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Alfred Betschart 

  

Geschwisterlichkeit, eine neue Gesellschaftsform

 

Stand in Pouvoir et liberté das Verhältnis des Subjekts zur Macht im Fokus von Sartres politischer Philosophie, so in der dritten Phase die Geschwisterlichkeit. Eine Parallele zur Entwicklung zwischen L’Être et le néant und der Critique ist offensichtlich. Bildeten in der Critique I die verschiedenen Formen der Kollektivität von Subjekten von der Serie bis zur vereideten Gruppe das Zentrum von Sartres philosophischer Anthropologie, so in der Phase der Geschwisterlichkeit das Leben des Menschen in der Gruppe als Teil seiner politischen Philosophie.

Für Sartre war der Mensch schon immer wesentlich ein soziales Geschöpf.[1] Bereits in L’Être et le néant ist der überwiegende Teil des Buches sozialen Beziehungen gewidmet – so dysfunktional sie auch immer erscheinen mögen. Orest aus Les Mouches (dt.: Die Fliegen), in der Rolle eines terroristischen Individualanarchisten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, bildet eigentlich eine Ausnahmefigur. Garcin, Ines und Estelle aus Huis clos (dt.: Geschlossene Gesellschaft), die den sozialen Beziehungen untereinander nicht entfliehen können, sind die typischeren Vertreter des Menschengeschlechts. Dass für Sartre ein engagiertes positives Leben in und für die Gesellschaft nicht erst seit seiner explizit marxistischen Phase als eine Möglichkeit der Existenz betrachtete, zeigt sein Theaterstück Bariona von 1940, in dem sich die gleichnamige Hauptfigur voll in den Dienst der Gesellschaft stellt. Sartres letzte Phase, in der Sartre für ein Leben in kleinen Gemeinschaften und für Geschwisterlichkeit eintrat, ist eine logische Fortsetzung von Pouvoir et liberté. Sartres politische Philosophie war nie eine des Individualanarchismus im Stile eines Henry David Thoreau und von dessen Rückzug in die Wälder.

Aufgrund von Aussagen, die Sartre im Interview mit Rupert Neudeck traf (MFSL 1213), beendeten er und Lévy das Projekt Pouvoir et liberté 1979. An dessen Stelle trat ein neues Vorhaben, jenes eines Dialogs, in dem sie versuchten herauszufinden, wo „Ethik beginnt und wo sie aufhört“ (MFSL 1213). Es war das Projekt einer normativen politischen Philosophie, welches kurz vor Sartres Tod in die Veröffentlichung von L’Espoir maintenant mündete. Dem Konzept lag als Kernpunkt Sartre Bekenntnis zu den Idealen einer anarchistischen Gesellschaft mit kleinen Gemeinschaften zugrunde. Im Gespräch mit Raúl Fornet-Betancourt, Mario Casañas und Alfredo Gómez-Muller legte Sartre auf fast zwei Seiten dar, wie er sich eine anarchistische Gesellschaft vorstellte. Diese anarchistische Konzeption einer Gesellschaft wird durch zwei weitere Quellen bestätigt, das Interview von Rupert Neudeck und insbesondere das Gespräch mit Benny Lévy, das auf Französisch 1980 kurz vor Sartres Tod unter dem Titel L’Espoir maintenant und später auf Deutsch als Brüderlichkeit und Gewalt erschien.

Im Interview mit Fornet-Betancourt und seinen beiden Kollegen, das unter dem Titel Anarchie et morale publiziert wurde, hielt Sartre fest:

[AM 365] Was aber heißt das, eine Gesellschaft, in der es keine Macht mehr gibt? [366] Wir müssen das Problem unter drei verschiedenen Aspekten betrachten: 1. Zunächst muß untersucht werden, welche Gesellschaftsform sich überhaupt ohne Macht aufbauen lässt, oder zumindest ohne jegliche Staatsmacht. 2. Wir müssen verstehen, daß wir unendlich weit von einer solchen Gesellschaft entfernt sind. Es gibt Formen der Macht, die als kollektive, juristische überall existieren und die auf jeden einzelnen Menschen Druck ausüben. […] 3. Man müsste Gemeinschaften aufbauen, in denen man so frei wie möglich leben kann, - wie Anarchisten eben zu leben wünschten – Gemeinschaften von 25 bzw. 50, oder 10 bzw. 30 Personen, die untereinander authentische, völlig autoritätsfreie [S. 367] Beziehungen verwirklichen; Gemeinschaften, die auf Liebe basieren, jedoch nicht notwendigerweise auf der sexuellen, sondern vielmehr auf der Kindesliebe, der Mutterliebe, der Liebe zwischen zwei Gefährten. […] In Deutschland und Frankreich existieren kleine Gemeinschaften diese Typs, in denen Menschen zusammen leben, zusammen arbeiten und sich frei untereinander lieben. […] Die anarchistische Aktion versucht, keine Parteien, sondern – ohne jegliche hierarchische Struktur – Massen aufzubauen, in denen zwar einige vielleicht mehr als andere über bestimmte Fragen reflektieren, die Entscheidungen aber soziale sein werden, d.h. als gesellschaftliche gemeinsam getroffen werden. Im Augenblick muß es also darum gehen, Möglichkeiten zu schaffen, damit Menschen frei leben können und zwar mit anderen zusammen, da man schließlich nicht allein frei sein kann.

Ähnlich klingt es im Interview mit Rupert Neudeck:

[MFSL 1217] Wenn also eine Gesellschaft sich auf die wirkliche Freiheit der Menschen stützten soll, kann sie sich nicht im Rahmen des Staates, der bürgerlichen Demokratie […] organisieren, die Freiheitsbeschränkungen vorsieht, weil Gesetze respektiert werden müssen. Die Menschen müssen sich in Gruppen an ihrem Arbeitsplatz oder ihren Wohnorten zusammentun. […] In Wahrheit gäbe es dann keine Regierung mehr, sondern nur noch Entscheidungen, die aus den einzelnen Gruppen kommen und die Gruppe repräsentieren. Die Gruppe hat mich in ein Zentrum entsandt, wo alle Gruppen und Personen derselben Ordnung versammelt sind, die übrigens nicht freie Personen sind und ganz nach ihrer Freiheit entscheiden, sondern ein klar umrissenes Mandat haben und diesen Auftrag, den die Gruppe ihnen gegeben hat, ausführen müssen. Das ist eine vollkommen andere Methode als die, nach der jemand in eine parlamentarische Kammer entsandt wird, wohin man Menschen schickt, die vor einer Versammlung schöne Reden halten und einen Plan erläutern können, der nicht direkt dem Willen dieser Gruppe [1218] entsprungen ist […] In dieser Richtung versuche ich mir die Politik in einer direkten Demokratie vorzustellen.

Auch wenn Sartre hier von sehr kleinen Gemeinschaften von zehn bis fünfzig Personen ausgeht, erweitert sich der Kreis durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften – von der selbstgewählten „Familie“ als Grundeinheit des privaten Lebens über den Arbeitsort bis hin zu Religionsgemeinschaften und Vereinen – auf eine mindestens dreistellige Zahl.

Die Vorstellung eines anarchischen Lebens in kleinen Gruppen findet sich in L’Espoir maintenant als ein Leben in Geschwisterlichkeit[2] wieder. Die Aufnahme des Begriffs der Geschwisterlichkeit als zentrales Thema seiner politischen Spätphilosophie war sowohl Folge seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution[3] wie auch seiner eigenen konkreten Lebensform. Schon 1974 in „Schreckliche Situation“ hatte Sartre Alice Schwarzer auf die Frage geantwortet, was die Bilanz seiner vier Jahre konkreten Engagements auf Seiten der Gauchisten sei (SS 169):

Die Existenz brüderlicher Beziehungen zwischen den Menschen. Und, daß die alte Formel der Französischen Revolution, Freiheit ‒ Gleichheit ‒ Brüderlichkeit, immer noch gültig ist.[4]

Geschwisterlichkeit definierte Sartre als die primäre, affektive Beziehung, die zwei Menschen haben, die auf einer gemeinsamen Idee beruht, auch wenn sie nicht Geschwister im biologischen Sinne sind:

[BUG 45] [J.-P.S.…] die Leute müssten eine gewisse primäre Beziehung haben, die Beziehung der Brüderlichkeit. […] die Familienbeziehung ist primär gegenüber jeder anderen [46] B.L.: Wie verstehst du diese primäre Verwandtschaft? J.-P. S.: Es ist die Tatsache, daß die Geburt für jeden so sehr das gleiche Phänomen ist wie für den Nachbarn, daß zwei Menschen, die miteinander sprechen, gewissermaßen die gleiche Mutter haben. […] Von der gleichen Art zu sein, ist gewissermaßen, die gleichen Eltern zu haben. In diesem Sinne sind wir Brüder. Und so definieren die Leute übrigens auch das Menschengeschlecht, nicht so sehr durch die biologischen Merkmale, sondern vielmehr durch eine gewisse Beziehung. [49; …] was ist denn diese Beziehung zwischen einem Menschen und einem anderen, die sich Brüderlichkeit nennen wird? [… Es] ist in erster Linie eine affektive, praktische Beziehung. […] Die Beziehung des Menschen zu seinem Nachbarn nennt man Brüderlichkeit, weil sie sich vom gleichen Ursprung fühlen. Sie haben den gleichen Ursprung, und, in der Zukunft, den gemeinsamen Zweck. Gemeinsamer Ursprung und gemeinsamer Zweck, das konstituiert ihre Brüderlichkeit. B.L.: Ist das eine wahre, eine denkbare Erfahrung? J.-P.S.: Meiner Ansicht nach wird die totale, die wirklich denkbare Erfahrung dann existieren, wenn der Zweck, den alle Menschen in sich haben, wenn der [50] Mensch verwirklicht sein wird.

Entscheidend für Sartres kleine Gemeinschaften ist, dass sie selbstgewählt sind. Oder, um es in den Termini des 1993 vom britischen Soziologen und Politologen Paul Hirst veröffentlichten Buches Associative Democracy auszudrücken, es handelt sich bei Sartre um communities of choice und nicht um communities of fate.[5] Sartres kleine anarchistische Gemeinschaften sind Wahlverwandtschaften, die auf gleichem Ursprung und gemeinsamem Zweck beruhen. Es sind, um die Terminologie aus der Zeit der Critique zu verwenden, ähnliche Konstituierung und ähnliche Personalisierung, die die Basis dieser Gemeinschaften bilden.

Die entscheidende Determinante ist der ähnliche Zweck. Individuen tun sich zusammen, die über ähnliche oder zumindest kompatible Entwürfe verfügen. Die Ähnlichkeit im Zweck bestimmt auch wesentlich die Größe der Gruppe. Wenn Sartre hierbei von Gruppen mit zehn bis fünfzig Mitgliedern ausgeht, so erachtete er dies wohl als die maximale Größe, die sich aus Mitgliedern mit ausreichend kompatiblen Entwürfen und damit Werten und Bedürfnissen für ein längerfristiges Zusammenleben in einer Gruppe bilden kann. Grundsätzlich sind, wie wir schon aus L’Être et le néant wissen, die zwischenmenschlichen Beziehungen konfliktuös. Sie sind – insbesondere in der modernen Gesellschaft – konfliktuös, weil nicht die Ähnlichkeit, sondern die Gegensätzlichkeit der Entwürfe das Zusammenleben der Subjekte beherrscht. Wenn Subjekte konflikt- und damit herrschaftsfrei – soweit dies überhaupt möglich ist – zusammenleben wollen, dann gibt es diese Möglichkeit nur in kleinen Gemeinschaften. Nur in solchen kann der Mensch in Freiheit seinem Entwurf entsprechend leben.

In größeren Gemeinschaften kommt es unweigerlich zu Konflikten zwischen den verschiedenen Entwürfen. Um diesen hobbesianischen Naturzustand zu vermeiden und ein friedliches Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Entwürfen zu ermöglichen, braucht es entweder Herrschaft und Herrschaft begründende Macht oder entsprechend kleine Gemeinschaften. Fast alle der modernen politischen Philosophen seit Hobbes – die Klassiker Locke, Montesquieu, Rousseau, Kant, Hegel, Tocqueville, J. St. Mill ebenso wie die Vertreter der Moderne mit Rawls, Dworkin, Taylor und Habermas – haben das Modell der Großstaaten und der damit verbundenen Begriffe von Herrschaft und Macht nie in Frage gestellt. Auch in einer Gesellschaft, die Rawls‘ Theory of Justice befolgte oder Habermas‘ Konzept einer deliberativen Demokratie folgte, wäre eine Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit unumgänglich. All den Vertretern eines Großstaates hält Sartre ein Gesellschaftsmodell kleiner Gemeinschaften entgegen. Nur in kleinen Gemeinschaften, wie Sartre sie sich vorstellt, kann auf Unterdrückung verzichtet werden und kann der Mensch entsprechend frei, d.h. frei von Macht und Herrschaft leben.

Für Sartre besteht das Ziel einer solchen Gesellschaft auf der Basis der Geschwisterlichkeit darin (BUG 22f.),

einen wirklich konstituierten Verband zu schaffen, in dem jede Person ein Mensch ist und die Kollektivitäten ebenfalls menschlich sind.

Geschwisterlichkeit bedeutet ein Leben in Gruppenbeziehungen (BUG 53):

Für eine Moral muß man die Idee der Brüderlichkeit dahingehend erweitern, daß sie die einzige und evidente Beziehung zwischen allen Menschen wird, wobei diese Beziehung in erster Linie eine Gruppenbeziehung ist, im eigentlichen Sinne die Beziehung kleiner Gruppen, die auf die eine oder andere Art an eine Idee der Familie gebunden sind.

Sartres Modell der Geschwisterlichkeit ist keine überraschende Wende in dessen Denken dar, sondern eine konsequente Weiterentwicklung älterer Vorstellungen dar. Schon im in Libération veröffentlichten Interview Pouvoir et liberté sprach Sartre davon, wie er und Lévy im Denken von zwei individuellen Ichs („je“) zum gemeinsamen Wir („nous“) kämen (PL 11):

Das Demokratische, das wir in seiner wahren Form finden wollen, ist nicht, wie ich lange glaubte, die totale Freiheit der Person, sondern vielmehr unsere, das heißt die reziproke Freiheit, die Freiheit von Personen, insofern sie miteinander verbunden sind, zu handeln und zu denken, indem sie „wir“ sagen. [Ü. A.B.]

Sartres neues Konzept der Geschwisterlichkeit ist eine konsequente Weiterentwicklung jenes ersten Schritts, den er in der in der Critique durch das Einführen des Dritten vollzogen hatte, des Schritts von der konfliktträchtigen Zweierkiste, der Dyade, in L’Être et le néant zur kooperativen, einem gemeinsamen Eid unterstehenden Gruppe, der Triade.

In ihrer vollkommenen Form beinhalten die neuen zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Grundlage der Geschwisterlichkeit eine totale gegenseitige Transparenz (AM 367):

Macht aufzugeben bedeutet nichts anderes, als sich der totalen Transparenz zu nähern. […] Transparenz ist ein Synonym für Liebe, sie ist die vollständige, bewusste Kenntnis vom Denken und Handeln des Menschen, der an unserer Seite lebt.

Schon in Sartre. Un film hatte Sartre vom anzustrebenden Ziel der totalen Transparenz gesprochen – allerdings mit dem Eingeständnis, dass er sich nicht vollständig daran halte, insbesondere nicht in Bezug auf seine sexuellen und erotischen Beziehungen (SF 187, 189). Der Weg zur totalen Transparenz und damit auch zu einem anarchistischen Leben in kleinen Gemeinschaften basierend auf Geschwisterlichkeit ist ein langer. Im Interview mit Catherine Clément äußerte sich Sartre wie folgt (GDE 5):

Der Mensch ist nicht transparent, aber es gibt Elemente, die uns hoffen lassen, dass er es sein wird. […] [Die Transparenz] wäre möglich, wenn es ein gesellschaftliches Maß an Existenz des Menschen für den Menschen gäbe, so wie die Beziehung zwischen zwei Menschen oder die Fülle dessen, was man hat, zu dem, was man gibt. Wir sind übrigens noch nicht hier angekommen … Dies kann die Liebe sein, oder eine Übereinstimmung in politischen Vorstellungen, in beruflichen Vorstellungen. [Ü. A.B.]

Mit der Geschwisterlichkeit als Basis distanzierte sich Sartre deutlich von der marxistischen Auffassung, dass die Produktion, d.h. die Wirtschaft, das Primäre und die sozialen Beziehungen als Überbau nur das Sekundäre seien:

[BUG 44] Nur bin ich nicht der Ansicht, dass die primäre Beziehung das Produktionsverhältnis wäre. […] Die tiefste Beziehung der Menschen liegt in dem, was sie jenseits des Produktionsverhältnisses vereint. In dem, was dazu führt, dass die einen für die anderen etwas anderes sind als die Produzenten. Sie sind [45] Menschen. […] Die ganze Unterscheidung des Überbaus, wie Marx sie traf, ist eine schöne Arbeit, nur ist sie vollkommen falsch, weil die primäre Beziehung, die Beziehung des Menschen zum Menschen, etwas anderes ist, und das ist es, was wir heute herausfinden müssen.

In Gegensatz zu den Marxisten und ähnlich wie die Anarchisten[6] sah Sartre im Überbau und insbesondere im Staat nicht einfach ein Produkt der Verhältnisse in der Basis. Überzeugt von der Eigenständigkeit des Nicht-Produktiven, stellte die Befreiung von der Unterdrückung durch den Staat für Sartre ein mit der Umkehrung der Produktionsverhältnisse zumindest gleichrangiges Ziel dar.

Dies bedeutet nicht, dass Sartre der Materialität keine Bedeutung mehr schenkte. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Weiterentwicklung von Ideen, die sich in ihren Ursprüngen schon in den Questions de méthode und der Critique finden:

[BUG 50] die Menschen […] haben eine Zukunft, die auf den Prinzipien des gemeinsamen Handelns beruht, während sich zugleich eine Zukunft um sie abzeichnet, die auf der Materialität, das heißt im Grunde auf der Knappheit, basiert. […; 51] Die Menschen haben bestimmte Bedürfnisse, und die äußere Situation erlaubt ihnen nicht, diese Bedürfnisse zu verwirklichen. Es gibt immer weniger als man bräuchte, zu wenig Nahrung für die Bedürfnisse und sogar zu wenig Menschen, die sich darum kümmern, diese Nahrung zu erzeugen. Kurz, wir sind umgeben von der Knappheit, die eine reale Tatsache ist. An irgendetwas mangelt es uns immer. Folglich gibt es zwei Haltungen, die beide menschlich sind, aber nicht kompatibel scheinen, und die man doch gleichzeitig zu leben versuchen muß. Es gibt das Bemühen, von allen anderen Bedingungen abgesehen, den Menschen zu realisieren, den Menschen zu erzeugen: das ist die moralische Beziehung. Und dann gibt es den Kampf gegen die Knappheit.

Mit dem Begriff der Knappheit nahm Sartre einen zentralen Terminus technicus aus der Critique I auf. Die Knappheit – eigentlich ein Kernbegriff der (bürgerlichen) neoklassischen Ökonomie, den Sartre aber im ganz weiten Sinn verstand[7] – war neben den Gegenfinalitäten und den Sachzwängen[8] ein zentraler Begriff, um die Gründen des Scheiterns der Subjekte und Gruppen zu erklären und so die begrenzte anthropologische Freiheit im Vergleich zur unbegrenzten ontologischen Freiheit besser zu verstehen.

Aus dem Konflikt um die je eigene Verwirklichung des Menschen und dem damit verbundenen Kampf gegen die Knappheit entsteht Gewalt. Auch wenn Sartre die genaue Beziehung zwischen Gewalt und Geschwisterlichkeit nicht ganz klar war, wie er selbst zugestand, war Gewalt für ihn das Gegenteil von Geschwisterlichkeit (BUG 52f.). Lévys Vorschlag einer Geschwisterlichkeit ohne Terror wollte Sartre nicht ohne Einschränkung zustimmen (BUG 38, 56). Als Dialektiker weigerte sich Sartre trotz Druck seitens Benny Lévys, sich von der fraternité-terreur der Critique zu verabschieden. Sartre beharrte auf dem Standpunkt, den er schon in Sartre. Un film bezogen hatte, dass soziale Harmonie wegen der Knappheit heute nicht realisierbar ist (SF 188)[9]. Und die Knappheit wird noch lange anhalten. Entsprechend verschwindet auch die Gewalt nicht unmittelbar. Gewalt im Kampf der Kolonisierten gegen die Kolonialherren ist und bleibt weiterhin gerechtfertigt (BUG 53). Sartre, für den Scheitern ein fester Bestandteil seiner Philosophie war, blieb Realist. Es gelang Benny Lévy in L’Espoir maintenant nicht, Sartre von seinem philosophischen Pessimismus abzubringen (BuG 21f.).

Weil es die Knappheit auch in Zukunft gibt, braucht es auch in absehbarer Zukunft noch den Staat (AM 367):

Diese Gemeinschaften können jedoch nicht vollständig anarchistisch sein, da Polizei, Armee und Gesetze des Staates, in dem sie sich befinden werden, weiterhin bestehen blieben und darüber wachen werden, daß der Staat respektiert wird.

Wie Sartre im Gespräch mit Fornet-Betancourt sich ausdrückte, wird es mindestens noch drei weitere Generationen brauchen, bis der Staat verschwindet (AM 366):

Doch werden weder wir selbst, noch unsere Kinder das Verschwinden des Staates miterleben, vielleicht gelingt es unseren Urenkeln.

Sartre machte hier offensichtlich eine Anleihe beim marxistischen Konzept einer Übergangsperiode des Sozialismus hin zu jener Zeit, die nach den Marxisten die Zeit der Kommunismus sein wird, wo es keine Knappheit mehr gibt und das Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ herrscht.[10] Doch während nach marxistischer Ansicht diese Übergangsperiode des Sozialismus eine Periode ist, in der die Diktatur des Proletariats herrscht und das Proletariat (resp. die Partei als deren Avantgarde) den Staat und seine Macht zur Unterdrückung seiner Gegner einsetzt, sieht Sartre für diese Übergangszeit einen Staat vor, der eher dem föderalistischen Staat Proudhons gleicht.[11]

Doch was für einen Staat stellte sich Sartre für die Übergangszeit vor? Ganz offensichtlich ist, dass Sartre sich nicht einen sozialistischen Staat im Sinne des sowjetischen Realsozialismus vorstellte. Der weniger autoritäre französische Staat ist ihm nämlich lieber als der sowjetische, wie er im Interview mit Macciocchi Sartre festhielt (UV 86):

Der Staat zum Beispiel ist in Frankreich weniger bestimmend als in der UdSSR und ist ein leichter Fortschritt. [Ü. A.B.]

Mit Rückblick auf Sartres Aussagen über Frankreich und die Sowjetunion in den 1950er Jahren erstaunt diese große Veränderung doch sehr. Dass es sich hierbei nicht um eine umstandsbedingte Aussage handelt, wird durch seine vernichtende Kritik an der französischen Linken in den Interviews mit Macciocchi und mit Ca­-therine Clément bestätigt.

Es stellt sich die Frage, was für einen Staat sich Sartre denn vorgestellt hatte. Zu den möglichen Aufgaben eines solchen Staates äußerte er sich nicht.[12] Hinweise gibt es jedoch auf Sartres Vorstellungen bezüglich der Größe des Staates. Ein Blick in Sartres Vergangenheit zeigt, dass dieser immer für ein vereinigtes, unabhängiges Europa eintrat. Im Vorlauf zur Gründung des R.D.R. (Rassemblement Démocratique Révolutionnaire)[13] unterzeichnete Sartre im Herbst 47 zusammen mit Camus, Rousset, Mounier und andern zwei Appelle für ein unabhängiges, vereinigtes, sozialistisches Europa. 1948 nahm er als Leitungsmitglied Einsitz im Ausschusses des Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle, das die Wiedereingliederung Deutschlands ins internationale Kulturleben anstrebte. Im April 49 hielt er einen Vortrag am Centre d’Études de Politique Étrangère über die Défense de la culture française par la culture européenne. Auch seine Teilnahmen an verschiedenen Ost-West-Schriftstellertreffen zwischen 1954 und 1963 dienten primär dem Zweck, die kulturelle Einheit Europas über die Zäune des Kalten Kriegs hinweg aufrecht zu erhalten.

Dem Ziel eines vereinigten Europas entsprechend kämpfte er schon früh gegen jeglichen Spaltpilz. 1954 protestierte er gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die deutsch-französischen Verträge, weil er mit ihnen die Zementierung der Trennung von West- und Osteuropa befürchtete. Konsequent unterstützte er 1978 Leonardo Sciascia, als dieser eine Petition für den Boykott der ersten Wahlen zum Europäischen Parlament als Protest gegen ein Europa unter amerikanisch-deutscher Vorherrschaft auflegte. Schon ein Jahr zuvor hatte Sartre in Le Monde (10.2.77) in einem Artikel unter dem Titel Les militants socialistes et la construction de l’Europe gegen die atlantische Politik der vier Präsidenten Jimmy Carter, Helmut Schmidt, Valéry Giscard d’Estaing und Giulio Andreotti protestiert, die Europa spalte und nicht vereine. Er wollte Europa nicht auf das Niveau eines neuen Lateinamerikas unter amerikanisch-deutscher Führung herabsinken sehen (MSE 2):

Man darf nicht hoffen, die Innenpolitik heute von den internationalen Problemen zu trennen noch die Gesellschaft in Frankreich zu verändern, ohne die amerikanisch-deutsche Hegemonie über Westeuropa zu bekämpfen. [Ü. A.B.]

Im Zusammenhang mit einem supranationalen, den Nationalstaat überschreitenden Europa sind auch seine überraschenden Worte zu verstehen, die im Interview mit Clément über italienischen Partito Radicale fielen (GDE 5):

Eine internationale radikale Partei, die nichts mit den aktuellen radikalen Parteien in Frankreich zu tun hätte? Und die zum Beispiel eine italienische und eine französische usw. Sektion hätte? Ich habe italienische Radikale gesehen und ihre Ideen und Aktionen gefielen mir. Ich denke, dass es auch heute noch Parteien braucht; nur später wird es eine Politik ohne Parteien geben. Also gewiss, für eine solche internationale Organisation würde ich Freundschaft empfinden. [Ü. A.B.]

Marco Panellas Partito Radicale war eine italienische Partei, die man ähnlich wie Philippe Gavis Bewegung Vive la révolution als spontaneistisch[14] bezeichnen könnte. Im Partito Radicale, der sich immer gegen das katholische Italien und für progressive Anliegen einsetzte, schien Sartre in den letzten Lebensjahren einen neuen politischen Partner auf der Ebene der Parteipolitik gefunden zu haben.[15] Seine wichtigsten Kontakte zum Partito Radicale waren Macciocchi sowie der italienische Schriftsteller Leonardo Sciascia, die beide zuvor mit den Kommunisten liiert waren. Mit seinen Kampagnen u.a. für Scheidung, Abtreibung, Legalisierung leichter Drogen und die Rechte der Frauen und Schwulen lag der Partito Radicale weitgehend auf Sartres politischer Linie. Sartre unterstützte entsprechend auch symbolisch ihren Hungerstreik gegen den Hunger in der Welt und den Boykott der ersten Wahlen zum Europäischen Parlament. Ein wichtiges Merkmal der Politik des Partito Radicale war die Ablehnung der nationalstaatlichen und auf nationalen Parteien beruhenden Politik. Das im Interview mit Clément angeschnittene Projekt einer transnationalen Partei sollte 1989 seine tatsächliche Realisierung finden, als sich der Partito Radicale in den Partito Radicale Transnazionale umbenannte.

Dieses supranationale Europa verstand Sartre wohl gleichzeitig als ein Europa, das sich aus kleinen und kleinsten Einheiten zusammensetzt – wobei diese Einheiten wohl eher noch kleiner ausfallen würden, als es sich Leopold Kohr und Alfred Heineken in ihren Visionen eines Europas der Regionen vorstellten. Im Gespräch mit Goytisolo zeigte Sartre ein ungebrochenes Interesse an den regionalistischen, separatistischen Bewegungen Spaniens. Die Kombination aus Transnationalismuns und Regionalismus deutet auf die Idee eines föderalen Europa kleiner Regionen hin, in dem Sartres kleine Wahlgemeinschaften die Urzellen[16] bilden würden.[17]

Sartre trat für wahre Demokratie als Lebensform ein. Diese wäre mehr als nur eine politische Form der Macht oder der Art und Weise, die Macht zu vergeben (BUG 41). Unsere aktuelle Demokratie mit ihren Parteien, so stellte Sartre in Fortsetzung seiner früheren Ansichten fest, ist das Gegenteil einer Gesellschaft auf der Basis der Brüderlichkeit (BUG 42):

Nun liegt es aber auf der Hand, daß in den modernen Demokratien kein Volk mehr herrscht, denn das Volk existiert nicht. […] zur Zeit gibt es kein Volk mehr, denn man kann die Lebensweise der durch die Arbeitsteilung vollständig individuierten Menschen, die außer den beruflichen keine Beziehungen zu den anderen Menschen haben und alle fünf oder sechs oder sieben Jahre einen bestimmten Akt vollziehen, der darin besteht, ein Stück Papier mit Namen drauf zu nehmen und dieses Papier in eine Urne zu stecken, nicht Volk nennen.

Über die Parteien im Allgemeinen und die Kommunisten im Besonderen goss Sartre in L’Espoir maintenant sein Vitriol aus. Hatte er den Eurokommunisten im Interview mit Lotta Continua 1977 noch vorgeworfen, sich am bürgerlichen, traditionellen Staat zu orientieren, so bezeichnete er sie nun als die schlimmsten Gegner der Revolution (BUG 32). Jede Partei sei notwendigerweise dumm, weil die Ideen von oben kommen und das beeinträchtigen, was unten gedacht wird. (BUG 17). Schon im Interview mit Clément hatte er festgehalten, dass die Parteien mit ihren Parteileitungen rechts und nur Massenbewegungen wirklich links sind (GDE 3).

Viele Sartrianer waren höchst überrascht, als L’Espoir maintenant publiziert wurden. Der Ausdruck der Greisenverführung machte die Runde, das Bild eines Sartres, der am Schluss seines Lebens von Benny Lévy zu einer Philosophie gedrängt wurde, die im Widerspruch zu seinem früheren philosophischen Denken stand. Die hier beschriebene Entwicklung von Sartres politischer Philosophie zeigt jedoch, dass es sich nicht um eine Greisenverführung handelte, sondern um eine systematische Weiterentwicklung von Sartres eigenem Denken, das dieser selbständig und zum Teil auch gegen die Intentionen von Benny Lévy vorantrieb. Vieles kann Benny Lévy vorgeworfen werden. Er legte im Gespräch ein sehr dominantes Verhalten an den Tag. Dass Sartre, der ein ausgesprochener Softie war, seine Mühe damit hatte, erstaunt nicht. Ähnliches gab es schon früher in Interviews, so bspw. in jenen mit John Gerassi. Doch von einer Greisenverführung kann keine Rede sein. In den entscheidenden Punkten gab Sartre nicht nach.

Sartres neue politische Philosophie ist nicht ein Fremdprodukt, sondern wurde von ihm konsequent weiterentwickelt. Sie steht mehr in Einklang mit seinen philosophischen Hauptwerken L’Être et le néant und der Critique als seine von ihm früher vertretene Mischung eines marxistischen Existentialismus. Erst in seiner politischen Spätphilosophie kann von einer einheitlichen methodischen Basis die Rede sein. Zuvor war es immer ein Kompromiss zwischen seinem ursprünglichen methodischen Individualismus und dem mit dem Marxismus wesentlich verbundenen methodischen Holismus – es war ein fauler Kompromiss, denn Sartre wurde erst zum Marxisten, als die politischen Umstände es als geboten erschienen ließen, und Sartre brach mit dem Marxismus, nachdem die politischen Umstände diesen vollkommen diskreditiert hatten. Mit seiner neuen politischen Philosophie entfernte sich Sartre von einer marxistisch inspirierten politischen Philosophie hin zu einem Denken, das jenem der Anarchisten viel näher stand. Dieser Wandel von selbst erklärten Marxisten zum Anarchisten bereitete Sartre selbst allerdings nicht geringe Probleme.



[1] So sehr gewisse Aussagen Sartres und vor allem gewisse Interpretationen von L’Être et le néant eine Nähe zum (vor allem philosophischen) Individualanarchismus vermuten lassen, Sartres Auffassung vom wesentlich sozialen (im faktischen, nicht moralischen Sinne) Charakter des Menschen verbietet jedoch, ihn als Individualanarchisten zu verstehen.


[2] Sartres Begriff der fraternité wird meist als Brüderlichkeit übersetzt. Ich ziehe jedoch die Übersetzung als Geschwisterlichkeit vor, da Sartre sich einerseits für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein- und andererseits vom gutbürgerlichen abstrakten Humanismus absetzte, mit dem der Begriff der Brüderlichkeit eng verbunden ist.


[3] Siehe Fußnote 34.


[4] Die zentralen Begriffe der Französischen Revolution waren allerdings allein Liberté und Égalité. Diese beiden Begriffe sind unabdingbare Bestandteile der Verfassungen und der Menschenrechtserklärung aus der Zeit der Französischen Revolution. Der Begriff der Fraternité wurde erst während des 19. Jahrhunderts (Revolution von 1848, Pariser Kommune 1871) zum einem fixen Element der heute so gebräuchlichen Triade. Erst 1880 wurde sie für öffentliche Gebäude verbindlich erklärt. Zur Zeit der Französischen Revolution wurde statt Brüderlichkeit eher Eigentum oder Sicherheit als drittes Element nach Freiheit und Gleichheit aufgeführt. (A.B.)


[5] Bilden Rasse, Volk, Nation, Muttersprache, Verwandtschaft primär communities of fate, sind Freundschaften, Heiraten, Wohnort, Arbeitsort, Vereine primär als communities of choice zu verstehen – „primär“ deshalb, weil es sich hierbei um idealtypische Einordnungen handelt und die Übergänge durchaus fließend sein können (bspw. beim Begriff der Staatsbürgerschaft). Für communities of fate charakteristisch sind jene beiden Kriterien, die Seyla Benhabib formulierte: voluntary self-ascription und freedom of exit and association (in The Claims of Culture: Equality and Diversity in the Global Era, 2002).


[6] Neben organisatorischen Fragen (Partei, Zentralismus) bildete insbesondere die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat die zentrale Streitfrage zwischen Anarchisten und Marxisten. Die Marxisten lehnten die Ansicht der Anarchisten ab, dass der Staat sofort nach der Revolution absterben soll, sondern wollten vielmehr die Mittel des Staates zur Änderung der Verhältnisse in der Wirtschaft einsetzen.


[7] Knappheit bezieht sich in der herkömmlichen Ökonomie auf materielle Güter. Schon in der Critique erweiterte Sartre deren Inhalt. Knapp sind auch geliebte Menschen, Gesundheit, Glück oder – wie er im zweiten Band anhand von Stalin und dessen Kampf um die Nachfolge Lenins aufzeigt – Politiker. Damit war Sartre neben Gary Becker einer der ersten, der den ökonomischen Begriff der Knappheit in einem sehr weiten Sinn verstand.


[8] Auf Französisch: la rareté, les contre-finalités, les exigences. Letztere stehen in diesem Zusammenhang für sachliche Erfordernisse. Der Klarheit halber ziehe ich es jedoch vor, sie als Sachzwänge zu übersetzen.


[9] So sehr Axel Honneths Begriff der sozialen Freiheit Verwandtschaft zu Sartres Konzept der Geschwisterlichkeit zeigt, Honneths Apotheose der sozialen Freiheit würde Sartre nicht teilen.


[10] Schon in On a raison de se révolter hatte er davon gesprochen, dass auf Politiker erst in einer kommunistischen Gesellschaft verzichtet werden könnte (IAR 221).


[11] Dies bringt uns wieder zum frühen Sartre, der 1941 eine Verfassung für die Französische Republik entwarf, die gemäß Aussagen von Simone Debout, die damals Mitglied in Sartres Widerstandsgruppe Socialisme et liberté mitwirkte, stark von den Gedanken Proudhons beeinflusst war (Annie Cohen-Solal: Sartre 1905-1980. Rowohlt: Reinbek 1991, S. 279).


[12] Neben traditionellen Aufgaben wie dem Schutz nach außen und der Aufrechterhaltung einer minimalen Ruhe nach innen käme dem den kleinen Wahlgemeinschaften übergeordneten Staat wohl insbesondere folgende Aufgaben zu: 1. Die Festsetzung der Freizügigkeitsregeln bezüglich des Wechsels zwischen dem Gemeinschaften; 2. Die Festsetzung der Freizügigkeitsregeln bezüglich des Warenverkehrs zwischen den Gemeinschaften und der Regeln bezüglich gemeinsamer Infrastrukturprojekte; 3. Die Festlegung eines gemeinsamen minimalen Satzes an gewährleisteten Menschenrechten.


[13] Der R.D.R. war eine neutralistische, pro-europäische Bewegung der nicht-stalinistischen revolutionären Linken, die sich für Freiheit, Menschenrechte, Sozialismus, Blockfreiheit und gegen den Kolonialismus einsetzten. Ihre Führer waren Sartre und David Rousset. Sie existierte vom Frühjahr 48 bis zum Herbst 49.


[14] Zu einer echt spontaneistische Partei gehörten auch Spontex-Aktionen wie die Kandidatur (und Wahl) der Pornodarstellerin Cicciolina ins italienische Parlament.


[15] Schon seit langem vertrete ich die These, dass Sartres politische Grundwerte, seine vier großen Nein gegen Militarismus, Kolonialismus, Diskriminierung und die bürgerliche Moral, ihren Ursprung bei den linksliberalen Radicaux-socialistes (auf Deutsch fälschlicherweise als Radikalsozialisten statt sozialistische Radikale übersetzt) haben und Sartre letztlich eine radikaler Radikaler war. Der Philosoph und radical-socialiste Alain, Sartres Vorbild zur Zeit der ENS, schrieb in seinem Propos „Les mots et les choses“ vom 3. April 1909, dass die Menschen zu Sozialisten würden, weil die Liberalen ihren eigenen Grundsätzen nicht gerecht würden: „Die Auffassung war fortschrittlich gegen die zurückweichenden Opportunisten, radikal gegen die zurückweichenden fortschrittlichen Regierungen, radikalsozialistisch gegen die zurückweichenden radikalen Regierungen und blieb dabei trotzdem immer dieselbe. Ich sehe schon eine Zeit kommen, wo die ganze Welt sozialistisch sein wird.“ Schließen wir Sartres Entwicklung an, so muss Alains Aussage entsprechend angepasst werden: „[…] radikalsozialistisch gegen die zurückweichenden radikalen Regierungen, linkssozialistisch gegen die zurückweichenden radikalsozialistischen Regierungen, kommunistisch gegen die Linkssozialisten, maoistisch gegen die Kommunisten, anarchistisch gegen die Maoisten.“ Sartre landete am Schluss wieder dort, wo er begann, als Sympathisant einer Partei von Radikalen. Bezeichnenderweise sprach Sartre meist von den Radicaux, wenn er von den Radicaux-socialistes sprach.


[16] Man könnte sich vorstellen, dass heute umstrittene Fragen wie jene um Immigration, Flüchtlinge, Multikulturalität, Sexual- und Genderfragen, Waffen, aber auch soziale Absicherung auf der Ebene kleiner Wahlgemeinschaften geregelt würden.


[17] Mit dieser Auffassung steht Sartre Proudhons Konzept einer föderalistischen Organisation der Gesellschaft nahe – zumindest was die Übergangszeit betrifft. Ein Modell einer Gesellschaft nach Art Bakunins ist für die ferne Zukunft nicht ausgeschlossen – sofern es die Mitglieder der Wahlgemeinschaften beschließen.



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