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Alfred Betschart 

  

Macht und Freiheit

 

Die erste Phase von Sartres anarchistischer Periode, in der er sich als Mitglied der antihierarchisch-libertären Bewegung verstand, wurde dominiert durch dessen Engagement zugunsten verschiedenster Neuer Sozialer Bewegungen. Der Schlaganfall im März 73 und die darauf folgende Blindheit veränderten die Situation radikal. Sartre konnte nicht mehr lesen und schreiben. Er drückte sich langsam aus, mit Pausen – was eine Schnelldenkerin und -sprecherin wie Beauvoir unendlich frustrierte. Doch die dadurch verursachte Distanz zur politischen Aktualität gab Sartre die Möglichkeit, sich der politischen Philosophie vom Grundsätzlichen her weitgehend abseits von jeglichem konkreten politischen Engagement und der damit verbundenen taktischen Überlegungen zu nähern.

In dieser zweiten Phase stand ein Buchprojekt mit Bénny Lévy im Zentrum, das den Titel Pouvoir et liberté, Macht und Freiheit, trug. In seinem Kern bedeutete dieses Buchprojekt eine Rückkehr zu den Ansätzen von L’Être et le néant. Den Ausgangspunkt bildete von neuem das einzelne Subjekt, das Subjekt in seiner ontologischen Freiheit, das auf der Grundlage seines Entwurfs handelt. Die implizite Rückkehr zur ontologischen Freiheit mag als Anachronismus erscheinen, doch auch in seiner marxistischen Zeit hatte Sartre den Begriff der ontologischen Freiheit nie aufgegeben. So findet sich der Satz, dass die ontologische Freiheit auch dem Sklaven zukommt, nicht nur in L’Être et le néant, sondern auch in der Critique (SN 944, KDVI 612). Es ist das Subjekt, das – sei es allein oder, meistens, in Gruppen – der Schöpfer allen Praktisch-Inerten und auch der Hexis als degenerierter Form von Praxis ist. Wie Sartre 1946 in Matérialisme et révolution festhielt, ist auch eine kommunistische Revolution auf das aktive Subjekt als Revolutionär angewiesen und setzt somit implizit dessen ontologische Freiheit voraus. Das Individuum in seiner Freiheit zu vernachlässigen war einer von Sartres Hauptkritikpunkten an den Marxisten, aber auch den Strukturalisten; siehe seine Kritik in der Zeitschrift L’Arc 1966 (SR). Letzteren war er vor, dass sie den Wandel der Strukturen nicht erklären könnten, weil sie nur noch die Strukturen, aber nicht mehr die handelnden Subjekte erkennen, die die Strukturen erst ändern können.

Sartre kehrte in der Phase von Pouvoir et liberté noch in einer weiteren Hinsicht zu seinem ersten großen philosophischen Werk zurück. Der Gegenspieler des Subjekts ist nicht mehr wir zur Zeit der Critique das An-sich[1], sondern wie in L’Être et le néant der Andere, allerdings nichts als beliebiger Anderer, sondern als der Andere in Form der Macht. Statt für Entfremdung wie in der Critique[2] interessiert sich Sartre nun mehr für Macht und Unterdrückung. Was Sartre unter Macht versteht, definiert Sartre nicht[3]. Doch seine Definition dürfte jener Max Webers sehr nahekommen, für den Macht „jede Chance [ist], innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“[4]. Wie bei Weber ist auch bei Sartre Macht die Grundlage von Herrschaft (CRDII 130). Macht zu besitzen ist die Voraussetzung, um einen andern zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen und so dessen Freiheit einzuschränken.

Einen ersten konkreten Hinweis auf Sartres und Lévys Projekt von Pouvoir et liberté findet sich im auf Flämisch publizierten Interview, das Sartre im November 1976 dem Philosophen Leo Fretz gewährte, ein Interview, das leider erst vier Jahre später auf Englisch übersetzt und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde (IS 266):

Ja, ich bin daran, mit einem Freund [Benny Lévy, A.B.] ein Buch über Macht und Freiheit zu schreiben. […] Und ich werde aufzuzeigen versuchen, dass Moral und Politik nur von jenem Zeitpunkt an Sinn machen können, wenn Begriff und Wirklichkeit von Macht wahrlich beseitigt sind. Eine Gesellschaft ohne Macht beginnt eine moralische Gesellschaft zu werden, weil eine neue Form von Freiheit geschaffen wird, eine Freiheit reziproker Beziehungen von Personen in der Form eines Wir. [Ü. A.B.]

Die offizielle, wenn auch sehr kurz gehaltene Ankündigung des Buchs Pouvoir et liberté erfolgte am 6.1.1977 in der Zeitung Libération.[5] Im Zentrum des Buches in Form von Dialogen zwischen Sartre und Lévy sollten ihre Ansichten über Moral und Politik und somit eine normative politische Philosophie stehen. Ihr Ausgangsmaterial waren Texten über die Französische Revolution, womit Sartre zu Materialien zurückkehrte, für die er sich schon in den 1950er Jahren interessiert hatte[6].

Im Vordergrund der Diskussionen stand das Thema der reziproken Freiheit (PL 11):

Das Demokratische, das wir in seiner wahren Form finden wollen, das ist nicht, wie ich lange glaubte, die totale Freiheit der Person, sondern vielmehr die unsrige, das heißt die reziproke Freiheit, die Freiheit der Personen, insofern sie untereinander verbunden sind, zu handeln und zu denken, während sie „wir“ sagen können. [Ü. A.B.]

Es geht nicht um die ontologische Freiheit eines solipsistischen Subjekts, sondern um die Frage, wie Subjekte mit ihrer je subjektiven ontologischen Freiheit zusammen handeln, denken und leben können. Dies ist schon ein Verweis auf die nachfolgende dritte Phase der Geschwisterlichkeit, als dem Thema des „Wir“ eine im Vergleich zur Phase von Macht und Freiheit eine viel bedeutendere Rolle zukam.

Im Zentrum von Sartres Denken in den Jahren 1975 bis 1979 stand die Frage, wie denn Macht und Freiheit grundsätzlich zusammenpassen. Eine erste grundsätzliche Stellungnahme erfolgte in einem Interview mit Lotta Continua im September 77, das unter dem Titel Libertà e potere non vanno in coppia erschien (LPNV)[7] und dessen Zusammenfassung schon im Titel erfolgt: Freiheit und Macht passen nicht zusammen:

Das Thema unserer aktuellen Arbeit ist: Macht und Freiheit. […] Demnach gibt es hier eine Kraft der Revolte, die den Ursprung der Freiheit bildet. Und daher müssen wir die ganze Beziehung zwischen den Massen und dem Staat anschauen. Dies ist ein erster Teil unserer Arbeit, wo wir die Dinge entlang einiger Jahrhunderte seit der Französischen Revolution studieren möchten. Von hier möchten wir zum zweiten Punkt gelangen, einem Studium der aktuellen Lage: die Gesellschaft von heute und in ihrem Innern die Tendenzen zu einer Erstarrung des Staates, die Sie selbst so genau aufgezeigt haben. […] Wir denken, dass es eine Tendenz zum fortschreitenden Abbau der Macht gibt. Dies ist eines der wesentlichen Elemente der neuen Revolution, die sich vollziehen wird. Denn Freiheit passt nicht mit Macht zusammen: zwischen diesen gibt es einen klaren Widerspruch. [Ü. A.B.][8]

Mitte 1978 wurde Sartre ein weiteres Mal zu aktuellen Fragen interviewt, dieses Mal durch den spanischen Schriftsteller Juan Goytisolo. Das Interview erschien am 11. Juni 1978 in der Zeitung El País. In Fortsetzung seiner Gedanken aus dem Interview mit Lotta Continua forderte er die Aufhebung der Macht. Sozialismus bedeutete für Sartre, dass die Menschen frei und niemand mehr Macht über den andern hat (CCJPS VI):

Das fundamentale Problem heute ist zu entscheiden, was wir unter Sozialismus verstehen: eine neue Bewegung schaffen, ein Projekt des Sozialismus, das im Lichte seiner Beziehungen zur Idee der Macht analysiert wird. Dürfen Menschen Macht über andere haben? Diese Mächte, d.h. die Autorität, die sich von oben nach unten durchsetzt und die Freiheit von jenen unten durch Befehle von oben einschränkt, zuzulassen, zu erdenken, ist dies nicht schon eine Art, eine menschliche Gesellschaft zu machen, die nicht lebenswert ist? Bedeutet eine Ungleichheit herstellen nicht schon eine Gesellschaft schaffen, die nicht menschenwürdig ist?

Mit meinem Freund Pierre Victor arbeite ich aktuell am Thema “Macht und Freiheit”, in einem Buch, dessen Redaktion und Schluss noch reichlich Zeit beanspruchen wird. In diesem Buch hätte ich gerne die Gesamtheit meiner politischen Ideen dargestellt und mit Klarheit präzisiert, dass für mich das Wesentliche die Aufhebung der Macht der einen über die andern ist; dass eine Gesellschaft nicht frei sein kann – und deshalb insofern auch nicht eine menschenwürdige Gesellschaft existieren kann –, wenn sich in ihr gewisse Menschen Macht über andere anmaßen: in einem Wort: wenn die Regierungen nicht aufhören, in ihrer aktuellen Form zu existieren, und die Form des Staates selbst zerstört wird. [Ü. A.B.]

Wie schon im Interview mit Lotta continua sprach sich Sartre dafür aus, das sich die Kulturschaffenden und Intellektuellen nicht der Herrschaft des Staates oder der Parteien beugen. Er sah einen Kampf zwischen zwei Richtungen, wie es ihn schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab, den Kampf zwischen einer Richtung, die Blindheit, Zensur und Unnachsichtigkeit vertritt und die mit den kommunistischen Parteien und den Parteien insgesamt verbunden ist, und einer, die für Demokratie steht, nicht die bürgerliche Demokratie, sondern die wahre.

Auch wenn die Betonung des Gegensatzes zwischen Macht und Freiheit eine wesentliche Neuerung darstellt, inhaltlich stellte die Phase von Pouvoir et liberté in ihrer Grundausrichtung doch eine konsequente Fortsetzung der antihierarchisch-libertären dar. Diese Kontinuität wird durch die die im April 75 in Libération erschienen Gespräche zwischen Sartre, Lévy, Gavi, Serge July und Beauvoir über Portugal belegt. In der ersten Hälfte April war Sartre mit Lévy und Beauvoir nach Portugal gereist, um sich über den Stand der Nelkenrevolution[9] zu orientieren. Sartre fiel in den Gesprächen vor allem dadurch auf, dass er gegen die Macht der Institutionen, d.h. der Armee und der Parteien, auf die Macht der Arbeit und des Volkes setzte. Ausgeprägter als Lévy interessierte er sich für die Selbstverwaltung. Es waren Überlegungen, die sehr gut mit den Grundideen von Pouvoir et liberté übereinstimmten. Diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung für das Verständnis von Sartres Entwicklung, denn sie dokumentiert, dass die Grundidee des Widerspruchs zwischen Macht und Freiheit nicht auf einer Art Greisenverführung durch Lévy beruhte, sondern vielmehr Sartre selbst die treibende Kraft war.

Hinter dem Gegensatz von Macht und Freiheit stand eine Rückkehr Sartres zur Wertschätzung des Menschen als Individuum und Subjekt, wie sie insbesondere L’Être et le néant zugrunde lag. Sartres Individuumsbegriff hatte sich schon immer fundamental vom abstrakten Subjekt der Aufklärung, von Kants transzendentalem Subjekt unterschieden, hinter dem sich nur der weiße, christliche und heterosexuelle Mann als Mitglied des Bürgertums versteckt. In seiner marxistischen Zeit verschwand das konkrete Individuum jedoch hinter dem marxistischen Klassenbegriff: das Individuum war – trotz aller Relativierung des Klassenbegriffs – vor allem Angehöriger einer Klasse. Die Aufweichung zu Beginn der 1970er Jahre, als Sartre das Individuum als Angehörigen einer Gruppe verstand, die sich (eventuell) in einer Neuen Sozialen Bewegung engagierte, war ein erster Schritt der Rückkehr zum alten Verständnis des Individuums. In der Phase von „Macht und Freiheit“ ging es Sartre noch ausgeprägter um das konkrete Individuum in seiner kontingenten Situation – auch wenn das Individuum nach wie vor ein potentieller Angehöriger einer Neue Sozialen Bewegung blieb, wie seine Aussagen über Frauen und Feminismus gegenüber Neudeck und Catherine Clément, sein Interview gegenüber der Schwulenzeitschrift Le Gai Pied 1980 oder sein Interessen an den Autonomiebewegungen in Spanien im Interview mit Goytisolo zeigten. Im Fokus stand das Individuum, so kontingent wie die Wurzel des Kastanienbaums in La Nausée, der individuierte Mensch, der Mensch in seiner konkreten Form als handelnder Mensch (GDE 5):

Der Philosoph ist im Grunde jener, der erforscht, was der Mensch ist. Es gibt keine andere Definition von Philosophie. […] Ich denke, dass die Frage, die sich allen mehr oder weniger verschleiert stellt, immer noch diese ist: „Was ist der Mensch?“ Das heißt praktisch: „Was kann ich, Mensch, machen?“ [Ü. A.B.][10]

In L’Espoir maintenant kann Sartre entsprechend festhalten:

[BUG 22] Zunächst einmal gibt es für mich, wie du weißt, kein apriorisches Wesen; also steht das, was ein Mensch ist, noch gar nicht fest. […] unser Ziel besteht darin, einen wirklich konstituierten Verband zu schaffen, in dem [23] jede Person ein Mensch ist und die Kollektivitäten ebenfalls menschlich sind.

Später in diesem Werk wird aus dieser Vielzahl von unterschiedlichen Menschen der MENSCH (franz.: l’Homme), der individuierte Mensch, nicht der abstrakte Mensch der Aufklärung, hinter dem sich der weiße, christliche und heterosexuelle Mann als Mitglied des Bürgertums versteckt, sondern die Vielzahl der Menschen-in-Situation.

[BUG 49] Meiner Ansicht nach wird die totale, die wirklich denkbare Erfahrung [der Brüderlichkeit; A.B.] dann existieren, wenn der Zweck, den alle Menschen in sich haben, wenn der [50] MENSCH [Ü. korrigiert, A.B.] verwirklicht sein wird.

Der MENSCH steht für Sartres singuläre Allgemeine, für das personalisierte Konstituierte.

Entsprechend seinem Fokus auf das konkrete Individuum engagierte sich Sartre nun auch für Personen, die zu seinen politischen Gegnern zählten. Im Interview mit Catherine Clément, das im November 79 unter dem Titel La Gauche: Le désespoir et l’espoir. Entretien avec Jean-Paul Sartre in Le Matin veröffentlicht wurde, hielt er in Bezug auf die Boat people aus Vietnam fest (GDE 4):

Die Vietnamesen, für wir in diesem Moment kämpfen, sind genau jene, die vor ein paar Jahren als Verräter betrachtet wurden, als Verbündete der Amerikaner… Das politische Problem Vietnams, seiner Willensäußerungen, seiner Handlungen, hat einem menschlichen Problem Platz gemacht, das Menschen betrifft, die das eine oder andere dachten, die aber jetzt allein auf einem Boot, auf dem Meer sind. Dies ist ein Problem, das uns insofern interessiert, als sie Menschen sind, einem Zustand ausgesetzt, der nicht Teil des alltäglichen Schicksals von Menschen ist. .. Es gibt hier – als Beispiel – zugleich eine neue populäre Anregung und die Vorstellung, diese Gruppen und Menschen unabhängig von ihren politischen Ansichten anzunehmen. [Ü. A.B.]

Auch im Interview, das Maria Antonietta Macciocchi unter dem Titel Umanesimo e violenza im Herbst 79 in der italienischen Zeitschrift L’Europeo veröffentlichte, bezog Sartre mit gleicher Stoßrichtung Position, als Macciocchi ihm unterstellte, sein Urteil über den Vietnamkrieg geändert zu haben (UV 14):

Ich habe geglaubt, dass man nicht Menschen sterben lassen darf, auch wenn ich denke, dass die Mehrheit dieser Vietnamesen gegen die von uns durchgeführten Aktionen waren, um den Vietnamkrieg zu beenden. […] Aber jetzt ist der Krieg vorüber. Sie sind keine Gefangenen, sondern Menschen, für die wir normale Lebensbedingungen sicher stellen müssen. [Ü A.B.]

Hinter dieser Haltung stand Sartres neuer Humanismus. Auf die Frage, wie er es jetzt mit dem Humanismus halte, fuhr Sartre im Interview mit Catherine Clément fort (GDE 5):

Ich habe damit begonnen zu sagen: den Humanismus, den braucht es nicht. Dann sagte ich, dass der Existentialismus ein Humanismus sei, und dann wiederum, dass es besser sei, nicht darüber zu sprechen. Ich glaube, dass die Frage, die sich uns allen mehr oder weniger verschleiert stellt, immer noch lautet: ‚Was ist der Mensch?’ Das heißt praktisch: ‚Was kann ich als Mensch machen?’ Eine Handlung zwingt sich mir auf oder verweigert sich; was ist das, das moralische Gewissen? Wir können dies sehr wohl als Humanismus bezeichnen. In der Tat, verstehen wir unter Humanismus den Menschen als natürliches Objekt zu nehmen, das andern überlegen ist um sie zu beherrschen, dann bin ich kein Humanist. Der Mensch ist kein natürliches Objekt. Aber wenn man darunter im Gegenteil versteht, dass der Mensch qua Mensch versucht die Gesamtheit dessen zu bestimmen, was wir als Rechte und Pflichten bezeichnen, so bin ich Humanist. [Ü. A.B.]

Hierzu finden wir Parallelen nicht nur in L’Espoir maintenant (BUG 23f.), sondern ebenfalls im Interview Macciocchis, als diese nach den Möglichkeiten eines „Humanismus von links“ fragte. Sartre hielt ihn für möglich, aber nicht als ein Spiel von Begriffen, sondern als moralischen Wert (UV 86):

Für mich ist der Humanismus nicht eine Art, den Menschen zu definieren, aus ihm eine wunderbare Kreatur zu machen, sondern in ihm den Nächsten zu erkennen, mit allen Verpflichtungen, die dies mit sich bringt, und der Freiheit, die eine solche Position impliziert. Das Wesentliche ist, dass der Mensch weiß, dass er Mensch ist. In welchem Sinn? In dem Sinn, dass er der Nächste eines andern Menschen ist, der dieselben Sachen ausdrücken will, und demzufolge alle Menschen gleich sind. […] Unsere Arbeit ist heute nicht nur darauf gerichtet, eine humanistische Gesellschaft zu gestalten, sondern ist auch der Versuch, die Rolle des Staates zu beschränken, und der Staat, der anthropomorphe Staat, ist die Schöpfung, die dem Manichäismus am nächsten steht. [Ü. A.B.]

Mit diesem neuen Humanismus war auch eine weitere Relativierung der Zulässigkeit von Gewalt verbunden:

[UV 84] Wenn man in einer manichäischen Welt lebt, lebt man schlecht und aggressiv. Nicht dass man nicht aggressiv sein darf; allgemeiner würde ich sagen, dass die Aggressivität eine menschliche Eigenschaft ist. Aber wir dürfen nicht mit der Aggressivität als Prinzip anfangen. [...] Gewalt ist ein Instrument verwahrloster Menschen, die sich als unterdrückte gesellschaftliche Kraft zusammenfinden, die außer der Gewalt keine andere Möglichkeit des Eingreifens hat. Es ist sinnlos, Pazifismus zu predigen. [85; Macciocchi: ...] Und ist es wahr, wie Raymond Aron sagt, dass Sie nach dem Vietnam- und dem Kambodschakrieg nicht mehr ein Vorwort wie jenes zu Fanons Die Verdammten dieser Erde schreiben würden? [Sartre: ...] Zum Vorwort zu Fanon, vielleicht würde ich etwas revidieren, jedoch kaum etwas. Ich sage Ihnen, dass es ein Fehler ist zu denken, dass ich die Idee der Gewalt als unverzichtbares Element des Kampfes aufgegeben habe. Sicher, mitnichten denke ich, dass sie die Bedeutung hat, die ihr der Marxismus gibt, “die Gewalt als Hebamme der Geschichte”. […] Ich würde sagen, dass sogar in einer modernen Gesellschaft wie z.B. der französischen es eine Art von Unterdrückung gegenüber der Masse gibt, die diese knechtet. Woher kommt die Gewalt? Es gibt eine Gewalt, der wir für immer den Rücken zukehren sollten, die aggressive Gewalt, und es gibt eine explosive und defensive Gewalt der Leute, die die eigene Menschenwürde wiedergewinnen, oder, wie man in andern Gesellschaften sagen würde, die die Einhaltung der Menschenrechte erreichen wollen. [...] Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, wo es eine Gewalt gibt, die befreit, wonach wir trachten sollen, und eine Gewalt, die unterdrückt, die die andere rechtfertigt. [Ü. A.B.]

An der grundsätzlichen Ansicht, dass sich die gegenwärtige Gesellschaft Gewalt anwendet und wahrscheinlich sich mit Gewalt gegen eine Veränderung zur Wehr setzt, hielt Sartre weiterhin fest. Doch er verzichtete auf die Apotheose der Gewalt, die sein Vorwort zu Fanons Les Damnés de la terre zumindest teilweise war, und kehrte wieder zu jener Position zurück, die schon dem Disput mit Camus 1952 zugrunde lag. Die Geschichte ist ein Schwimmbecken voll Dreck und Blut, in dem wir mitten drin stecken (AAC 50). Ob Gewalt als Mittel moralisch zu rechtfertigen ist, muss im Einzelfall entschieden werden.[11]

Diese Aussagen von Sartre über Freiheit, Macht, Staat und Gewalt sind in mehrfacher Hinsicht von großem Interesse. Dem Individuum kommt neu ein absoluter Vorrang zu. Das Individuum steht dabei nicht für einen abstrakten Menschen, wie ihn sich der klassische Humanismus vorstellte, sondern für einen Menschen mit seinen ihm ganz eigenen Bedürfnissen – oder, in Sartres Sprache aus L’Être et le néant, mit seinem eigenen Entwurf. Entwürfe, selbst jene des Chinesen oder Inders, sind zwar verstehbar, wie Sartre schon L’Existentialisme est un humanisme festhielt (EH 167), doch nicht begründbar. Wir können zwar über Werte diskutieren, doch diese unterliegen letztlich, wie Sartre in seinen metaethischen Überlegungen[12] festhielt, nicht rationalen Argumenten.[13] Sartres Verständnis von Gesellschaft ist deshalb ein wesentlich pluralistisches. Es gibt in der Gesellschaft eine Vielzahl von Werthaltungen: alle sind letztlich gleichermaßen unbegründbar und damit gleichermaßen berechtigt.

Da der Mensch jedoch nicht ein solipsistisches Wesen ist, sondern einer, der immer dem Andern sein Nächster ist und diesen voraussetzt, ist die Umsetzung des eigenen Entwurfs nur in der Gemeinschaft mit andern möglich. Die Grundlage dieser Umsetzung bildet die individuelle Freiheit. Dieser steht aber die Macht in Staat, Gesellschaft wie Wirtschaft entgegen. Noch im Interview mit Sicard 1977/78 war Sartres Machtbegriff ein breiter. Wenn Sartre damals sagte, dass er an die gesellschaftlichen Mächte und nicht unbedingt an den Staat dachte (EEP 14f.), meinte er wirtschaftliche wie soziale, kulturelle oder politische Macht. Wenig später kam es jedoch zu einer bemerkenswerten Veränderung, indem Sartre immer mehr das Gewicht auf die Bedeutung der staatlichen Macht im Gegensatz zur gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen legte. Der Staat war für ihn zum Unterdrückungsapparat par excellence geworden. Ideen wie beispielsweise jene der Selbstverwaltung verloren entsprechend an Bedeutung. Die Begründung dahinter dürfte sein, dass, um welch immer gesellschaftliche oder wirtschaftliche Macht es sich handelt, dieser irgendwie entronnen werden kann. Nur der Staat, der Leviathan, um mit Hobbes zu sprechen, verfügt über die nötige Souveränität, das Gewaltmonopol, die erforderlichen Zwangsmittel bis hin zur Freiheitsberaubung, um ein Subjekt zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Dem Vorgesetzten ist leicht durch Kündigung, dem Ehepartner durch Scheidung zu entkommen, dem Staat bestenfalls durch Auswanderung – und selbst diese Möglichkeit ist nicht immer gewährleistet.[14]

Sartre hatte schon immer große Vorbehalte gegenüber dem Staat und dessen Zwangsmitteln, Vorbehalte, die er in seiner marxistischen Zeit nur noch abgeschwächt zum Ausdruck brachte – schließlich waren die Kommunisten und Sozialisten, seine politischen Verbündeten, notorische Bewunderer eines starken Staates. Mit seinen Aussagen im Interview mit Rupert Neudeck, das in der Zeitschrift Merkur in der Dezemberausgabe 1979 unter dem Titel Man muß für sich selbst und für die anderen leben veröffentlicht wurde, kehrte Sartre wieder zu seiner alten radikalen Staatskritik zurück:

[MFSL 1216] Der Mensch, so wie er ist, das heißt als ein freier Mensch, soll in überhaupt [1217] keiner Weise von einer Macht regiert werden, die nicht von ihm kommt. Das war es, worauf man sich geeinigt hatte, als man die Demokratie begründete. Aber die Demokratie, so wie wir sie heute kennen, bedeutet, daß die Macht von einer sehr kleinen Gruppe über die überwältigende Mehrheit der Menschen ausgeübt wird. Diese Demokratie ist also eine Form, die Menschen zu brechen, wie schon das Königtum und die Aristokratie. Den Menschen wird eine bestimmte Lebens- und Existenzweise aufgezwungen, sie müssen so oder so sein, und das unter Strafandrohung. Man ist verpflichtet, das zu tun, was die Institutionen fordern. […] Unter diesen Bedingungen sind [die Institutionen] Unterdrückungsapparate […] Und die Gesellschaft bleibt ein Zwangsverband, solange es diese Institutionen gibt, die von einer Minderheit gegründet und bestimmt werden.[15] […] Das heißt also: nicht in dieser Richtung darf sich eine Gesellschaft entwickeln, die frei sein will und in der jedes Mitglied dieser Gesellschaft frei sein soll. Und dieser Begriff von Freiheit meint nicht die Freiheit der Demokratie, sondern die Freiheit in einem metaphysischen Sinn. Das ist die Realität des Menschen, seine Art zu handeln. [1221; …] Und ich sage, daß man die Institutionen zerstören muß, die gegen die wahre Demokratie sind. Und man muß versuchen, für die zu handeln, die in der gegenwärtigen Situation am meisten bedroht und an den Rand gedrängt sind […] Ein Staat, in dem einige Menschen höhergestellt sind als andere, in der eine Minderheit der Mehrheit sagen kann: Tut dies und tut jenes – ist keine Demokratie. Das ist ein autoritärer Staat, kein totalitärer, aber ein autoritärer. […] man kann innerhalb der Institutionen nicht zu dieser wertvollen, menschlichen Gesellschaft kommen, nur in der Aktion, in der Aktion [1222] eines jeden, einer moralischen Aktion übrigens, denn die Aktivität für den anderen ist immer eine moralische Tat.

Macht und Freiheit sind ein totaler Widerspruch. Will der Mensch in Freiheit leben, so muss der Staat mit seinen Institutionen abgeschafft werden.[16] Dies war die Kernaussage seines Projekts „Macht und Freiheit“, an dem er zwischen (spätestens) 1976 und 1979 arbeitete.



[1] Sartre benutzt zwar den Begriff des An-sichs in und zur Zeit der Critique nur noch selten, doch es gibt ihn noch als Überbegriff, der Praktisch-Inertes wie die physikalisch-chemische Welt gleichermaßen umfasst.


[2] In der Critique ist die Entfremdung Ausdruck der Distanz zwischen dem Subjekt einerseits und dem Praktisch-Inerten und der Hexis andererseits.


[3] Bei Sartre als Nominalisten finden sich grundsätzlich kaum Definitionen.


[4] Mit Max Weber gibt es übrigens noch weitere Gemeinsamkeiten, nämlich die Differenzierung zwischen Erklären (expliquer) und Verstehen (comprendre), die einen wichtigen Bestandteil von Sartres Methodologie bildet und der er in der Zeit der Critique noch als dritte Art des Auffassens jene des Begreifens (intelliger) zufügte. Zu Verstehen und Erklären und die Zusammenhänge mit Karl Jaspers, Max Weber und Raymond Aron siehe Wissenschaft und Philosophie bei Jaspers und Sartre.


[5] Siehe auch das Interview mit Sicard (EEP 14f.) von 1977/78 (veröffentlicht 1979).


[6] Um 1955 arbeitete Sartre an einem Filmszenario über Joseph Le Bon, den Jakobiner und Aktivisten der Französischen Revolution. Schon in den Jahren zuvor hatte er sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt, wie die Manuskripte Mai-juin 1789. Manuscrit sur la naissance de l’Assemblé nationale und Liberté – Égalité. Manuscrit sur la genèse de l’idéologie bourgeoise bezeugen, die 2008 in den Études Sartriennes Nr. 12 veröffentlicht wurden.


[7] Das Gespräch in Lotta Continua enthält auch eine deftige Verurteilung der Nouveaux philosophes, weil diese als ehemalige Maoisten von linksextrem zu rechts gewechselt hatten. André Glucksmann, ehemaliges führendes Mitglied der Gauche Prolétarienne, hatte 1975 das Buch La Cuisinière et le mangeur d'hommes, réflexions sur l'État, le marxisme et les camps de concentration veröffentlicht, in dem er heftig den Totalitarismus des sowjetischen Systems verurteilte. Bernard-Henri Lévy verfasste hierzu eine Eloge und veröffentlicht kurz vor Sartres Interview seinerseits ein Werk mit dem Titel La Barbarie à visage humain. Die Kritik des Totalitarismus von links und damit der kommunistischen Ideologie stand in voller Blüte und ist seitdem aus der französischen Intellektuellenwelt nicht mehr wegzudenken (siehe Stéphane Courtois‘ Le Livre noir du communisme von 1997). In der Kritik an der Sowjetunion waren sich Sartre und die Nouveaux philosophes weitgehend einig. Doch Sartre wollte eine Kritik der Sowjetunion von links. Die These, dass Sartres Entwicklung hin zum Anarchismus seine spezifische Antwort auf die Totalitarismuskritik der Nouveaux philosophes ist, lässt sich zwar nicht durch Fakten belegen, doch die Frage darf sicher gestellt werden.


[8] Mit „Erstarrung des Staates“ war gemeint, dass damals in Westeuropa nach deutschem Vorbild eine autoritäre Rückentwicklung des Staates stattfand. Der Anlass war der Kampf der Staaten und insbesondere Deutschlands unter Bundeskanzler Schmidt gegen die extreme Linke, die zu Einschränkungen der persönlichen Freiheiten und Rechte führten.


[9] Die im April 74 erfolgte Nelkenrevolution stürzte das autoritäre Regime Portugals. Führend an dieser Revolution waren linke bis linksextreme Offiziere beteiligt. Die Nelkenrevolution ist die Urmutter der Farbenrevolutionen der folgenden Jahrzehnte (Orange Revolution in der Ukraine, Zederrevolution im Libanon, Safranrevolution in Myanmar, Jasminrevolution in Tunesien etc.).


[10] Sartres Verständnis von Philosophie entsprechend sind seine Biographien über Baudelaire, Genet und Flaubert (nicht jedoch seine Autobiographie Les Mots) als philosophische und nicht als literaturhistorische Werke einzustufen.


[11] Dem Éclat zwischen Sartre und Camus 1952 war eine mehrjährige Geschichte eines indirekten Dialogs in Form von Veröffentlichungen über das Mittel-Zweck-Problem vorausgegangen: 1943-45 verfasste Camus die Lettres à un ami allemand; 1945 widmete sich Simone de Beauvoir diesem Problem in theoretischer Hinsicht im Aufsatz Idéalisme moral et réalisme politique und bearbeitet es literarisch in Les Bouches inutiles; 1946 folgten Camus’ Ni Victimes, ni bourreaux; 1947/48 beschäftigte sich Sartre intensiv mit dem Mittel-Zweck-Problem in seinen – allerdings erst 35 Jahre später zugänglich gemachten – Cahiers pour une morale; 1948 veröffentlichte Sartre das schon zwei Jahre zuvor geschriebene Drehbuch L’Engrenage, und im selben Jahr wurden Les Mains sales uraufgeführt; 1949 folgte Camus’ Drama Les Justes, 1951 Sartres Stück Le Diable et le bon dieu, und im selben Jahr veröffentlichte Camus L’Homme révolté. Siehe zu diesem Thema meine Beiträge Politik und Moral bei Jean-Paul Sartre und Wahrheit, Anerkennung, Verstehen und mauvaise foi. Reflexionen über Krieg und Frieden.


[12] Sartres Metaethik beruht auf den der Säulen der anthropologischen Wertethik (alle Werte sind von Menschen geschaffen und damit subjektiv), der Dialogethik (alle Werte und Handlungen müssen vor den andern gerechtfertigt werden) und der Situationsethik (die für eine konkrete Handlung gültigen Werte können nicht aus allgemeinen Werten abgeleitet werden, sondern müssen in der konkreten Situation erfunden werden). Siehe Sartre und Beauvoir – eine Ethik fürs 21. Jahrhundert.


[13] Sartres neue politische Philosophie steht damit in Gegensatz zu Habermas‘ deliberativer Demokratie. Da die Entwürfe willkürlich sind, ist eine Einigung im rationalen Diskurs nur im Ausnahmefall möglich. Sartres neue politische Philosophie postuliert vielmehr, dass, weil sich die Menschen im Diskurs nicht einigen können, sie in kleinen Gemeinschaften von ihresgleichen leben sollten.


[14] Sartre interessierte sich generell wenig für die Wirtschaft, dafür umso mehr für den Überbau. Es gibt von ihm keinen nennenswerten Vorstellungen bezüglich der Organisation der Wirtschaft. Dies gilt auch für seine anarchistische Periode. Es ist nicht klar, ob eine Wirtschaft eher den Vorstellungen von Proudhons Mutualismus (Marktwirtschaft mit freien Verträgen zwischen Genossenschaften), jenen von Bakunins Kollektivismus (auf der Basis von „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ mit vergemeinschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln) oder jenen von Kropotkins Kommunismus (auf der Basis von „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ mit vergemeinschaftlichtem Eigentum auch an Konsumgütern) folgen sollte.


[15] Hier erinnert Sartre sehr stark an Proudhon in Idée générale de la révolution au dix-neuvième siècle (S. 341) von 1851.


[16] Sartre radikalisierte hier die liberale Kritik am Staat, wie sie sich schon bei Aristoteles, Tocqueville, J. St. Mill, Schumpeter, Hayek oder der Public Choice Theory (Downs, Niskanen, Olson, Becker) findet, wonach Minderheiten den Staat und dessen Mittel zu ihren eigenen Gunsten benutzen. Sartre steht damit in Gegensatz zu den den Staat befürwortenden Philosophen wie Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant wie auch Marx und in dessen Folge den Sozialisten und Kommunisten, aber auch (fast) allen modernen politischen Philosophen (Liberalen wie Rawls und Dworkin, Kommunitaristen wie Taylor und Walzer oder Vertretern einer deliberativen Demokratie wie Habermas).



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