Sartres Ethik der 1960er Jahre
Alfred Betschart
Die Legende der drei Ethiken
Sartres drei Ethiken – die Ethik der Freiheit aus den 1940er Jahren, die Ethik der Gleichheit aus den 1960er Jahren und die Ethik der Brüderlichkeit von 1980. So eingängig und prägnant diese Antwort auf die Frage nach der Ethik bei Sartre ist, sie verbirgt mehr als sie offenbart. Sie verschweigt nicht nur die nietzscheanische Ethik des frühen Sartre, sie stilisiert auch die Veröffentlichung von L′espoir maintenant (1980) zu einer Ethik hoch, die sie nicht ist. L′espoir maintenant, das Gespräch zwischen Sartre und Benny Lévy, bildet vielmehr den Abschluss von Sartres und Lévys Projekt zu Pouvoir et liberté, das sich mit der Frage beschäftigt, ob Freiheit in von Macht geprägten Beziehungen überhaupt möglich ist. Sartres Antwort darauf in einem Interview mit Lotta Continua im Jahr 1977 war eindeutig: libertà e potere non vanno in coppia – Freiheit und Macht passen nicht zusammen. Für Sartre ist volle Freiheit nur in einer anarchistischen Gesellschaft möglich, in der die Menschen in kleinen Gruppen auf der Grundlage ähnlicher Entwürfe in Geschwisterlichkeit zusammenleben – Geschwisterlichkeit ist ein Grundbegriff seiner ersten und zudem anarchistischen politischen Philosophie der 1970er Jahre, nicht seiner Ethik.
Was die Ethik der Gleichheit aus den 1960er Jahren betrifft, so waren lange nur Beiträge von Elizabeth A. Bowman und Robert V. Stone bekannt, die diese zwischen 1987 und 1992 publizierten. Die entsprechenden Grundlagentexte wurden erst später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Morale et histoire, die Notizen zu einer Reihe von Vorlesungen, die Sartre 1965 an der Cornell University hätte halten sollen und die er wegen der Bombardierung Nordvietnams absagte, wurden 2005 veröffentlicht. Les racines de l′éthique, die die Notizen zu einem Vortrag enthalten, den Sartre 1964 vor einem überwiegend prokommunistischen Auditorium am Gramsci-Institut in Rom hielt, wurde erst 2015 in voller Länge publiziert.[2] Leider fanden diese beiden Texte selbst unter Sartre-Forschern kaum Aufmerksamkeit. Dies erklärt wohl auch, dass immer noch die Idee durch die Bücher geistert, es handle sich dabei um eine normative Ethik der Gleichheit, während die Fragestellung, wie sie auch unten behandelt wird, in der Tat eine metaethische und vor allem eine sozialontologische ist.
Größere Probleme gibt es auch mit Sartres Ethik der Freiheit, den Beiträgen aus den Jahren zwischen 1944 und 1949, insbesondere mit L′existentialisme est un humanisme (1945/46) und Les cahiers pour une morale (1947/48, publ. 1983). Sartre widersetzte sich einer Veröffentlichung von Les cahiers pour une morale zu Lebzeiten, er bezeichnete diese als „mystifiziert“. Und L’existentialisme est un humanisme ist das einzige seiner Werke, das er zumindest in Teilen widerrief. Die Fürsprecher von Sartres Ethik der Freiheit der 1940er Jahre – und das meiste, was in den letzten vierzig Jahren über Sartres Ethik publiziert wurde, basiert hierauf – haben ein offensichtliches Grundlagenproblem.
Von der nietzscheanischen Moral zu L’être et le néant
Wollen wir Sartres Ethik besser verstehen, so müssen wir ihre Entwicklung näher untersuchen. Bekannt ist ein Eintrag aus seinem Kriegstagebuch vom 2. Dez. 1939, dass er als Student an der ENS eine nietzscheanische Moral der Freude predigte. Für die Beurteilung dieser Aussage ist es wichtig zu wissen, dass das vorherrschende Verständnis von Nietzsche in Frankreich nicht das «braune», rassistische Deutschlands war, sondern ein progressives. Nietzsches Übermensch mit seiner „Herrenmoral“ wurde als Vertreter der Arbeiterklasse und des Bürgertums verstanden, der sich gegen die herkömmliche „Sklavenmoral“ des bürgerlichen Staates und der christlichen Religion wandte. Es war ein Verständnis, wie es von Sozialisten wie Lucien Herr, Henri Lichtenberger, Charles Andler und sogar Jean Jaurès vertreten wurde. Von dem damit verbundenen pluralistischen Verständnis von Moral zeugen viele von Sartres literarischen Werken, von La nausée (1938) über verschiedene Novellen aus der Sammlung Le mur (1939) bis zur Romantrilogie Les chemins de la liberté (1945-49), in denen Sartre ohne Bewertung immer wieder moralisches Verhalten beschreibt – vor allem auch sexuelles –, das im Verständnis der Gesellschaft seiner Zeit als deviant galt. Noch in den Cahiers pour une morale wendet sich Sartre gegen eine Ethik der Pflichten, die er ganz im nietzscheanischen Sinne als Sklavenmoral bezeichnet[3].
Philosophisch befasst sich Sartre mit Ethik erstmals in L’être et le néant (1943). Demnach sind die von einem Individuum vertretenen ethischen Werte Ausdruck von dessen subjektivem Entwurf, dessen Urwahl. In diesem ist der Mensch absolut frei. Diese absolute ontologische Freiheit bringt Sartre auch in seinem Theater Les mouches (1943) zum Ausdruck, in dem Orestes gegen Jupiter seine Freiheit – einschließlich seiner Freiheit, Mutter und Stiefvater zu ermorden – behauptet: Ein freier Mensch empfindet für seine Taten keine Gewissensbisse. In der Ankündigung von Les mouches in der in der französischen Besatzungszone herausgegebenen Zeitschrift Verger verurteilt Sartre 1947 dementsprechend die Selbstverleugnung der Deutschen aufgrund der Nazizeit und fordert sie vielmehr auf, in die Zukunft zu blicken[4]. Der Bezug zu Sartres frühe nietzscheanische Moral ist offensichtlich. Walter Kaufmann, der für die Sartre-Rezeption in den USA so bedeutende Philosoph, bezeichnet Orestes 1964 deshalb konsequenterweise als Vertreter einer nietzscheanischen Moral.
Eine erste Überlegung, ob es jenseits dieser absoluten ontologischen Freiheit nicht ein objektives Kriterium für die moralische Richtigkeit einer Handlung gibt, findet sich bereits in L′être et le néant. Angesichts von Krieg, Besatzung und Widerstand war die ethische Freiheit des Individuums damals besonders herausgefordert – wahrscheinlich schreibt Sartre deshalb in La république du silence (1944), dass sie nie so frei waren wie unter der deutschen Besatzung. „Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.“ Schon in L′existentialisme est un humanisme versteht er den Menschen als Gesetzgeber, der nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Menschheit entscheidet und verantwortlich ist. Die Anklänge an Kants Ethik sind in dieser Hinsicht unverkennbar. Aber anders als bei Kant und dessen kategorischem Imperativ gibt es keine ethischen Regeln, die für alle Situationen gelten, sondern jede ethische Entscheidung hängt von der Situation ab: Sartres normative Ethik ist eine Situationsethik. Der KZ-Insasse tut alles für sein Überleben, der Widerstandskämpfer schweigt unter Folter bis zu seinem Tod.
Die normative Ethik der 1940er Jahre
Am Ende von L′être et le néant, wo die Ethik ansonsten vor allem in Form der Forderung nach Authentizität[5] erscheint, verspricht Sartre zwar ein Werk zur Ethik. Er veröffentlicht aber zu Lebzeiten nichts mehr zu diesem Thema, obwohl er dieses Projekt offensichtlich bis an sein Lebensende mit sich herumträgt. Publizistisch sehr aktiv ist hingegen Simone de Beauvoir. Mit ihren Veröffentlichungen von Pyrrhus et Cinéas (1944), Idéalisme moral et réalisme politique (1945), Pour une morale de l′ambiguïté (1946) und Œil pour œil (1946) hat sie zweifellos Anspruch auf den Titel der Begründerin der existentialistischen Ethik. Dass sie hierbei auf Sartres Philosophie in L’être et le néant aufbaut, schadet diesem Anspruch in keiner Weise. Zu den zentralen Punkten von Beauvoirs Werk, von denen sich viele auch bei Sartre wiederfinden, gehören: Ethik als Situationsethik; Einheit von Zwecken und Mitteln; Konflikt zwischen Idealismus und Realismus; Verantwortung für die ganze Menschheit; die Wahl des Bösen als gleichberechtigte Entscheidungsvariante zur Wahl des Guten; Beschreibung verschiedener Formen inauthentischer Moral.
Auch wenn das von Sartre erwartete Werk über Ethik nicht erschien, bedeutet dies nicht, dass er sich nicht mit Ethik beschäftigte. Zwischen 1944 und 1951 schreibt er verschiedene Theaterstücke, und die meisten von ihnen beschäftigten sich mit ethischen Fragen: Huis clos (1944), Morts sans sépulture (1946), Les mains sales (1948) und Le diable et le bon dieu (1951) sowie das Drehbuch L′engrenage (1948) als Vorarbeit zu Les mains sales. Huis clos, bekannt geworden durch Sartres Satz „Die Hölle, das sind die anderen.“, ist nicht das Kernstück einer misanthropischen Philosophie, sondern der zweite Teil von Sartres Ethik. Vertritt Sartre in Les mouches die These, dass das Subjekt in der Wahl seiner Werte frei ist, so betont er in Huis clos, dass der Mensch diese Wahl vor den Andern – den konkreten, nicht den abstrakt-universellen wie bei Kant – zu ver-antworten hat: ver-antworten im Sinne von eine rechtfertigende Antwort auf durch den Andern gestellte Fragen geben. Was die Welt zur „Hölle“ macht, ist nicht zuletzt, dass das Subjekt nicht frei ist, seine Richter zu wählen.
Die besondere Bedeutung von L′engrenage, Les mains sales und Le diable et le bon dieu wiederum liegt in dem darin von Sartre aufgegriffenen Thema der Abwägung von Mitteln und Zwecken, ein Thema, das Beauvoir zuvor schon in Les bouches inutiles (1945) bearbeitet hatte und das Sartre auch kurz in seinen beiden Essays Qu’est-ce que la littérature? (1947) und La responsabilité de l’écrivain (1947) streifte. Es war ein Gegenstand, an dem sich auch Camus abarbeitete – in Lettres à un ami allemand (1943–45), Ni victimes, ni bourreaux (1946), Les justes (1949) und L’homme révolté (1951) – und der 1952 im Streit zwischen Sartre und Camus über das Verhältnis von Geschichte und Ethik zu deren Bruch führte.
In den Jahren 1947/48 arbeitete Sartre intensiv an der Abfassung des versprochenen Werks zur Ethik. Letztlich blieb es jedoch bei Notizen, die als Cahiers pour une morale vollständig erst postum 1983 veröffentlicht wurden. Es sind Notizen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Ethik befassen. Neben neuen Themen greift Sartre auch bereits bekannte auf: das Verhältnis von Zwecken und Mitteln, wobei er vor allem die Kommunisten kritisiert, die einer reinen Zweckethik folgen und den Einsatz beliebiger Mittel zum Erzielen eines Zweckes – im konkreten Fall einer proletarischen Revolution – rechtfertigen; Ethik als Situationsethik; der Mensch als Quelle allen Guten und Schlechten. Neu sind seine Überlegungen zur Struktur von Appellen und vor allem seine Forderung nach einer universellen Konversion der Menschen, um die Welt zu retten und die Freiheit zur Grundlage der Welt machen. Es dürften vor allem diese Gedanken zur Konversion gewesen sein, die Sartre in den 1970er Jahren von der vollkommen mystifizierten Moral der Cahiers sprechen ließen.
Hin zur Ethik der 1960er Jahre
Laut Beauvoir stellt Sartre 1949 die Arbeit an der Moral der 1940er Jahre ein. Das Ausmaß des Bruchs lässt sich an zwei darauffolgenden Werken von Beauvoir und Sartre ablesen: Erstere veröffentlichte 1951 ein Werk über Sade, Faut-il brûler Sade?, und letzterer 1952 ein Werk über Genet, Saint Genet. Sade wie Genet wählten statt des Guten radikal das Böse. Beide sind Antitypen der Moral von Beauvoir und Sartre in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Der Bruch mit den in den Jahren zwischen 1944 und 1949 vertretenen Gedanken ist überdeutlich. Es ist eine Rückkehr zur antihumanistischen[6], nietzscheanischen, pluralistischen Moral von vor 1940.
Die folgenden zehn Jahre verbrachte Sartre vor allem damit, seine philosophische Position gegenüber dem Marxismus als der Philosophie nicht nur der Kommunisten, sondern auch der Sozialisten und Sozialdemokraten zu definieren. Dieser war damals angesichts des Niedergangs von Kantianismus und Hegelianismus und der Irrrelevanz der analytischen Philosophie in Frankreich die gesellschaftlich wie politisch einflussreichste Philosophie. In Questions de méthode (1957) kritisierte er die marxistische Methodik, die nur eine des Erklärens sei; nur die existentialistische Philosophie erlaube es, den Menschen auch zu verstehen. In der Critique de la raison dialectique (1960), die sich vor allem mit der Kritik am Sowjetkommunismus und dessen Ideologie befasste, stellte er sich Fragen wie: Was ist – im Gegensatz zur Oktoberrevolution – eine echte Revolution und wer ist deren Träger? Wie kam es zum stalinistischen Terror? Wie erklärt sich die Entartung des Sowjetkommunismus in eine Bürokratie? Die von ihm hierauf gegebenen Antworten – Gruppe in Fusion, Terror-Geschwisterlichkeit, Entwicklung der Gruppe hin zur Institution – erfolgen im Rahmen einer Sozialontologie der Kollektive, die von der Serie bis zur Institution reicht.
Auch wenn sich Sartre um 1960 nicht mehr näher mit Ethik befasste, sein Interesse daran war nicht verschwunden. Mitte der 1960er Jahre nimmt er sich wieder der Ethik an. Das schriftliche Ergebnis sind seine Notizen, die postum unter dem Titel Les racines de l′éthique und Morale et histoire publiziert wurden. Befasste sich Sartre in den 1940er Jahren mit normativer Ethik, so stehen nun metaethische, sozialontologische Aspekte im Vordergrund. Darin spiegelt sich die Verlagerung vom Für-sich, dem Bewusstsein und der Psychologie in L′être et le néant zum An-sich und der Sozialontologie in der Critique wider, eine Verlagerung nicht im Sinne einer Ablösung, sondern einer zusätzlichen Perspektive. Dieser Wechsel erfolgt ganz im Geist der in Questions de méthode entwickelten regressiv-progressiven Methode. Im Zentrum von Sartres Ethik stehen nun die beiden folgenden Fragen: Was macht ethisches Verhalten aus? Und: Was ist die Rolle von Ethik in der Gesellschaft?
Reine Ethik und das Normative
Charakteristisch für Sartres Ethik der 1960er ist der Gegensatz zwischen reiner Ethik und Geschichte mit realer Ethik/Ethos als Versuch einer Überbrückung dieses Gegensatzes. Die Frage nach der Spezifität des ethischen Verhaltens ist eine Frage der reinen Ethik. Nach Sartre ist der Gegenstand der Ethik das unbedingte Mögliche im Gegensatz zur Geschichte, die der Bereich des Bedingten ist. Sartre zitiert in diesem Zusammenhang häufig den Satz „Du musst, also kannst du“, eine verkürzte Version eines Satzes aus Kants Kritik der praktischen Vernunft. Entscheidend ist dabei, dass das Sollen bedingungslos ist, unabhängig vom Sein. Schon in seiner Philosophie der vierziger Jahre stellt Sartre fest, dass der unbedingte Charakter des Normativen seinen Ursprung im Bewusstsein des Subjekts hat, genauer gesagt, im Entwurf, der Urwahl. Diese stellt als unbedingter Akt einen acte gratuit, eine willkürliche Tat dar.
Damit verbunden ist die These der absoluten ontologischen Freiheit. Absolute ontologische Freiheit bedeutet nicht, dass jede menschliche Handlung absolut willkürlich ist. Außer es erfolgt ein Bruch oder eine Änderung der bisherigen Urwahl, ist die Handlung wesentlich vom Entwurf des Individuums bestimmt. Dementsprechend lehnt Sartre in L′être et le néant den Begriff der Willensfreiheit ab, zu nahe steht ihm dieser Begriff zur Auffassung, dass jede Handlung ein acte gratuit sei. Für Sartre sind die Handlungen des Menschen durchaus determiniert, aber von innen heraus, d.h. durch seinen Entwurf. Was Sartre radikal ablehnt, ist die Determination von außen. Dementsprechend wendet sich Sartre gegen die zu seiner Zeit vorherrschenden marxistischen, positivistischen und strukturalistischen Auffassungen, wonach das Normative durch äußere Kräfte, durch einen Überbau, Bedürfnisse oder die Geschichte, die die Welt und die Zukunft bestimmen, bedingt ist. Für Sartre ist die Zukunft vielmehr unbestimmt, denn das Normative ist bedingungslos.
Der absoluten ontologischen Freiheit steht die sehr begrenzte praktische Freiheit gegenüber. Schon in L′existentialisme est un humanisme und Liberté cartésienne (1946) hält Sartre fest, dass frei sein nicht heißt, tun können, was man will, sondern wollen, was man kann. Wer die Faktizität, das Faktum, dass seine praktische Freiheit begrenzt ist, leugnet, leidet genauso an mauvaise foi wie jener, der seine ontologische Freiheit leugnet. Nicht nur in L’être et le néant, sondern auch in der Critique besitzt der Sklave die absolute ontologische Freiheit. Wohl jeder Sklave wird sich in seinem Leben mit dem Gedanken der Flucht beschäftigen – und fast alle entscheiden sich dagegen, nicht weil ihnen die absolute ontologische Freiheit fehlt, sondern weil ihre praktische Freiheit so beschränkt ist.[7]
Die Arten von Normativen
Auch wenn Normative die Beziehungen zu Ungeborenen und Toten, aber auch zu Tieren und Dingen regeln können—Beispiele hierfür sind Normen bezüglich Tierfleisch, Verschwendung und Klima—, Hauptgegenstand der Ethik sind die Normen, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln. Normen sind wesentlich soziale Normen. Schon in seinem Kriegstagebuch schrieb Sartre, dass es für die Moral irrelevant ist, ob Gott existiere, Moral sei eine Angelegenheit unter Menschen. Rechtfertigung des Verhaltens erfolgt immer gegenüber anderen Menschen.
Sartre unterscheidet drei Arten von sozialen Normen: 1. die Institutionen, d.h. die mit ihnen typischerweise verbundenen Imperative, 2. die Sitten und 3. das Gewohnheitsrecht, das aus der Verbindung von Sitten und Institutionen hervorgeht. Zu den wichtigen Formen von Institutionen gehören der Staat, einschließlich der Gerichte, des Militärs und der Polizei, der Schulen, der Unternehmen und nicht zuletzt der religiösen Institutionen. Alle Institutionen stellen ethische Imperative auf, d. h. unbedingte Gebote und Verbote in Form von „du sollst“ und „du sollst nicht“. Je nach Art der Institution können diese Imperative die Form von Gesetzen, religiösen Geboten oder anderen Vorschriften annehmen. Meistens, wenn auch nicht immer, sind diese Imperative mit der Androhung von Sanktionen verbunden. Obwohl sanktionierte Imperative in erster Linie mit Institutionen verbunden sind, sind Imperative nicht auf Institutionen beschränkt. Sartre unterscheidet zwischen verschiedenen Typen von sozialen Kollektiven: Serie, Milieu, Gruppe-in-Fusion, die einfache Gruppe, die verschworene Gruppe, die organisierte Gruppe und die institutionalisierte Gruppe/Institution. Bereits mit dem Auftreten von Macht und Autorität, erstmals bei der verschworenen Gruppe, beginnen ethische Imperative und Sanktionen zu existieren.
Im Gegensatz zu den Imperativen sind Sitten in der Regel nicht oder nur diffus von Sanktionsdrohungen begleitet. Verstöße gegen die Sitten führen in erster Linie nur zu einem gesellschaftlichen Skandal, nicht aber zu einer Sanktion. Das Recht als Institution basiert in der Regel auf den Sitten, ist aber stärker fokussiert: Lügen verstoßen in der Regel gegen die Sitten; nur in wenigen Fällen, wie Meineid oder Verleumdung, ist Lügen rechtlich relevant. Bei den Sitten unterscheidet Sartre zwischen solchen, die Werte, Güter, vorbildliche Persönlichkeiten und Ideale zum Gegenstand haben. Beispiele für Werte sind Aufrichtigkeit, Toleranz und Freiheit. Werte schreiben nicht vor, was man tun oder nicht tun darf. Sie fordern die Menschen vielmehr dazu auf, zu erfinden, wie sie sie umsetzen wollen: Es gibt tausend Möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen. Ethische Güter unterscheiden sich von Werten dadurch, dass sie Mittel sind, um Werte zu erreichen. Beispiele für ethische Güter sind Gesundheit und Menschenwürde. Die Unterscheidung zwischen Werten und Gütern ist allerdings nicht immer eindeutig, da ein und dasselbe Objekt einmal ein Wert und ein anderes Mal ein Gut sein kann. Deutlich von diesen beiden Kategorien zu unterscheiden ist jene der vorbildlichen Persönlichkeit, ein Bereich, in dem vor allem die Presse eine wichtige Rolle spielt, indem sie häufig über vorbildliche Personen, deren Leben und Taten berichtet. Ideale unterscheiden sich von vorbildlichen Persönlichkeiten wiederum dadurch, dass sie deren verallgemeinerten, abstrakten Entsprechungen sind und sich nicht wie bei vorbildlichen Persönlichkeiten auf eine singuläre, konkrete Person beziehen.
Ethik, Praxis, Praktisch-Inertes und Hexis
Was die Trennung von Sein und Sollen betrifft, stimmt Sartre weitgehend mit Hume überein. Das Sein, das An-sich, steht in L’être et le néant dem Für-sich, dem Bewusstsein gegenüber, in dem das Sollen seinen Ursprung hat. Dieses Bewusstsein als zentraler Begriff wird in der Critique de la raison dialectique durch Praxis ersetzt, der jene Arten des sozialen Handelns umfasst, die Max Weber als wertrational und instrumentell bezeichnete. Dies ist vor dem Hintergrund von Jaspers′ Unterscheidung zwischen dem Erklären kausaler Prozesse und dem Verstehen menschlichen Handelns zu deuten: Praxis umfasst jene zielorientierten Handlungen des Menschen, die den individuellen Entwurf als seine Grundlage haben und nur verstanden, aber nicht kausal erklärt werden können. Von praktischen Handlungen sind solche der Hexis zu unterscheiden, aber auch rein physischen Reaktionen (via vegetatives Nervensystem).
So wie in L′être et le néant die verschiedenen Aktivitäten des Bewusstseins eine ethische Dimension – aber auch eine ästhetische oder emotionale – enthalten können, so auch die Praxis. Dementsprechend kritisiert Sartre die Marxisten, die Ethik lediglich als Phänomen des Überbaus betrachten. Vielmehr ist für ihn die Ethik die Grundlage aller Praxis.
In der Praxis ist das Individuum Subjekt und Objekt zugleich. Der Einzelne muss als handelndes Subjekt in jeder Situation und bei jeder Handlung entscheiden, welche Werte er anwendet. Auch wenn die Gesellschaft ihm eine breite Palette von Werten zur Auswahl stellt, ist die ethische Entscheidung immer eine innovative. Auch wenn das Individuum in der Regel keinen neuen Wert erfindet, sondern einen bestehenden Wert anwendet, muss es sich für einen der vielen bestehenden Wert entscheiden. Sartres Ethik ist auch unter diesem Blickwinkel immer eine situative Ethik. Diese Situationalität bezieht sich auch auf den Entscheid bezüglich Urwahl und der damit verbundenen Werte: Dieser Entscheid erfolgt nicht ein für alle Male, sondern ist mit jeder Handlung zu bestätigen oder zu ändern.
Aus sozialontologischer Sicht ist es von Bedeutung, dass das Subjekt seine ethischen Entscheidungen immer vor seinen konkreten Anderen, den Nachbarn, zu rechtfertigen hat. Anders als in der Ethik Kants und der von ihm beeinflussten Ethik ist der Andere nicht ein abstrakter, universeller Anderer, sondern ein konkreter. Verantwortung für seine ethischen Entscheidungen übernehmen zu müssen, bedeutet für Sartre ganz wörtlich, dass der Mensch auf die Fragen der anderen antworten muss, wie sein Drama Huis clos zeigt. Sartres Ethik ist in diesem Sinne auch eine Diskursethik.
Das Individuum ist jedoch nicht nur ein Subjekt, sondern auch ein Objekt der menschlichen Praxis. Nach Sartre ist der Mensch das, was er daraus macht, wozu er gemacht wurde. Der Personalisierung des Ichs – ein Prozess, der sich durch das ganze Leben zieht, aber in der Latenzzeit und in der Adoleszenz besonders ausgeprägt ist – geht seine soziale Konstitution voraus, eine Sozialisierung, die sich besonders intensiv in der Familie und in der Schule vollzieht.
Zwei Begriffe, die mit der Praxis zusammenhängen, sind das Praktisch-Inerte und Hexis. Das Praktisch-Inerte ist Sartres Begriff für die Resultate der Praxis. Sartre bringt damit zum einen zum Ausdruck, dass das Praktisch-Inerte das Ergebnis menschlichen Handelns, der Praxis, ist, und zum anderen, dass es inert, träge ist, d.h. die Tendenz hat, auch dann weiter zu bestehen und Gültigkeit zu beanspruchen, wenn sich die Bedingungen seiner Entstehung geändert haben. Dies gilt insbesondere für Normen, seien es staatliche Gesetze, religiöse Gebote oder andere gesellschaftliche Normen. Normen sind nicht gegeben, sie sind geschaffen. Da Praxis immer soziales Handeln ist – und zwar in der Regel durch Handeln in Gruppen –, drücken Normen immer die Interessen der Gruppen aus, die die Normen setzen. In einer patriarchalischen, weißen, heteronormativen Gesellschaft drücken die vorherrschenden Normen vor allem die Interessen weißer, heterosexueller Männer aus.
Aufgrund ihrer Trägheit – der Tatsache, dass das Praktisch-Inerte lange Zeit weiterbesteht, selbst wenn es mit der aktuellen Situation in Konflikt steht – ist das Praktisch-Inerte oft mit Entfremdung verbunden. Für Sartre steht die praktisch-inerte Moral für die Entführung der Zukunft zugunsten der Wiederholung der Vergangenheit. Ähnlich wie Emmanuel Levinas tendiert Sartre dazu, den Begriff der allgemeinen Ethik von den konkreten Moralen zu trennen, so dass Ausdrücke wie praktisch-inert und entfremdet meist im Zusammenhang mit dem Wort „Moral“ benutzt werden. Für Sartre widerspricht die praktisch-inerte Moral der Quelle jeglicher Ethik. Diese wird von Sartre in den Bedürfnissen (besoin) gesehen. Die Bedürfnisse bilden die die Wurzel der menschlichen Autonomie und stellen die Grundlage des Verlangens (désir) dar. Auch wenn Bedürfnisse letztlich kulturell vermittelt sind – der Mensch entreißt sich der Natur durch die Kultur, indem der Mensch zum ethischen Tier wird –, erkennt Sartre den Ursprung der menschlichen Bedürfnisse in der Animalität des Menschen. Es ist eine Animalität, deren Berechtigung letztlich nicht in Frage gestellt werden kann. Entfremdung und Verdinglichung sind für Sartre nicht das Ergebnis spezifischer Produktionsverhältnisse, wie bei Marx, sondern das Ergebnis eines Konflikts zwischen den Bedürfnissen des Individuums und den vorherrschenden Normativen als Teil des Praktisch-Inerten.
Der zweite Begriff, der mit Praxis zusammenhängt, ist Hexis, der jenes Handeln umfasst, das seine ursprüngliche Bestimmung verloren hat. Es ist die Art von Handlung, die Weber als traditional bezeichnete. Wenn der Bourgeois des 20. Jahrhunderts von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und die Christen von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ sprechen, haben diese Ausdrücke ihre ursprüngliche radikale Bedeutung völlig verloren. So zu sprechen, ist nicht mehr Praxis, sondern nur noch Hexis.
Ethos und reale Ethik
Sartre interessierte sich nicht nur für die ideale Ethik, für das, was die Spezifizität des ethischen Verhaltens ausmacht, sondern auch für die reale Ethik, Ethik in der Geschichte. Sartre nennt diese reale Ethik Ethos. Ethik als Ethos hat die Aufgabe, den Fallen der Geschichte zu entkommen, die den Handelnden zur Verwirklichung seines Schicksals zwingen. Die reale Ethik ist immer mit dem Widerstand der Welt konfrontiert. Schon in Saint Genet schrieb Sartre: „Das moralische ‚Problem’ entsteht daraus, dass die Moral für uns gleichzeitig unvermeidbar und unmöglich ist. Das Handeln muss sich in diesem Klima unüberschreitbarer Unmöglichkeit seine ethischen Normen geben.“ Das Hauptproblem jeglicher Ethik ist gemäß Sartre der Gegensatz zwischen den unbedingten Normen, die ein bestimmtes Verhalten absolut postulieren, und der bedingten Geschichte, der bedingten Umwelt, in der der Mensch handeln muss. Dieser Gegensatz führt dazu, dass der Mensch letztlich nie völlig moralisch handeln kann, sondern immer Kompromisse verschiedenster Art eingehen muss. Sartres Rede in den 60er Jahren von der Ethik als dem unbedingten Möglichen im Gegensatz zur Geschichte, dem Bereich des Bedingten, ist nur die abstraktere Form des Zweck-Mittel-Konflikts, dem Sartre zwischen 1948 und 1951 drei literarische Werke widmete.
Wenn von Unmöglichkeit gesprochen wird, ist nicht so sehr von Bedeutung, dass der Mensch bestimmte Dinge grundsätzlich nicht tun kann. Selbst wenn Normen den Charakter von „Du musst, also kannst du“ haben, wird keine Norm verlangen, dass der Mensch ohne technische Hilfsmittel fliegt. Von größerer ethischer Bedeutung als die grundsätzliche Unmöglichkeit, etwas zu tun, sind drei Faktoren, die Sartre bereits in der Critique erwähnt und die er schon Le diable et le bon dieu (1951) thematisierte: Knappheit, Gegenständlichkeit, Erfordernisse. Hierzu drei Beispiele aus Sartres Tätigkeit als politischer Intellektueller: für Knappheit: Sartre mangelte es immer an geeigneten politischen Partnern; für Gegenfinalität: Sartre wollte in Kuba eine mit Zustimmung des Volkes erfolgte Revolution unterstützen, half damit aber letztlich nur, eine Diktatur zu etablieren; für Sachzwänge: wollte er sich wirksam für seine fortschrittlichen Ideen einsetzen, so kamen nur die Kommunisten als Partner in Frage – wenigstens zu bestimmten Zeiten.[8]Die Umsetzung einer idealen Ethik wird auch durch Konflikte zwischen Normen innerhalb einer Moral in Frage gestellt. Ist es zulässig, dass ein Krebspatient seinen Partner anlügt, um ihn vor psychischem Druck zu schützen? Während Kant dem ein grundsätzliches Nein entgegensetzt, vertritt Sartre die These, dass der Entscheid situationsabhängig ist und im Diskurs zu rechtfertigen ist. Ein weiteres wichtiges und kritisches Moment ist die Tatsache, dass Menschen verschiedenen Gruppen angehören: einer Kernfamilie, einer Verwandtschaft, einer Arbeitsgruppe, einer Kirche, Freizeitgruppen usw. Jede dieser Gruppen hat ihre eigenen Normen, Normen, die nicht immer miteinander vereinbar sind. Wer verhält sich in der Anwesenheit seiner Eltern nicht anders als in seiner Familie oder an der Arbeit oder in seiner Freizeit? Außerdem können sich Normen widersprechen, weil sie aus unterschiedlichen Zeiten stammen. Überall lauern Widersprüche zwischen Normen auf uns – Widersprüche, die sich nach Sartre nur in Abhängigkeit von der Situation lösen lassen.
Eine mögliche Lösung für solche Konflikte liegt in kasuistischer Ethik. Töten ist grundsätzlich verboten, doch im Falle der Selbstverteidigung erlaubt. Durch die Anwendung der Regeln der Kasuistik wird jedoch das Unbedingte der Ethik in etwas Bedingtes verwandelt. Nach Sartre ist eine kasuistische Ethik immer gefährdet, zu einer inauthentischen Moral zu werden, weil sie moralische Widersprüche nicht auflöst, sondern die widersprüchlichen Teile nur durch Kasuistik trennt.
Kasuistik ist nicht der einzige Ausweg aus dem Konflikt zwischen unbedingter Ethik und bedingter Geschichte. Ein anderer möglicher Ansatz ist die Akzeptanz von Schuld, eine andere Form von inauthentischer Moral. Sartre erwähnt die Resultate einer Umfrage, die heute wahrscheinlich die gleichen Ergebnisse liefern würde wie damals: 90% der Befragten gaben zu, zumindest gelegentlich zu lügen, und gleichzeitig verurteilten 95% Lügen als unmoralisch. Diese Haltung bedeutet den Verzicht auf das Normative als das mögliche Unbedingte zugunsten einer Praxis als bedingtes Mögliches. Angesichts der Häufigkeit von Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Normativen erstaunt es nicht, dass inauthentische Formen von Moral gemäß Sartre sehr häufig anzutreffen sind.
In der Geschichte – und dazu gehört auch die Politik – neigen die Menschen in der Regel dazu, den Konflikt zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten zu lösen, indem sie eine Lösung finden, die den Anforderungen beider gerecht wird, z.B. durch Kasuistik oder Schuldanerkennung, wie wir sahen. Es gibt jedoch Situationen – Sartre nennt sie „grandes circonstances“ –, in denen ethischer Radikalismus vorherrscht. In diesen Fällen sind Abwägungen zwischen den verschiedenen Zielen sowie Diskussionen zwischen den beteiligten Parteien unmöglich. Ethische Radikalisten sind nicht bereit, zulasten ihrer ethischen Werte irgendwelche Konzessionen einzugehen. Jüngste Beispiele für solche „grandes circonstances“ sind der Krieg in der Ukraine und die Maßnahmen gegen das Coronavirus. Solche „grandes circonstances“ stehen im Gegensatz zu den „petites circonstances“, die sonst den privaten, öffentlichen und politischen Alltag beherrschen und bei denen wir dauernd nach Kompromissen suchen.
Die Rolle von Ethik in der Gesellschaft
Sartre interessiert sich nicht nur für die ideale Ethik und die reale Ethik in Form des Ethos, sondern allgemein für die Rolle von Ethik in der Gesellschaft. Im Gegensatz zu den Marxisten, Positivisten und Strukturalisten behauptet Sartre die unabhängige Bedeutung der Ethik, insbesondere auch in der politischen Diskussion. Ethische Werte bilden einen wichtigen Teil von Weltanschauungen und politischen Ideologien. In seinen Notizen für die Vorlesungen an der Cornell University findet sich ein langes Kapitel über J. F. Kennedys Wahlkampf in West Virginia, in dem Kennedy erfolgreich ein ethisches Argument gegen seinen Gegner Humphrey einsetzt. Sartre verweist auch gerne auf den Contergan-Skandal, bei dem es um schwere Missbildungen bei Neugeborenen ging, die durch die Einnahme des Beruhigungsmittels Contergan verursacht wurden. Mit dieser Auffassung von der Bedeutung der Ethik hat Sartre ebenso wie mit seinem Eintreten für die Rechte von Juden, People of color, Frauen und queeren Menschen ein wichtiges Element progressiver Politik des 21. Jahrhunderts vorweggenommen.
Entsprechend Sartres agonistischem Bild von Gesellschaft gibt es in jeder Gesellschaft einerseits herrschende Gruppen, die Elite, und andererseits Revolutionäre, die beide um die Mehrheit der Bevölkerung kämpfen. Beide, die herrschenden Gruppen wie die Revolutionäre verfügen über jeweils eigene Ethiken. Angesichts des ethischen Paradoxes, dass wir nur die Norm genau kennen, nicht aber die Zukunft und die Folgen der Verwirklichung einer Norm im Einzelnen, neigen die herrschenden Gruppen zu einem ethischen Pessimismus und tendieren sie zu Kasuistik und zu Realpolitik, was ihnen häufig den Anschein gibt, korrumpiert und unmoralisch zu sein. Dies zeigte Sartre schon in La putain respectueuse, L′engrenage und Les mains sales auf. Im Kampf gegen neue ethische Forderungen setzen die herrschenden Gruppen dabei regelmäßig auf die Zwangsgewalt des Staates. Erst wenn Leugnung und Kasuistik nicht mehr helfen, beugen sie sich dem Druck des historisch gegebenen Pluralismus. Ein Beispiel dafür ist der Fall der Homo-Ehe: Was zunächst lange geleugnet, dann im Rahmen der kasuistischen Moral als Sonderfall einer eingetragenen Partnerschaft behandelt wurde, wurde schließlich als ein Recht für Homosexuelle gewährt, das Heterosexuelle seit jeher hatten.
Im Gegensatz zu den herrschenden Gruppen tendieren Revolutionäre zum ethischen Optimismus, zum Glauben an die Möglichkeit der Realisation der Umsetzung ihrer revolutionären Ziele, zu einem ethischen Radikalismus. Ethische Forderungen sind für sie ein wichtiges Mittel in ihrem Kampf für eine bessere Gesellschaft. Sie weigern sich, Zwecke und Mittel gegeneinander abzuwägen und neigen – wenigstens in Worten – oft zu Gewalt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Geschichte der Revolution der 68er Generation. Der Kampf der Revolutionäre für eine neue Ethik kann sowohl in Form neuer ethischer Forderungen als auch durch Negation der existierenden Moral erfolgen. Ein Beispiel für Letzteres ist der Kampf gegen die rigide Sexualmoral von vor 1968, wie die Diskussion der vergangenen Jahre um Me-too und Pädophilie zeigt. Für Sartre sind aus historischer Sicht beide Formen des ethischen Kampfes von gleicher Bedeutung. Wenn der Mensch das Böse als das Gegenteil des von den herrschenden Normen auferlegten Guten wählt, so ist dies für Sartre wie für Beauvoir und anders als für die meisten Philosophen kein Irrtum der Vernunft, sondern die Folge der freien Entscheidung des Menschen: Der Mensch ist frei, auch das Böse zu wählen, wie die Beispiele von Genet und Sade zeigen.
Historisch gesehen standen sich entsprechend jeweils die eine Realpolitik pflegenden herrschenden Gruppen und die einen ethischen Radikalismus pflegenden revolutionären Gruppen gegenüber. In der heutigen Gesellschaft kann allerdings keine der Gruppen für sich eine Hegemonie im Sinne Gramscis reklamieren. Unsere Gesellschaft weist entsprechend eine bipolare Struktur auf. Die historisch neue, auf ausgewählten Idealen der 68er-Revolution basierende progressive Mehrheit konnte noch keine absolute Hegemonie erringen, sieht sich jedoch schon von neuen rechtspopulistischen Gruppen herausgefordert. Da sowohl die Progressiven als auch die Rechtspopulisten einen ethischen Radikalismus vertreten, fehlt es an Raum für Kompromisse.[9]
Sartres Ethik der 1960er und das Jahr 2022
Sartre beschäftigte sich in den 1960er Jahren intensiv mit der Spezifizität von Normen und der Stellung von Ethik in der Gesellschaft. Dabei achtete er darauf, weder in einen Soziologismus zu verfallen, der Normen nur als gesellschaftlich gegeben ansieht, noch in einer Bewusstseinsphilosophie zu verharren, die Normen nur aus der Perspektive des Individuums betrachtet. Dies gelang ihm, indem er das Allgemeine mit dem Bedingten, das Individuelle mit dem Sozialen und der Geschichte verband. Damit schuf er in den 1960er Jahren eine Ethik, die auch noch im Jahr 2022 aktuell ist. Am bedeutendsten hierbei ist wohl Sartres Analyse des Konflikts zwischen dem Unbedingten der Ethik und dem Bedingten der Geschichte. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Gegensatz zwischen ethischem Radikalismus und der Überwindung des Konflikts durch Kompromisse zu. Es ist eine These, die viel zum Verständnis der bipolaren Struktur unserer Gesellschaft beitragen kann, einem Problem, für das es bisher noch keine befriedigende Erklärung gibt.
14.9.2022
[1] Dies ist eine erweiterte Fassung eines Vortrags gehalten im Aug. 22 an der Konferenz der International Social Ontology Society in Wien unter dem Titel „The Nature of Social Norms in Jean-Paul Sartre‘s Ethics of the 1960s“.
[2] Auszugsweise schon als Determinazione e libertà (dt.: Determination und Freiheit) 1964/66 (1968) voröffentlicht, wobei allerdings der ethische Gehalt eher minimalisiert wurde.
[3] Sartre schreibt von maître und esclave, hegelianisch übersetzt von Herr und Knecht, nietzscheanisch übersetzt von Herr und Sklave. Anders als in der publizierten Übersetzung der Cahiers pour une morale bin ich der Ansicht, dass hier wie in der englischen Übersetzung die nietzscheanische und nicht die hegelianische Version angebracht ist.
[4] Lange bildet dieser kurze Text die Einleitung zur deutschen Ausgabe von Die Fliegen. Mit der Neuübersetzung von 1991 verschwand dieser Text jedoch. Er war offensichtlich nicht mehr zeitgerecht.
[5] Um diesbezüglichen Missverständnissen vorzubeugen, sei hier darauf verwiesen, dass der Mensch nach Sartres und Beauvoirs Auffassung seine Identität selbst wählt („Die Existenz geht der Essenz voraus“) und diese nicht durch biologische, geschichtliche oder andere Faktoren bestimmt wird. Der in eine orthodoxe jüdische Familie geborene Jude wird zwar seine jüdische Vergangenheit nicht los, doch er ist frei, sich als Nicht-Jude zu wählen. Schon in L’être et le néant (hier in Bezug auf den Homosexuellen) und dann wieder in Réflexions sur la question juive (1946) zeigt Sartre Verständnis gegenüber jenen, die Zwangsouting ablehnen.
[6] Der Ausdruck „Humanismus“ kann zweifach verstanden werden. Einmal ist dies als Auffassung, dass das Individuum Mensch im Zentrum einer Philosophie steht. Insofern bleibt der Existentialismus eine humanistische Philosophie auch nach 1949. Humanismus kann aber auch in einem ethischen, stark von Kant beeinflussten Sinne aufgefasst werden. In deren Zentrum steht die Würde des Menschen, dessen Anerkennung und die Forderung, dass der Mensch in moralischer Hinsicht nur Zweck, nie Mittel sein darf, wobei Mensch nicht in einem pluralistischen, sondern in einem idealisierten, universellen Sinne verstanden wird. Von dieser Art von Humanismus verabschiedet sich Sartre 1949 definitiv.
[7] In Itinerary of a thought (1969) wundert sich Sartre ein paar Jahre später, dass er jemals eine so extreme These der absoluten ontologischen Freiheit vertreten konnte. Dabei dürfte es sich um einen der bei Sartre immer wieder anzutreffenden Akte von mauvaise foi handeln: Er hatte die unschöne Tendenz, in Texten seine Antworten den Erwartungen seiner Leser und insbesondere seiner Interviewer anzupassen. Siehe hierzu meinen Beitrag Die Dekonstruktion Sartres.
[8] Dass die Grenzen der praktischen Freiheit gerade in der Critique, einem Werk, dem die Auseinandersetzung mit dem Sowjetkommunismus Gevatter steht, eine besondere Rolle spielen, erstaunt nicht. Schon in Les mains sales zeigt Sartre, dass die praktische Freiheit in der Politik so sehr eingeschränkt ist, dass, wer sich in der Politik engagiert, unvermeidlich schmutzige Hände bekommt.
[9] Sartre unterstützte oft Vertreter des ethischen Radikalismus, wie die Gauche Prolétarienne in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Theoretisch ist diese Position innerhalb der Sartre’schen Philosophie jedoch nur schwer zu halten. Da die Vertreter eines ethischen Radikalismus in der Regel die Faktizität des An-sich vernachlässigen, setzen sie sich dem Vorwurf der mauvaise foi aus. Zumindest in den 1950er Jahren stand eher Camus als Sartre für ethischen Radikalismus, da Sartre und Beauvoir gegen Camus die Auffassung vertraten, dass Zweck und Mittel eine Einheit bilden, der ethische Radikalismus jedoch in der Regel die Zwecke als absolut setzt.