus bekannte (s.u. das Kapitel Sartres Weg vom Marxisten zum Anarchisten), so ist der Bezug zu diesem doch klar.

Die Grundlage dieser neuen antihierarchisch-libertären Politik bildete eine Veränderung in Sartres Gesellschaftsbild. Nach herkömmlich kommunistischer Lehre ist der Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft jener zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Alle andern Gegensätze in der Gesellschaft, jene zwischen Frauen und Männer, Schwarzen, Juden und Weißen, LGBT-Personen und Heterosexuellen, gelten als bloße Nebenwidersprüche. Kommunisten wie Maoisten vertraten die Auffassung, dass die sozialistische Revolution mit der Lösung des Hauptwiderspruchs auch gleichzeitig die Lösung aller Nebenwidersprüche bringe. Entsprechend äußerte sich Benny Lévy in den Gesprächen dahingehend, dass die Vertreter der Nebenwidersprüche zwar ihre Anliegen einbringen könnten, sich diese jedoch wie in einem Schmelztiegel mit dem Hauptwiderspruch verschmelzen und diesem unterordnen müssen. In On a raison de se révolter befürwortete Sartre nun ein Gesellschaftsbild, das sich jenseits der marxistischen Denkschablonen von Haupt- und Nebenwidersprüchen bewegte (Dez. 72):

[IAR 86] Sartre [zu Pierre Victor gewandt]: Dein „Schmelztiegel“ gefällt mir nicht. In einen Schmelztiegel tut man verschiedene Dinge verschiedener Formen hinein, und dann schmilzt man das, und alles nimmt eine andere, einheitliche Form an. Ich fürchte, du möchtest in diesen Tiegel eine Menge Ideen hineinwerfen, damit sie schmelzen und maoistische Ideen daraus werden. […] Victor: In den Schmelztiegel bringen die Leute unterschiedliche [87] Teilaspekte, die konfrontiert und verschmolzen werden. Sartre: Nicht einverstanden. Denk an die Frauen: diejenigen, die zu uns kommen, bringen eine Ansicht mit, die keineswegs partieller Natur ist. Sie sagen: Bis heute hat es Revolutionen gegeben, die von Männern für Männer gemacht wurden. Was soll daraus nun in deinem Schmelztiegel werden? Ich bin nicht für den Schmelztiegel. […] Gavi: […] Denk an die Homosexualität. Ich spreche oft davon, um zu provozieren. Denn den Kampf der Frauen kann jeder auf seine Fahne schreiben. Sogar die KP und die Sozialistische Partei müssen anerkennen, daß die Frauenbewegung zu einer Massenbewegung wird. Aber von den Homosexuellen, die ja noch eine Minorität sind, will [88] niemand etwas wissen. […] Sartre: Eine tückische Frage, denn die Homosexuellenbewegung ist nicht populär. […] Es ist ungerecht, Frauen und Homosexuelle schlecht zu behandeln, und ihr müsst gegen diese Formen der Repression oder der Entfremdung angehen. […; 89] Aber es geht nicht darum, ein Hoch auf die Homosexuellen auszubringen. Ich könnte auch nicht mitschreien, denn ich bin nicht homosexuell. Es geht uns darum, den Lesern der Zeitung klarzumachen, daß Homosexuelle das gleiche Recht auf Leben und Achtung haben wie jeder.

Als einer der ersten unter den Philosophen und Geisteswissenschaftlern wechselte Sartre von einem Modell der Klassengesellschaft zu einem Gesellschaftsmodell, in dem als zentrale politische Akteure die Neuen Sozialen Bewegungen standen[9]. Schon in der Critique hatte Sartre den Klassenbegriff weitestgehend entmachtet, indem er in der Klasse nur noch eine Serie, bestenfalls ein Milieu sah und die Massen – außer in Fällen von Gruppen-in-Fusion – keine Agenten der Geschichte mehr waren. Die 1960 noch generell als Gruppen definierten Agenten der Geschichte konkretisierte Sartre zwölf Jahre später als die Neuen Sozialen Bewegungen. Es war ein Gesellschaftsmodell, wie es der französische Soziologe Alain Touraine mit seinem 1970 gegründeten Centre d'Etudes des Mouvements Sociaux an der Ecole Pratique des Hautes Etudes verfolgte. Wie sehr Sartre einen neuen Weg gerade unter Linken beschritt, ist daraus ersichtlich, dass der neben Touraine andere große Soziologe Frankreichs, Pierre Bourdieu, bis zu seinem Tod 2002 weiterhin ein von seinen Grundstrukturen her marxistisches Gesellschaftsmodell verfolgte. Auch Slavoj Žižek, der international aktuell wohl bekannteste Marxist unter den Philosophen, erweist sich in dieser Hinsicht als Altkommunist.

In On a raison de se révolter fand Sartre immer wieder Gelegenheit, die Neuen Sozialen Bewegungen zu unterstützen. Er sprach sich dafür aus, der Frage des Feminismus ihren wohlverdienten Platz zuzuweisen und sie nicht als sekundär zu behandeln. Er verteidigte die Rechte regionalistischer Bewegungen in der Bretagne oder in Südfrankreich gegen Pierres Versuche, deren Bedeutung herabzusetzen. Sartre sollte seinen Einsatz zugunsten dieser Neuen Sozialen Bewegungen bis an sein Lebensende fortsetzen. Auch wenn es gewissermaßen eine Arbeitsteilung zwischen Beauvoir und Sartre gab, insofern die feministischen Anliegen in Beauvoirs Domäne und die andern in Sartres Bereich fielen, sprach sich Sartre immer wieder klar für die Berechtigung der Anliegen der Frauen aus und setzte sich auch aktiv für sie ein[10]. Schon 1972 gab es eine Sitzung in der maoistischen Zeitung La Cause du Peuple, deren Herausgeberschaft Sartre übernommen hatte, an der Sartre durchdrückte, dass die Frauen endlich mehr zu sagen hatten (EAS 32). Im Interview mit Rupert Neudeck 1979 sagte er (MFSL 1221):

Ich bin ganz und gar für diesen Versuch, der Frau den gleichen Platz und die gleichen Rechte in der Gesellschaft einzuräumen.

Regionalistische Bewegungen, inklusive jener, die mit Gewalt eine Trennung von ihren Nationalstaaten suchten, erfuhren immer wieder Sartres Unterstützung. 1973 publizierten die Temps Modernes eine Dreifachnummer – die einzige Dreifachnummer neben jener zum Ungarnaufstand – unter dem Titel Minorités nationales en France. In einem zentralistischen Staat wie Frankreich grenzte diese Publikation an Hochverrat. 1971 und wieder 1975 setzte sich Sartre für die Basken anlässlich von Prozessen gegen ETA-Mitglieder in Spanien ein und 1976 für Korsen, die wegen der Ereignisse in Aléria angeklagt waren. Im November 71 verfasste er ein Vorwort zum Programm eines Anlasses, an dem Sänger aus dem Baskenland, der Bretagne und Okzitanien in der Mutualité auftraten. Aber auch ferne Minderheiten konnten auf Sartres Unterstützung zählen, so die Québécois in den Jahren um 1970 oder die Kurden im Irak 1975.

Die Schwulen bildeten neben den Frauen und den regionalen Minderheiten einen weiteren Schwerpunkt von Sartres Engagement für eine diverse Gesellschaft. Die Bedeutung abweichenden Sexualverhaltens als Unterminierung der bürgerlichen Moral kam schon in Sartres literarischen Frühwerken von La Nausée (dt.: Der Ekel) über die Novellensammlung Le Mur (dt.: Die Wand) bis zur Romanfolge Les Chemins de la liberté (dt.: Die Wege der Freiheit) zum Ausdruck. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte er sich zusammen mit Jean Cocteau, dem bekennenden, aber bei den meisten homosexuellen Schriftstellern unbeliebten Schwulen Jean Genet als Schriftsteller zum Durchbruch zu verhelfen. Zu Beginn der 1970er Jahre unterstützte Sartre aktiv die neu entstehende Schwulenbewegung. Guy Hocquenghem, der Mitbegründer des Front Homosexuel d’Action Révolutionnaire und bedeutendste linke Schwulenaktivist, verfasste 1971 in der Zeitschrift Tout! einen provokativen Beitrag über Homosexualität, der Sartre als Herausgeber der Zeitschrift eine Strafklage eintrug. Hocquenghem arbeitete ab 1976 auch in der von Sartre gegründeten Zeitung Libération mit, die als erste französische Zeitung schwule Kontaktinserate veröffentlichte. Anlässlich der Ermordung Pier Paolo Pasolinis durch einen Stricher 1976 wandte sich Sartre gegen die weitverbreitete Verurteilung der Homosexualität. Es ist bezeichnend, dass Sartre das allerletzte Interview vor seinem Tod der ersten französischen Schwulenzeitschrift Le Gai Pied gab.

Neben der Frauen-, Schwulen- und regionalistischen Bewegungen engagierte sich Sartre aber auch zugunsten verschiedener anderer sozialer Bewegungen. Eine größere Bedeutung kam hierbei dem Kampf gegen Rassismus und jener für die Gefangenen zu. Wie seine Werke Réflexions sur la question juive (dt.: Überlegungen zur Judenfrage) und Orphée noir (dt.: Schwarzer Orpheus) und viele Aktionen gegen Antisemitismus und Rassismus sowie seine lebenslange Unterstützung des Staates Israel zeigen, handelte es sich bei der Ablehnung des Rassismus um einen von Sartres politischen Grundwerten. Demgegenüber stellte sein Engagement für die Gefangenen in den Jahren 1970-74 (siehe DST; oft an der Seite von Michel Foucault) ein neues Aktionsfeld dar. Im deutschen Sprachraum erlangte vor allem Sartres Besuch bei Andreas Baader 1974 einen hohen Bekanntheitsgrad. Irrtümlicherweise wurde dieser Besuch als Unterstützungsakt für die RAF verstanden statt als Aktion auf dem Hintergrund der Diskussion über (politische) Gefangene und ihre Lebensverhältnisse in Frankreich.

Hinter Sartres Bekenntnis zur antihierarchischen und libertären Bewegung und der Unterstützung der Neuen Sozialen Bewegungen stand Sartres verstärkte Identifikation von Sozialismus und individueller Freiheit (IAR, Dez. 72):

[108] Für mich müsste die aus einer Revolution hervorgehende Gesellschaft eine Gesellschaft sein, in der der Mensch frei und mündig ist. [198] In unseren Gesprächen hier haben wir unsere Idee von der Freiheit definiert. In diesen Ideen kommen zum Ausdruck, wie jeder von uns den Menschen sieht, den Menschen in seiner Totalität, die die Freiheit voraussetzt, erklärt. Anders gesagt, ich meine, daß die Revolution, wenn sie stattfinden soll, den Menschen den Zugang zur Freiheit verschaffen muß, nichts anderes, und ich glaube, daß in gewisser Hinsicht alle Revolutionen den gleichen Sinn gehabt haben, auch für Lenin.

Trotz Sartres captatio benevolentiae Richtung Lenin war seine Vorstellung von einer sozialistischen Gesellschaft schon immer stärker von Kant und dem frühen Marx als von den späteren kommunistischen Theoretikern beeinflusst. Sozialismus war für ihn jene Gesellschaftsform, in der jeder Mensch zugleich Zweck, nicht nur Mittel ist. Die zukünftige sozialistische Gesellschaft identifizierte er mit Kants Reich der Zwecke (EM 246, auch MR 240, WIL 222). In seiner marxistischen Periode wandelte sich das Reich der Zwecke zum Ideal von „jedem nach seinen Bedürfnissen“. Dieser Satz war nicht nur ein fester Bestandteil der marxistischen Definition einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft, sondern besitzt seine Gültigkeit ebenso sehr bei den Anarchisten. Er bildete jenen kleinsten gemeinsamen Nenner, der die Marxisten und Anarchisten in der Ersten Internationalen (1864-72) verband.[11] Dass das Ideal von „jedem nach seinen Bedürfnissen“ auch noch für den Sartre der 1970er Jahre galt, beweist folgendes Zitat aus On a raison de se révolter (Mai 1973; IAR 164):

Es findet eine echte Revolution statt, wenn man von der Idee des Lohnes für einen gefertigten Gegenstand zu der eines Lohnes für das Individuum, für die Person, die Bedürfnisse hat, übergeht.

Mit der Bezugnahme auf die Freiheit des Individuums und die individuellen Bedürfnisse legte Sartre die Grundlage seiner Auffassung von Gesellschaft als einer pluralistischen Gesellschaft jenseits des simplen marxistischen Gesellschaftsbilds. Bedürfnisse und Werte basieren auf Entwürfen. Jeder Entwurf ist letztlich ein individueller Entwurf, dem ein acte gratuit zugrunde liegt, mögen die individuellen Entwürfen noch so sehr auf demselben objektiven Geist basieren, der den Individuen in der Phase der Konstituierung des Subjekts vermittelt worden ist. Doch in der Phase der Personalisierung hat das Individuum die ontologische Freiheit, gegen die vermittelten Werte und Bedürfnisse zu revoltieren. Die Pluralität der Entwürfe bildet die Grundlage der pluralistischen Gesellschaft und damit auch der Konflikte zwischen den Individuen, jene Konflikte, die für Sartre immer eine Grundkonstante des sozialen Lebens bildeten.[12]

Sartre verband schon früh die Idee des Sozialismus mit der Idee der Freiheit, wie der Name seiner kurzlebiger Résistancegruppe von 1940 zeigt: Socialisme et liberté, Sozialismus und Freiheit. Doch in den Zeiten der Kalten Kriegs und der Befreiungskriege der 1950er und 1960er Jahre trat die Vorstellung von Sozialismus als individueller Freiheit in den Hintergrund. Es bedurfte im Anschluss an den Mai 68 der verschiedenen Neue Sozialen Bewegungen, von denen jede die Interessen von Angehörigen unterschiedlichster Gruppierungen betonte, um die Verbindung von Sozialismus und individueller Freiheit neu zu beleben.

Mit der Sympathie zu den Neuen Sozialen Bewegungen war auch ein Anstieg von Sartres Interesse an der Mitarbeiterselbstverwaltung in den Unternehmen festzustellen:

[IAR 179, Juli 1973] Am Anfang [der Selbstverwaltungsbewegung mit Lip als herausragendem Beispiel] war, glaube ich, immerhin die Gleichstellung der Arbeiter auf allen Ebenen. Das ist zugleich der tiefere Sinn von Lip und die in der neuen Linken herrschende Einigkeit, die Idee der Abschaffung der Hierarchie, die Idee der absoluten Gleichheit aller Arbeiten und aller Arbeiter. […; 180] [Die Arbeiter bei Lip] haben ganz konkret die Absurdität einer Hierarchie und unterschiedlicher Löhne erlebt […; 181] Wir haben es hier mit einem ersten Versuch zu tun, der scheitern wird.[13]

Sartre hatte hier nicht die Selbstverwaltung im degenerierten Sinne der jugoslawischen Selbstverwaltung im Sinne[14], sondern eher jene, die sich mit der Bewegung der Anarchosyndikalisten verband. Für diese fand er schon Lob in Les Communistes et la paix (dt.: Die Kommunisten und der Frieden; 1954; KUF 260-65)[15], der Critique (1960; KDVI 257-163), Qu’est-ce que la subjectivité? (dt.: Was ist Subjektivität?; QS 68-71) und in Achever la gauche ou la guérir? (dt.: Der Linken den Garaus machen oder sie kurieren?; 1965; LGK 78). In den 1970er Jahren fand Sartre nun wieder zur Selbstverwaltung als jener Form der Unternehmensführung zurück, die mit seinen Vorstellungen einer antihierarchischen und libertären Gesellschaft am ehesten kompatibel war. Auf dieser Basis unterstützte Sartre 1974 in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auch den Lip-Aktivisten Charles Piaget als Präsidentschaftskandidaten. Dass Sartres Interesse an Selbstverwaltung nicht eine Eintagsfliege war, zeigte sich während seiner Reise 1975 nach Portugal ein Jahr nach der Nelkenrevolution. In der Artikelfolge „Sartre et le Portugal“ (SP 24.4.1975) manifestierte sich bei Sartre ein viel deutlicheres Interesse an der Selbstverwaltung als bei Lévy.

Zwischen den ersten Diskussionen und der Veröffentlichung von On a raison de se révolter vergingen anderthalb Jahre. Dass die politische Diskussion in der Zwischenzeit schon weiter fortgeschritten war, kam der Rezeption des Werkes nicht zugute. Dass die Stellungsbezüge in der Diskussion jedoch nicht einen einmaligen, nur zeitbedingten Charakter aufwiesen, belegt das Interview von Michel-Antoine Burnier, das anfangs 1973 zuerst unter dem Titel Sartre parle des maos in der Zeitschrift Actuel und hernach unter der Überschrift Entretien avec Sartre in Tout Va Bien erschien. Es handelt sich hierbei wohl um den repräsentativsten Text für Sartres politische Haltung um 1973. Da er allerdings nur in unbedeutenden Zeitschriften erschien, blieb er leider weitgehend unbekannt.[16] Auch hier bekannte sich Sartre zur antihierarchischen und libertären Bewegung. Er beklagte wiederum die sexistische Haltung vieler Maoisten und erzählte, wie er intervenieren musste, um den Ideen der Frauen zu mehr Gehör zu verhelfen (EAS 32). Erneut setzte er sich auch für die Schwulen ein, trotz der Unpopularität dieses Anliegens in der Arbeiterschaft (EAS 31).

Neu hinzukam sein Plädoyer für den freien Drogengebrauch (EAS 32)

Jeder hat das Recht zu machen, was er will; die Staatsjustiz sollte daran nichts zu beanstanden haben. […] Im Namen welchen Rechts wollen sie die Leute am Selbstmord hindern? [Ü. A.B.[17]]

 sowie die Umweltschutzbewegung (EAS 33):

[Die Ökologie] ist ebenfalls Teil der Untersuchung, die wir mit Libération unternehmen wollen. Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft, die aus einer Revolution geboren würde, eine Wachstumsgesellschaft sein könnte. […] Nur der Sozialismus wird hier eine Lösung bringen, vorausgesetzt, dass er sich nicht im Produktivismus und Zentralismus des sowjetischen Modells einschließt. [Ü. A.B.]

Neben den Protesten gegen das AKW Fessenheim im Elsass 1971 waren die Kämpfe gegen die Erweiterung des Waffenplatzes Larzac in Südwestfrankreich 1973/74 die Geburtsstunde der französischen Bewegung der Grünen. Hier begann die Karriere des wohl bekanntesten französischen Grünen, José Bové. Sartre zählte zu den ersten berühmten Unterstützern dieser Bewegung.

Höchstbemerkenswert im Beitrag Sartre parle des maos ist auch, dass Sartre die Rechte des Individuums auf einen rechtsstaatlichen Prozess hervorhob. In Bruay-en-Artois war eine fünfzehnjährige Bergarbeitertochter ermordet worden. Verdächtigt wurde der Notar Pierre Leroy, der auch für die Bergbaukonzerne arbeitete. Die Gauche Prolétarienne, Sartres politisch engster Verbündeter, rief zur Lynchjustiz auf, Foucault zu einer besonderen Form von Volksjustiz. Sartre, der selbst ein Jahr zuvor noch für Volksjustiz eingetreten war[18], widersprach beiden und vertrat in der Ausgabe der Libération vom 16.5.72 nun die Ansicht, dass auch ein politischer Gegner Anrecht auf einen rechtsstaatlich korrekt geführten Prozess habe (siehe auch PJP 22f.). Diesen Standpunkt bekräftigte Sartre im Interview mit Burnier (EAS 33):

Für mich wäre die Exekution Leroys ohne Prozess einem reinen Akt der Lynchjustiz gleichgekommen. [Ü. A.B.]

In der Tat trat Sartre zunehmend klarer dafür ein, dass auch jene, die in politischer Opposition zu ihm standen, Anspruch auf die fundamentalen Menschenrechte haben[19]. Schon ab Mitte der 1960er Jahre setzte er sich für sowjetische Dissidente und seit 1971 für das Recht auf Auswanderung aus der Sowjetunion ein, das vor allem von Juden gefordert wurde – dies, obwohl die meisten Dissidenten wie die meisten auswanderungswilligen Juden ideologisch meist zu Sartres Gegnern gehörten. Den Höhepunkt dieser Haltung zugunsten von Individualrechten stellte sein Einsatz zugunsten der Boat People im Sommer 1979 dar. Zusammen mit seinem langjährigen ideologischen Gegner Raymond Aron setzte er sich für die Rettung von südvietnamesischen Kleinkapitalisten und deren Familien ein, die vor der rassistischen Politik Nordvietnams flohen. Aus einem Unterstützer Nordvietnams und des Vietcongs in den 1960er und frühen 1970er Jahren war nun einer geworden, der für das Lebensrecht von deren politischen Gegnern kämpfte.[20]

Bestätigt wird der Grundtenor in On a raison de se révolter und Sartre parle des maos durch ein drittes Interview, das im Feb. 73 im deutschen Magazin Der Spiegel unter dem Titel „Volksfront nicht besser als Gaullisten“ veröffentlicht wurde (VNBG 84):

Es gibt [seit dem Mai 1968] eine große Bewegung für die Legitimität einer antihierarchischen Ordnung, eine Bewegung, die für vollständige Freiheit eintritt – das meine ich nicht im anarchistischen Sinn –, für die Freiheit beispielsweise der Frauen oder der Homosexuellen.

Mit seinem Eintreten für eine antihierarchisch-libertäre Gesellschaft einher geht auch Sartres Hoffnung auf ein Absterben des Staates. Die Vorstellung eines Sozialismus, der auf der Eroberung der staatlichen Macht durch die Sozialisten oder Kommunisten beruht, war ihm nun deutlicher als je zuvor seit 1941 zuwider. Er schloss nicht aus, dass ein Staat, in dem die Kommunisten und Sozialisten die Macht innehätten, sogar schlimmer als eine Herrschaft der Gaullisten wäre.[21] Von Nationalisierungen hielt er nichts, denn sie führten nur zu Staatskapitalismus (VNBG 88).

Konsequent hatte Sartre schon zuvor im Sommer 72 das Programme commun von Kommunisten, Sozialisten und Radikalen abgelehnt, das umfangreiche Verstaatlichungen vorsah. Und in einem Beitrag in der Januar-Nummer der TM von 1973 lehnte er entsprechend auch die Beteiligung an den bevorstehenden Parlamentswahlen im März 73 ab. Wofür er Wahlen hielt, stellte er schon aussagekräftig im Titel fest: Elections, piège à cons: Wahlen, Idiotenfallen (cf. WI). Erneut zeigten sich deutlich Sartres Vorbehalte gegenüber dem Staat, seinen Institutionen und insbesondere den Parteien, die ihn schon in seiner ersten protoanarchistischen Periode ausgezeichnet hatten. Wie Sartre in On a raison de se révolter sagte, muss alles Institutionalisierte in Frage gestellt werden (IAR 36). Politiker waren für ihn Zyniker (IAR 219). Nur selten (bspw. 1956) nahm Sartre an Wahlen teil. Und wann immer er wählte, bedauerte er dies im Nachhinein. In Ein Betriebstribunal (1971) stellte Sartre fest: „Wahlen = Verrat“ (BT 403). Wenn Sartre bei den ersten Wahlgängen 1969 den Trotzkisten Alain Krivine und 1974 Piaget, den Animator der Kämpfe um Lip, als Präsidentschaftskandidaten[22] unterstützte, so nicht aus Überzeugung hinsichtlich des Sinns staatlicher Wahlen, sondern weil er sich einen Propagandaeffekt erhoffte.

Durch den Zusammenbruch der Gauche Prolétarienne im Okt. 73 standen Sartre und Beauvoir, die über vierzig Jahre lang nicht nur philosophisch, sondern auch politisch ein Paar waren, vor der Frage quo vadis?. Die Gauchisten waren zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Übrig blieben links noch die Kommunisten und Sozialisten. Die (Ex-)Trotzkisten waren damals noch bedeutungslos. Während Beauvoir einen bedeutenden Schritt Richtung Sozialdemokratie vollzog und 1974 beim zweiten Wahlgang Mitterrand als Präsidentschaftskandidaten unterstützte, lehnte Sartre diesen vehement ab und kehrte zu seine anarchistischen Haltung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück. Weder für die Person Mitterrands (siehe VNBG 88) noch für die etatistische Politik der Sozialisten und Kommunisten konnte sich Sartre erwärmen. Dies bedeutete den politischen Bruch zwischen Sartre und Beauvoir.[23]

Sartre, der sich damals noch in einer Übergangsphase vom Marxisten zum Anarchisten befand, von einer Gesellschafts- und Staatstheorie, die sich wie jene der (Sowjet-)Kommunisten eher am Staat orientierte, zu einer, die wie jene der Anarchisten auf das Absterben des Staates hoffte, antwortete auf die Frage nach der anzustrebenden Ordnung wie folgt (VNBG 86):

Durch das, was man direkte Demokratie nennt, und zwar an den Arbeitsstätten und in allen Versammlungen, wo Menschen gleichen Interesses zusammentreten. […] SPIEGEL: Arbeiterräte, wie sie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstanden waren? Sartre: Ja, oder in Rußland nach 1905. Vor 1917 gab es in Russland wirkliche Sowjets[24], das waren Versammlungen, die man als „direkte Demokratie“ bezeichnen kann. Später wurden sie durch Delegierte der Autoritäten, also der Partei ersetzt.

Sartre nimmt hier Positionen ein, die einerseits mit jenen in Marxens Der Bürgerkrieg in Frankreich (u.a. über die Pariser Kommune) verträglich waren, andererseits jedoch auch anarchistischen resp. anarchosyndikalistischen Vorstellungen entsprachen. Dabei schloss er an frühere Aussagen im Interview mit der Zeitschrift Pardon 1970 („Kein Erbarmen mit den Linken“; Interview mit Alice Schwarzer)[25] und in jenem mit Claude Kiejman 1971 („Ein Betriebstribunal“)[26] an. Aufgrund des Wechsels vom marxistischen Gesellschaftsmodell mit durch die Position in der Wirtschaft definierten Klassen zu einem offenen Modell mit den Neuen Sozialen Bewegungen baute Sartre im Interview mit Der Spiegel das Modell der direkten Demokratie aus. Statt eines Modells der direkten Demokratie auf der Basis von Arbeitsstätten vertrat er nun ein erweitertes Modell einer Demokratie in „allen Versammlungen, wo Menschen gleichen Interesses zusammentreten“, d.h. auch Wohnorten und Vereinen.[27]

Verbunden mit dem Wechsel von einem marxistischen, auf revolutionärer Gewalt beruhenden Gesellschafts- und Geschichtsmodell hin zu einem libertären, anarchistischen ist auch die Relativierung der Bedeutung der Gewalt. In seinem Vorwort zu Frantz Fanons Les Damnés de la terre (dt.: Die Verdammten dieser Erde; 1961) hatte Sartre der Gewaltanwendung einen nahezu unbeschränkten Freipass erteilt (auch wenn es durchaus gewisse Relativierungen gab, die von Sartres Anhän­gern wie Gegnern meist großzügig übersehen wurden). Noch in den Jahren 1968-71 nahm Sartre gegenüber Gewalt eine weitgehend ähnliche positive Haltung ein. In Ein Betriebstribunal (BT) sagte er dem Interviewer:

[BT 411] Die Gewalt ist kein Zweck, sondern ein Mittel. Ich persönlich bin nicht gewalttätig … Aber die kapitalistische Gesellschaft – das wissen wir – lässt sich nicht auf freundlichem Wege über Reformen umkrempeln. […; 412] Die Gewalt ist etwas absolut Notwendiges. […; 413] Sicher kommt es zu bedauerlichen Vorfällen, und man sollte, wenn Sie so wollen, eine Art „gute Gewalt“ definieren. Aber Gewalt ist immer schlecht, das steht außer Frage. Nur ist sie unerlässlich und da gut, wo sie Volksgewalt ist. […; 414] Eine Entführung ist weder gut noch schlecht. Sie ist politisch gültig unter bestimmten Umständen und gemäß ihrer Effektivität.

Auch die Ermordung des deutschen Botschafters Karl Graf von Spreti in Guatemala und die Entführung von dessen Kollegen Ehrenfried von Holleben in Brasilien (beide 1970) befürwortete er gegenüber Alice Schwarzer im Interview für Pardon 1970. Drei Jahre später, in „Volksfront nicht besser als die Gaullisten“ (1973), relativierte Sartre nun diese Formen der Gewaltanwendung. Er hielt Ermordungen und Entführungen nicht mehr für angebracht (VNBG 93):

SPIEGEL: Welche Rolle spielt bei der Befreiung der Menschen die direkte Gewalt, der Terror? SARTRE: Eine enorme Rolle. […] Nehmen wir einmal an, irgend jemand würde morgen Nixon [der damals den Krieg in Vietnam eskalierte und auf Kambodscha ausdehnte, A.B.] töten, dann würde ich mir die Hände reiben, weil Nixon ein Mensch ist, den ich als zutiefst schädlich betrachte. Aber dann würden ja noch immer die Männer leben, die ihn unterstützen, und nichts wäre anders. SPIEGEL: Und wenn Aufständische Botschafter eines kapitalistischen Landes entführen, um die Befreiung von Gefangenen zu erzwingen, wie es 1970 mit dem westdeutschen Botschafter in Guatemala, Graf Spreti, geschah? SARTRE: Zu Beginn hat das Resultate gebracht, etwa in Brasilien, aber jetzt nicht mehr.

Im Interview „Schreckliche Situation“, das Alice Schwarzer im Dezember 1974 anlässlich des Besuchs bei Baader veröffentlichte, wandte sich Sartre noch deutlicher gegen terroristische Aktionen:

[SS 166] FRAGE: Heißt dies, dass Sie sich als Linker zwar mit der RAF solidarisch fühlen im Kampf gegen die Repression, nicht aber mit den Aktionen der RAF und ihrer Strategie, die darauf zielt, mittels Stadtguerilla einen Volkskrieg auszulösen? SARTRE: Richtig. Ich bin nicht mit diesen Aktionen einverstanden. […] Das heißt, ich bin nicht a priori gegen jeden bewaffneten Kampf. […] Ich glaube nicht an die Möglichkeit der Befreiung eines Landes durch Wahlen. Ich glaube, daß der Sturz der bürgerlichen Mächte, die den Menschen entmenschlichen, gewalttätig sein wird. […, SS 167] Eine kleine Gruppe kann einen Putsch machen, aber keine Revolution.

Auf die Ermordung des Präsidenten des Berliner Kammergerichts, Günter von Drenkmann, angesprochen hielt er im selben Interview klar und deutlich fest (SS 166):

Nach dem, was ich weiß, scheint mir diese Tat nicht nur ungeschickt zu sein, sondern mehr: ein Verbrechen!

Dies war ein weiter Weg, den Sartre seit seinem Vorwort für Les Damnés de la terre zurückgelegt hatte.[28] [29]



[1] Verweise auf Sartres Werke erfolgen in Form von Siglen, gefolgt von den Seitenzahlen. Das Verzeichnis der Siglen findet sich am Ende des Beitrags.


[2] „Die Kritik wurde gegen die Kommunisten geschrieben, obwohl sie marxistisch ist. Ich war der Auffassung, daß die Kommunisten den wahren Marxismus völlig entstellt, verfälscht hätten. Heute denke ich nicht mehr ganz so [d.h. der Sowjetkommunismus ist ein wahrer Marxismus, A.B.].“ (SF 191f.)


[3] Maurice Merleau-Ponty erkannte hierin schon 1955, in Les Aventures de la dialectique, eine Parallele zu den Anarchisten: „Bei Sartre ist stets, wie bei den Anarchisten, der Gedanke der Unterdrückung dem der Ausbeutung übergeordnet.“ (Die Abenteuer der Dialektik. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, S. 187).


[4] Der Gegensatz zwischen methodischem Individualismus und methodischem Holismus durchzieht die ganze moderne politische Philosophie. Als methodischer Individualist steht Sartre in der Tradition der Aufklärung wie auch Hobbes, Locke, Montesquieu, Kant, Tocqueville, J. St. Mill, Beauvoir, Camus und moderne Liberale wie Rawls, Dworkin, aber auch Habermas oder Benhabib. Als methodische Holisten gelten demgegenüber Rousseau, Hegel, Marx, Arendt und Kommunitaristen wie Sandel, Taylor, MacIntyre und Walzer.

Vom methodischen Gegensatz zwischen Individualismus und Holismus ist jener zwischen Liberalismus und Republikanismus zu unterscheiden. Beim Liberalismus steht das Individuum mit seinen individuellen Rechten im Vordergrund, so dass der politische Prozess idealerweise eine gelungene Aggregation von individuellen Interessen ist. Die Vertreter des Republikanismus verstehen hingegen den politischen Prozess als einen öffentlichen Prozess auf der Grundlage von Bürgertugenden. Für sie hat die Gemeinschaft, wie sie bspw. in der – kleinräumigen – athenischen Demokratie existierte, Vorbildskraft. Mit ihren kleinen anarchistischen Gemeinschaften ist Sartres Position eine, die von einer liberalen, individualistischen Position ausgehend deutliche Elemente des Republikanismus übernommen hat und entsprechend auch Gemeinsamkeiten mit der Position der Kommunitaristen aufweist, auch wenn bei Sartre communities of choice und nicht communities of fate im Zentrum stehen. Auch bei Punkten wie der Diskussion um den Gesellschaftsvertrag oder die liberale Trennung zwischen Gutem und Rechtem liegt Sartres Position näher bei jener der Kommunitaristen, die diese Trennung ablehnen.


[5] In den Carnets de la drôle de guerre, seinen Kriegstagebüchern, schreibt Sartre selbst von seinem frühen „anarchistischen Individualismus“ (TB 272).


[6] Sartre nahm in Sartre. Un film (SF 64-66) und in On a raison de se révolter (IAR 60) eine verwandte Einteilung seines Lebens in die drei Perioden des Moralismus, des amoralischen Realismus und des materialistischen, moralischen Realismus vor. Diese bezog sich allerdings nicht auf seine politische Philosophie, sondern auf sein politisches Engagement, weshalb die zweite Periode schon 1965 mit dem Bruch mit der UdSSR endete.


[7] Die Wende von seinem moralischen Realismus und von seinem Fokus auf Metaethik hin zu einer normativen (Meta-)Ethik (siehe hierzu auch Sartre und Beauvoir - eine Ethik fürs 21. Jahrhundert) hatte sich schon während seiner Zusammenarbeit mit den Maoisten gezeigt. Siehe Sartres Lob der Maoisten für ihre Moralität (neben Gewalt und Spontaneität) in Sartres Vorwort zu Michèle Manceaux‘s Maos en France (veröffentlicht im Feb. 72; MIF 456).


[8] Siehe hierzu auch Fußnote 65. Auch der Titel von Michel Onfrays Camus-Biographie L’Ordre libertaire (dt.: Die libertäre Ordnung) wurde auf Deutsch entstellt als Im Namen der Freiheit übersetzt.


[9] André Gorz, ein enger Mitarbeiter von Sartre in den 1960er und 1970er Jahren, war ein Vorläufer der Vertreter dieses veränderten Gesellschaftsbild. In seinem Werk Stratégie ouvrière et néo-capitalisme (1964) hatte er den Begriff des Proletariers dahingehend angepasst, dass dem Proletariat nicht mehr eine per se exklusive revolutionäre Rolle zuerkannt wurde. Der Proletarier war nicht mehr der verarmte, ausgebeutete Arbeiter, sondern umfasste neu auch den hochqualifizierten Techniker und Manager, der mit dem traditionellen Arbeiter die Entfremdung gemeinsam hatte.


[10] Siehe WSTL 286, VNBG 84 oder in GDE 5 („Ich bin selbst Feminist“). Sartre brachte Beauvoirs zentrale Aussage „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es" aus Le Deuxième sexe (1949) schon in Baudelaire zum Ausdruck: „dass das ‚Weibliche‘ den Umständen und nicht dem Geschlecht entspringt.“ (B 94).


[11] Siehe auch den Satz aus Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.“ (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm; 27.3.17).


[12] Sartre vertrat eine metaethische Position des Relativismus, wonach letztlich alle Werte gleichermaßen (un-)gerechtfertigt sind. Der von den meisten Anarchisten vertretene Rekurs auf Naturrecht oder moral sense (bspw. als angeborenes Solidaritätsgefühl) verträgt sich nicht mit der Metaethik Sartres, der in dieser Hinsicht eher Gemeinsamkeiten mit extremen Vertretern des Individualanarchismus wie Stirner aufweist.


[13] Lip war eine Uhrenfabrik aus Besançon, die an der Front der Bewegung für Arbeiterselbstverwaltung stand. Die Kampagne um eine selbstverwaltete Lip begann 1973. Wie Sartre voraussah, scheiterte sie jedoch. Das Unternehmen ging 1976 in Konkurs.


[14] Aufgrund der sechs Reisen Sartres nach Jugoslawien in den 1950/60er Jahren und seiner Freundschaft mit Vladimir Dedijer, einem Kampfgefährten von Milovan Djilas, ist davon auszugehen, dass Sartre spätestens in den 1960er Jahren Kontakt zur jugoslawischen Form der Selbstverwaltung hatte.

Zuvor gab es schon Beziehungen zur Gruppe Socialisme ou Barbarie, deren Führer, der Ex-Trotzkist Cornelius Castoriadis, schon in den 1950er Jahren für Selbstverwaltung eintrat. Als Michel Contat im Interview zu Sartres siebzigstem Geburtstag festhielt, dass sich der libertäre Sozialismus, auf den sich Sartre nun berief, zuvor eher bei der Gruppe Socialisme ou Barbarie fand, war Sartres ungemütliche Lage spürbar, denn Sartre hatte sie zuvor abgelehnt. Er antwortete, dass deren Gedanken nun richtiger erscheinen mögen, doch ihre Position sei damals, d.h. in den 1950er Jahren, falsch gewesen (SPSJ 214f.).


[15] In Les Communistes et la paix sprach Sartre generell vom revolutionären Syndikalismus, der neben dem Anarchosyndikalismus auch einen nicht explizit anarchistischen Syndikalismus im Stile eines Pierre Monatte vertrat. Die Erwähnung des Syndikalismus in diesem Zusammenhang dürfte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussion mit Albert Camus erfolgt sein (cf. AAC 30f.). Sartre wie Camus schätzten den Syndikalismus in hohem Maße. Was sie trennte, war die Relevanz des Syndikalismus für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Camus hielt Sartre diesen damals für ein Phänomen, das durch die technische Entwicklung überholt war.


[16] Und dies trotz zweimaliger Veröffentlichung auf Englisch, erstmals in Telos im Sommer 73 und das zweite Mal im Feb. 74 in der Zeitschrift Ramparts in San Francisco.


[17] Übersetzung durch den Autor.


[18] In La Cause du Peuple-J’accuse vom 28.6.71 mit seinem Beitrag Pourquoi un tribunal populaire contre la police (Wieso ein Volkstribunal gegen die Polizei).


[19] In Sartres Ethik begründen sich alle Werte in individuellen Entscheidungen. Das heute gängige, an naturrechtliche Vorstellungen angelehnte Verständnis von Menschenrechten ist mit Sartres (aber bspw. auch Habermas‘) Philosophie nicht vereinbar. Menschenrechte gibt es entsprechend nicht als von konkreten Menschen unabhängige Ansprüche und Rechte, sondern nur, insofern sie durch politische (resp. judikative) Entscheidungen gewährt werden.


[20] Wer Sartres frühere Äußerungen aufmerksam liest, kann feststellen, dass Sartre in seinen Äußerungen meist luzider war, als seine einseitige politische Unterstützung vermuten ließ: der Kolonialist war nicht nur ein Unterdrücker, sondern selbst ein Unterdrückter (VE 152); der Manager ist noch mehr entfremdet als der Arbeiter (HJ 252); die Frau ist in gewisser Weise freier als der Mann (ME 178f.). Sartre sprach nicht nur von Dialektik, er wandte sie auch an.


[21] Sartre hatte immer Vorbehalte gegenüber idealisierten Vorstellungen einer kommunistischen Gesellschaft. In den Cahiers pour une morale setzt er die kommunistische Gesellschaft nicht nur in Marxens Sinne mit dem Ende der (Vor-)Geschichte gleich, sondern auch mit dem Tod (EM 254). Leben bedeutet für ihn offensichtlich ein Leben in Widersprüchen. In On a raison de se révolter gibt Pierre Victor die Aussage von Sartre wieder, dass „die Revolution möglich [sei], aber vermutlich würde aus ihr eine kaum weniger verabscheuungswürdige Gesellschaft hervorgehen.“ (IAR 57).


[22] Krivine war Kandidat der trotzkistischen Ligue Communiste (1969-73), die sich im Front communiste révolutionnaire (1974) und in der Ligue Communiste Révolutionnaire (1974-2009) fortsetzte und später im Nouveau Parti anticapitaliste (2009-) auflöste. Piaget sollte Kandidat des PSU werden, doch dieser schloss sich mehrheitlich Mitterrand an. Krivine wollte ursprünglich Piaget unterstützten, kandidierte dann jedoch selbständig (ohne Unterstützung durch Sartre) als Kandidat einer Minderheit des PSU und der Trotzkisten des Front communiste révolutionnaire und der L'Alliance marxiste révolutionnaire (1969-74).


[23] Im 1981 veröffentlichten Buch La Cérémonie des adieux, das ein im Sommer 74 geführtes großes Interview von Beauvoir mit Sartre enthält, gibt es Sartres sehr seltsame Aussage, dass er als Sozialist-Kommunist (socialiste-communiste) ende (ZA 480). Es ist eine Aussage, die nicht durch andere aus derselben Zeit gedeckt wird. Es ist sogar das einzige Mal, das Sartre sich als Sozialist-Kommunisten bezeichnete. Mit großer Wahrscheinlichkeit legte Beauvoir Sartre dessen Bekenntnis zum Sozialismus-Kommunismus in den Mund. Die Aussage macht nur Sinn, wenn sie im Rückblick auf den politischen Bruch zwischen Sartre und Beauvoir und die darauf folgenden Streitigkeiten in Sartres Familie verstanden wird. Während Lévy, Arlette Sartre-Elkaïm, Contat und Rybalka große Sympathien für Sartres mehr anarchistische Aussagen seiner letzten acht Lebensjahre hatten, akzeptierten insbesondere Beauvoir, aber auch Jacques Bost und Claude Lanzmann den neuen Sartre nicht mehr. Beauvoir hatte ein eminentes Interesse an einem Sartre, der sich als Sozialisten-Kommunisten verstand.


[24] Die ersten Sowjets wurden zur Zeit der russischen Revolution 1905-07 gebildet. Die Hochzeit der Sowjets war jene zwischen der Februarrevolution 1917 und der Oktoberrevolution im gleichen Jahr. Schon ab 1919 gab es Tendenzen weg von den Sowjets hin zur Einzelleitung, die sich mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921, der Elimination der Arbeiteropposition (mit Alexandra Kollontai) 1922 und der offiziellen Einführung der Einzelleitung in Industriebetrieben 1929 verschärfte. Siehe auch Sartres Darstellung der Kampfs zwischen zwei Machtblöcken, dem demokratischen der Sowjets, und dem zentralistisch-autoritären der Partei unter Lenin in IAR 36f. (A.B.)


[25] „Frage: Sie plädieren für eine soziale Demokratie. Was verstehen Sie darunter? Sartre: Eine Demokratie, die auf der Arbeit basiert, eigentlich also auf den Sowjets, den Räten. Die, die die UdSSR gewollt und die die Umstände sie haben verfehlen lassen.“ (KEML 445).


[26] „Für die Linksradikalen geht es darum, selbstverantwortliche Arbeitervollversammlungen in einer Fabrik zu bilden. Diese Versammlungen sollen Leute aus ihren Reihen delegieren, die nicht von den Gewerkschaften kommen – die vielleicht in der Gewerkschaft, aber nicht als deren Funktionäre entsandt sind –, damit sie mit dem Arbeitgeber reden. Anders gesagt, sie wollen eine direkte Demokratie und dadurch die Gewerkschaft ausschalten, denn inzwischen weiß man, wie das mit ihr geht.“ (BT 411).

Siehe auch Sartres Aussagen im Spiegel-Interview vom Juni 1972, wo er jede Beteiligung an Wahlen als eine Bestätigung des Systems ablehnt. Die einzige wahre Form der Volksdemokratie sei die direkte Demokratie mit ihren Volksversammlungen und Aktionen in Betrieben und auf der Strasse (WHUV 124).


[27] Dies bedeutet indirekt eine Absage an den Anarchosyndikalismus, der die ganze Gesellschaft exklusiv auf der Basis von Gewerkschaften organisieren wollte.


[28] Im zwei Jahre später erfolgten Interview mit Newsweek, das unter dem reißerischen Titel Terrorism Can Be Justified (cf. TCBJ) veröffentlicht wurde, schien Sartre seine Position widerrufen zu haben. Beim veröffentlichten Text handelt es sich allerdings nur um einen Auszug aus dem insgesamt geführten Gespräch. Zudem war Sartre ein ausgesprochener Softy, d.h. er passte seine Aussagen immer seinen Interviewpartnern und potentiellen Lesern an. Da die Aussage im Newsweek-Interview in ihrer Absolutheit und ihrer Kürze (Verkürzung? Wo liegt die Betonung, auf can oder auf justified?) weder zu den zuvor noch den danach geführten Stellungnahmen Sartres zur Gewalt passt, vernachlässige ich sie. In WSTL, einem andern Interview, das Sartre für ein amerikanisches Magazin gab, finden wir im Übrigen einen ähnlichen Fall. In diesem 1972 publizierten Interview (WSTL 208) bezeichnete sich Sartre als Kommunisten, wofür es ebenfalls keine Belege in französischen Medien gibt (ist communist hier die englische Übersetzung für das französische marxiste?).


[29] Sartres Haltung zur Gewalt bedeutet innerhalb der anarchistischen Welt gleichermaßen eine Absage an den terroristischen Anarchismus in den Jahrzehnten vor und nach 1900 wie an den späteren Anarchopazifismus.



                                  Teil 2